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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1278

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 308/22, Urteil v. 16.08.2023, HRRS 2023 Nr. 1278


BGH 2 StR 308/22 - Urteil vom 16. August 2023 (LG Darmstadt)

Kognitionspflicht; schwere Zwangsprostitution (Versuch; Veranlassen: quantitative Steigerung, qualitative Steigerung, Sanktion).

§ 264 StPO; § 232a Abs. 3 StGB; § 22 StGB; § 23 StGB

Leitsatz des Bearbeiters.

Ein Veranlassen zur Fortsetzung der Prostitution erfasst nicht nur die Fälle, in denen das der Prostitution nachgehende Tatopfer, das hiervon Abstand nehmen will, dazu gebracht wird, der Prostitution weiter nachzugehen. Es ist auch gegeben, wenn die Person zwar grundsätzlich zur weiteren Ausübung der Prostitution bereit ist, aber vom Täter entgegen ihrem Willen zu einer intensiveren Form der Prostitutionsausübung bewegt oder von einer weniger intensiven Form abgehalten wird. Das gilt nicht nur für eine qualitativ andere Art der Tätigkeit, sondern auch für einen quantitativ wesentlich abweichenden Umfang.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision der Nebenklägerin R. wird das Urteil des Landgerichts Darmstadt vom 22. Dezember 2021 hinsichtlich Fall II. 1 der Urteilsgründe mit den Feststellungen zum Geschehen vom 10. November 2019 sowie im Gesamtstrafenausspruch aufgehoben.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen dirigistischer Zuhälterei in Tateinheit mit ausbeuterischer Zuhälterei und vorsätzlicher Körperverletzung, wegen dirigistischer Zuhälterei in Tateinheit mit ausbeuterischer Zuhälterei, schwerer Zwangsprostitution und vorsätzlicher Körperverletzung, wegen dirigistischer Zuhälterei in Tateinheit mit ausbeuterischer Zuhälterei und Erpressung in zwei Fällen, wegen vorsätzlicher Körperverletzung, wegen versuchter Vergewaltigung in Tateinheit mit Nötigung in zwei Fällen sowie wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und drei Monaten verurteilt sowie Einziehungsentscheidungen getroffen. Die Revision der Nebenklägerin, die sich auf die zu ihrem Nachteil begangene Tat beschränkt, hat in dem aus der Urteilsformel ersichtlichen Umfang Erfolg.

I.

Das Landgericht hat hinsichtlich der zum Nachteil der Nebenklägerin begangenen Tat folgende Feststellungen getroffen:

Der Angeklagte ging im Jahr 2018 keiner beruflichen Tätigkeit nach, sondern bestritt den Lebensunterhalt für sich und seine Familie unter anderem aus den Einnahmen für ihn tätiger Prostituierten. Er war bestrebt, die Zuhälterei als lukrative Einnahmequelle weiter auszubauen. So kam es unter anderem, dass er die Nebenklägerin R. für sich gewann und diese fortan für ihn arbeitete. Dies ergab sich wie folgt:

R. ging bereits seit mehreren Jahren der Prostitution in der F. in F. nach, wo auch die Lebensgefährtin des Angeklagten, die ehemalige Mitangeklagte B., arbeitete. An diese wandte sich die Nebenklägerin aus Angst vor ihrem damaligen Zuhälter, da dieser nicht nur ihren Prostituiertenlohn für sich vereinnahmte, sondern auch äußerst gewalttätig war. B. erklärte, ihr helfen zu können. Dieses Angebot nahm R. schließlich an, nachdem sie aus Angst vor ihrem Zuhälter zu ihrem Vater geflüchtet war. B. kontaktierte daraufhin den Angeklagten und teilte der Nebenklägerin anschließend mit, dass der Angeklagte ihr helfen, dies jedoch 10.000 € kosten werde. Die Zeugin R. übergab daraufhin B. 3.000 € als Anzahlung für den Angeklagten, der Rest sollte im Folgenden für den Angeklagten „abgearbeitet“ werden. Bei einem Gespräch erklärte ihr der Angeklagte sodann, dass er sich mit ihrem früheren Zuhälter geeinigt und an diesen 7.000 € gezahlt habe, womit sie nun zu ihm gehöre. Er übergab ihr ein Handy, womit für sie klar war, dass sie nun - was sie so ursprünglich nicht beabsichtigt hatte - bei dem Angeklagten bleibe. So kam es, dass sie ab Februar 2019 weiter als Prostituierte in der F. arbeitete und nunmehr ihre Einnahmen nicht mehr an ihren früheren Zuhälter, sondern an den Angeklagten abgab. Dieser hatte erklärt, dass alle Einnahmen an ihn fließen sollten, wenn die Nebenklägerin etwas brauche, bekomme sie es von ihm.

R. ging an sechs Tagen in der Woche zwischen 11.00 Uhr und durchschnittlich 3.00 Uhr morgens der Prostitution nach. Sie war verpflichtet, sich mehrfach am Tag beim Angeklagten zu melden. Insbesondere war sie verpflichtet, ihre Tageseinnahmen mitzuteilen und abzüglich laufender Kosten an den Angeklagten zu übergeben. Diesen Verpflichtungen kam sie gewissenhaft nach. Während der Angeklagte sich im Ausland aufhielt oder sonst verhindert war, bewahrte die frühere Mitangeklagte B. die Freierlöhne der Zeugin R. auf. Zudem war sie für deren Überwachung zuständig. Sie übte psychischen Druck aus, indem sie ankündigte, der Angeklagte würde sie umbringen, sofern sie seinen Forderungen nicht nachkommen sollte. Trotz des Bemühens der Nebenklägerin um Wohlverhalten gegenüber dem Angeklagten kam es im Tatzeitraum wiederholt zu Körperverletzungen durch diesen. Der Angeklagte handelte dabei in der Absicht, R. zu veranlassen, weiterhin für ihn entsprechend seinen Vorgaben die Prostitution auszuüben.

Im Mai 2019 schlug der Angeklagte im von ihm betriebenen Café J. in O. der Nebenklägerin absichtlich dreimal mit der flachen Hand ins Gesicht. Hintergrund waren Gerüchte, dass R. zu einem anderen Zuhälter wechseln wollte. Einen solchen Wechsel hatte sie tatsächlich beabsichtigt, da sie den zunehmenden „Zickenkrieg“ zwischen ihr und B. leid war und zudem den strengen Vorgaben des Angeklagten entkommen wollte. Auch infolge der Schläge ging die Nebenklägerin weiterhin für den Angeklagten der Prostitution nach.

Am 10. November 2019 schlug der Angeklagte der Zeugin R. absichtlich aufgrund zu geringer Prostitutionseinkünfte und des Vorwurfs, dass sie zu viel trinke und Drogen konsumiere, mindestens zweimal abwechselnd mit der flachen Hand ins Gesicht, so dass es zu Hämatomen kam. Er teilte ihr mit, dass sie gegen eine Abstandszahlung in Höhe von 40.000 € „gehen könne“, wenn sie dies wolle. Er forderte sie auf, sich in eine ihr zwischenzeitlich zur Verfügung gestellte Wohnung in O. zu begeben und dort auf ihn zu warten. Zugleich kündigte er an, dass er mit ihr einen Drogentest machen lassen und es Folgen haben werde, wenn dieser positiv ausfallen sollte. Statt den Anweisungen Folge zu leisten, flüchtete die Nebenklägerin zu ihrem Vater. Sie befürchtete, der Angeklagte könne sie totschlagen, da sie tatsächlich erheblich alkoholisiert war und Drogen konsumiert hatte. Ihr Vater verständigte daraufhin die Polizei, da er wie auch die Zeugin R. annahm, dass der Angeklagte sie suchen und finden könnte, um sich an ihr zu rächen. Die Nebenklägerin stellte ab diesem Zeitpunkt die Ausübung der Prostitution ein. In der Zeit ab Februar 2019 hatte sie ihren wöchentlichen Prostitutionslohn in einer durchschnittlichen Höhe von ca. 3.000 € an den Angeklagten abgegeben. Davon hatte sie nur vereinzelt Geld für das „Nötigste“ bekommen.

In der Hauptverhandlung haben der Angeklagte und die Zeugin R. einen Vergleich geschlossen, in dem der Angeklagte sich verpflichtet hat, zur Schadenswiedergutmachung einen Betrag von 50.000 € zu zahlen. Zudem hat er sich über seinen Verteidiger bei der Nebenklägerin entschuldigt.

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen dirigistischer Zuhälterei in Tateinheit mit ausbeuterischer Zuhälterei und mit vorsätzlicher Körperverletzung zum Nachteil der Nebenklägerin R. zu einer Einzelfreiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt.

II.

Die Revision der Nebenklägerin führt zur Aufhebung des Schuldspruchs im Fall II. 1 der Urteilsgründe und des Gesamtstrafenausspruchs.

1. Die Revision der Nebenklägerin ist zulässig. Sie hat diese mit Schriftsatz vom 28. Dezember 2021 zugleich mit der Einlegung des Rechtsmittels in hinreichender Weise gemäß § 400 Abs. 1 StPO begründet; den Ausführungen ist zu entnehmen, dass sie eine Verurteilung des Angeklagten wegen Zwangsprostitution nach § 232a Abs. 3 StGB, einem Nebenklagedelikt, erstrebt.

2. Das Rechtsmittel hat auch Erfolg. Das Landgericht, das seine rechtliche Würdigung nicht begründet hat, hat ersichtlich den Sachverhalt nicht unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten geprüft und damit gegen die ihm obliegende Kognitionspflicht nach § 264 StPO verstoßen.

a) Diese gebietet, dass der durch die zugelassene Anklage abgegrenzte Prozessstoff durch vollständige Aburteilung des einheitlichen Lebensvorgangs erschöpft wird. Der Unrechtsgehalt der Tat muss ohne Rücksicht auf die dem Eröffnungsbeschluss zugrunde gelegte Bewertung ausgeschöpft werden, soweit keine rechtlichen Gründe entgegenstehen. Fehlt es daran, stellt dies einen sachlich-rechtlichen Mangel dar. Bezugspunkt dieser Prüfung ist die Tat im Sinne von § 264 StPO, also ein einheitlicher geschichtlicher Vorgang, der sich von anderen ähnlichen oder gleichartigen unterscheidet und innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll (st. Rspr.; s. etwa BGH, Urteil vom 8. Dezember 2021 ? 5 StR 236/21, NStZ 2022, 409, 410 mwN; Senat, Urteil vom 12. April 2023 - 2 StR 228/22).

b) Den sich daraus ergebenden Anforderungen wird das angegriffene Urteil nicht in vollem Umfang gerecht.

aa) Es ist zwar nicht zu beanstanden, dass das Landgericht - entgegen der Ansicht der Revision - davon ausgegangen ist, dass die Nebenklägerin während des gesamten Tatzeitraums nur den Zuhälter wechseln, nicht aber aus der Tätigkeit als Prostituierte aussteigen wollte. Dies ist für das Geschehen im Mai 2019 ausdrücklich festgehalten, weshalb die gegenüber der Nebenklägerin erfolgte Gewaltausübung keine Veranlassung zur Fortsetzung der Prostitution darstellt (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 4. August 2020 - 3 StR 132/20, NJW 2021, 869, 870). Dies gilt auch für den Übergriff am 10. November 2019, in dessen Folge sie schließlich Abstand von der Prostitutionsausübung nahm. Der insoweit festgestellte Sachverhalt, der auf einer tragfähigen und damit rechtlich nicht zu beanstandenden Beweiswürdigung beruht, gibt keinen Anhalt für eine vor der Gewaltausübung bestehende Absicht der Nebenklägerin, die Prostitution aufzugeben.

bb) Gleichwohl erweist es sich mit Blick auf die Kognitionspflicht als rechtsfehlerhaft, eine Strafbarkeit wegen versuchter schwerer Zwangsprostitution gemäß § 232a Abs. 3, §§ 22, 23 StGB nicht in den Blick genommen zu haben, weil der Angeklagte die Nebenklägerin am 10. November 2019 auch „aufgrund zu geringer Prostitutionseinkünfte“ geschlagen hat.

Dieser Umstand hätte für das Landgericht Anlass zur Prüfung sein müssen, ob die Gewaltausübung aus der Sicht des Angeklagten der Fortsetzung der Prostitution dienen sollte.

Ein Veranlassen zur Fortsetzung der Prostitution erfasst nämlich nicht nur die Fälle, in denen das der Prostitution nachgehende Tatopfer, das hiervon Abstand nehmen will, dazu gebracht wird, der Prostitution weiter nachzugehen. Es ist auch gegeben, wenn die Person zwar grundsätzlich zur weiteren Ausübung der Prostitution bereit ist, aber vom Täter entgegen ihrem Willen zu einer intensiveren Form der Prostitutionsausübung bewegt oder von einer weniger intensiven Form abgehalten wird. Das gilt nicht nur für eine qualitativ andere Art der Tätigkeit, sondern auch für einen quantitativ wesentlich abweichenden Umfang (vgl. BGH, Beschluss vom 4. August 2020 - 3 StR 132/20, NJW 2021, 869, 870; Senat, Beschluss vom 15. März 2023 - 2 StR 348/22, jew. mwN).

Gemessen daran stellt sich die Frage, ob das Vorgehen des Angeklagten (auch) darauf zielte, die Nebenklägerin zu einer intensiveren Ausübung der Prostitution zu veranlassen. Dabei hätte sich das Landgericht nicht nur mit der Frage auseinander setzen müssen, ob der Angeklagte mit seinem gewaltsamen Vorgehen eine quantitative Steigerung der Prostitutionstätigkeit verfolgte, die auch mit Blick auf die festgestellten Arbeitszeiten (sechs Tage in der Woche zwischen 11.00 Uhr und 3.00 Uhr morgens) möglich erscheint. Es hätte auch eine qualitative Steigerung der Prostitutionsausübung in den Blick nehmen müssen (vgl. dazu Senat, Beschluss vom 9. Mai 2001 - 2 StR 111/01 mwN). Schließlich wäre zu erwägen gewesen, dass die Schläge des Angeklagten womöglich nicht von der Vorstellung getragen waren, auf eine intensivere Prostitutionsausübung hinzuwirken, sondern sich lediglich als Ausdruck des Unmuts des Angeklagten darstellten, der sich wegen des Alkohol- und Drogenkonsums verärgert zeigte, und somit als bloße Sanktion der Nebenklägerin (ohne konkretes Nötigungsziel) gedacht waren (vgl. Senat, Urteil vom 9. Oktober 2013 - 2 StR 297/13, NStZ 2014, 453, 455). Der neue Tatrichter wird aufgrund neu zu treffender Feststellungen, insbesondere zu den Vorstellungen des Angeklagten, zu prüfen haben, ob das Verhalten des Angeklagten zumindest auch auf eine Intensivierung der Prostitutionsausübung gerichtet war.

cc) Der aufgezeigte Rechtsfehler führt zur Aufhebung des Schuldspruchs im Fall II. 1 der Urteilsgründe, auch soweit die an sich rechtsfehlerfrei festgestellten, tateinheitlich verwirklichten Delikte (§ 181a Abs. 1 Nr. 1 und 2, § 223 StGB) betroffen sind. Einer Aufhebung von Feststellungen bedarf es nur hinsichtlich des Geschehens vom 10. November 2019, die übrigen Feststellungen sind von dem Rechtsfehler unberührt und können bestehen bleiben. Im Übrigen hat die Aufhebung der Verurteilung im Fall II. 1 der Urteilsgründe den Wegfall der zugehörigen Einzelstrafe zur Folge und bringt damit den Gesamtstrafenausspruch zu Fall.

dd) Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen vorsorglich darauf hin, dass der neue Tatrichter im Rahmen seiner Kognitionspflicht auch zu prüfen haben wird, ob im Hinblick auf die „Mitteilung“ des Angeklagten zu einer möglichen Abstandszahlung von 40.000 € durch die Nebenklägerin eine versuchte Erpressung gegeben ist. Im Übrigen wird das neue Tatgericht die Körperverletzungsdelikte zum Nachteil der Nebenklägerin vom Mai 2019 sowie vom 10. November 2019 gegebenenfalls als zwei mit der Zuhälterei tateinheitlich begangene Delikte dementsprechend im Schuldspruch zum Ausdruck zu bringen haben.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1278

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede