HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 37
Bearbeiter: Fabian Afshar
Zitiervorschlag: BGH, StB 50/22, Beschluss v. 15.11.2022, HRRS 2023 Nr. 37
1. Die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluss des Hanseatischen Oberlandesgerichts in Hamburg vom 21. September 2022 wird verworfen.
2. Der Beschwerdeführer hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
1. Das Oberlandesgericht hat den Beschwerdeführer am 30. November 2018 wegen Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt; das Urteil ist seit dem 3. Oktober 2019 rechtskräftig.
Nach den getroffenen Feststellungen beschäftigte sich der Verurteilte spätestens seit Sommer 2017 mit dschihadistischem Gedankengut und befürwortete die Ideologie der terroristischen Vereinigung „Islamischer Staat“ (IS). Er beschloss, in Deutschland einen Sprengstoffanschlag zu begehen und dabei 200 Personen zu töten oder zu verletzen. Durch einen derartigen Anschlag wollte er in Deutschland ein Klima der Angst und Verunsicherung erzeugen. Zur Vorbereitung dieses Anschlags informierte sich der Verurteilte durch Nutzung sozialer Medien über die Herstellung eines Sprengsatzes. Auf den Rat von Chat-Partnern bestellte er im Internet die für die Herstellung von Sprengstoffen und Zündauslösevorrichtungen erforderlichen Chemikalien und Bauteile. Er bemühte sich um die Herstellung des Sprengstoffs Triacetontriperoxid (TATP) und die Anfertigung einer Zündfernauslösevorrichtung. Spätestens Mitte Oktober 2017 konkretisierte sich das Anschlagsvorhaben dahin, dass der Verurteilte eine Autobombe mit einer Hauptladung von 50 bis 100 Kilogramm Ammoniumnitrat in Kombination mit dem Kohlenstoffträger Dieselöl anfertigen wollte, die unter Verwendung des Sprengstoffs TATP über einen Funkfernzünder ausgelöst werden sollte. Das Anschlagsvorhaben konnte der Verurteilte nicht realisieren, da er festgenommen wurde.
Nachdem der Verurteilte am 31. Januar 2022 zunächst seine Einwilligung zur Aussetzung der Vollstreckung des Strafrestes zur Bewährung (§ 57 Abs. 1 StGB) zurückgenommen hatte, hat er diese am 6. September 2022 erneut erteilt und beantragt, nunmehr bedingt entlassen zu werden. Mit dem angefochtenen Beschluss hat es das Oberlandesgericht abgelehnt, die Vollstreckung des Strafrests nach - am 28. Februar 2022 erreichter - Verbüßung von zwei Dritteln der Strafe zur Bewährung auszusetzen. Die hiergegen gerichtete zulässige sofortige Beschwerde des Verurteilten bleibt in der Sache ohne Erfolg.
2. Der Ansicht des Oberlandesgerichts, dass die Aussetzung der Vollstreckung des Strafrests zur Bewährung unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit nicht zu verantworten ist (§ 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Satz 2 StGB), weil dem Verurteilten keine hinreichend günstige Legalprognose gestellt werden kann (zu den rechtlichen Maßstäben s. BGH, Beschlüsse vom 10. April 2014 - StB 4/14, juris Rn. 3; vom 19. April 2018 - StB 3/18, NStZ-RR 2018, 228, jeweils mwN), ist beizutreten. Der Senat nimmt insoweit auf die Gründe des angefochtenen Beschlusses Bezug.
a) Das Oberlandesgericht hat zu Recht nicht zu erkennen vermocht, dass sich der Verurteilte zwischenzeitlich von seiner dschihadistischen Grundeinstellung, die mit der abgeurteilten Tat verknüpft ist, distanziert hat. Zutreffend hat der Staatsschutzsenat die Antwort des Verurteilten „Ich habe das jetzt nicht vor“ auf die Frage „Wie stehen Sie zu den Taten?" bei dessen persönlicher Anhörung am 15. September 2022 dahin gewertet, dass diese Aussage eine tragfähige Distanzierung nicht erkennen lasse (zur besonderen Bedeutung des bei der Anhörung gewonnenen eigenen Eindrucks vgl. BGH, Beschluss vom 3. September 2020 - StB 26/20, juris Rn. 5 mwN). Zudem hat das Oberlandesgericht zu Recht darauf abgehoben, dass eine ausreichende Aufarbeitung der deliktsursächlichen Persönlichkeitsdefizite im Zusammenhang mit der dschihadistischen Grundeinstellung des Verurteilten sowie der Tat als solcher bislang nicht stattgefunden hat. Vor dem Hintergrund, dass auch das bisherige Vollzugsverhalten nicht beanstandungsfrei ist und der Verurteilte weder über einen sozialen Empfangsraum noch eine konkrete berufliche Perspektive verfügt, kann ihm keine günstige Prognose für eine Legalbewährung in Freiheit gestellt werden.
b) Das Oberlandesgericht hat vor seiner Entscheidung von der Hinzuziehung eines Sachverständigen gemäß § 454 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 StPO absehen dürfen. Nicht jede Prüfung, ob der Rest einer Freiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen ist, löst die Pflicht zur Begutachtung des Verurteilten aus. Vielmehr muss das Gericht ein Gutachten - unter den sonstigen in der Vorschrift genannten Voraussetzungen - nur dann einholen, „wenn es erwägt“, den Strafrest zur Bewährung auszusetzen. Das Sachverständigengutachten soll es dem Gericht ermöglichen, die von dem Verurteilten ausgehende Gefahr für die Allgemeinheit im Fall einer erwogenen Strafaussetzung zur Bewährung zuverlässiger einschätzen zu können. Kann im Einzelfall - wie beim Beschwerdeführer - wegen besonderer Umstände eine Reststrafaussetzung offensichtlich nicht verantwortet werden und zieht sie das Gericht deshalb nicht in Betracht, ist eine Beurteilung der von dem Verurteilten ausgehenden Gefahr mittels einer Sachverständigenbegutachtung nicht erforderlich (s. BGH, Beschlüsse vom 3. September 2020 - StB 26/20, juris Rn. 8; vom 28. Januar 2000 - StB 1/00, BGHR StPO § 454 Gutachten 3; ferner BVerfG, Beschluss vom 3. Februar 2003 - 2 BvR 1512/02, NStZ-RR 2003, 251, 252; LR/Graalmann-Scheerer, StPO, 26. Aufl., § 454 Rn. 53 mwN). Die Ausführungen des Verteidigers in dem Schriftsatz vom 3. November 2022 rechtfertigen keine abweichende Beurteilung.
HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 37
Bearbeiter: Fabian Afshar