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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 951

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 228/22, Urteil v. 12.04.2023, HRRS 2023 Nr. 951


BGH 2 StR 228/22 - Urteil vom 12. April 2023 (LG Marburg)

Kognitionspflicht (vollständige Aburteilung des einheitlichen Lebensvorgangs; Unrechtsgehalt der Tat); Trunkenheit im Verkehr (Alkoholkonsum: BAK); Nötigung; Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs und von Persönlichkeitsrechten durch Bildaufnahmen; Freiheitsberaubung.

§ 264 StPO; § 316 StGB; § 240 StGB; § 201a StGB; § 239 StGB

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Marburg vom 31. Januar 2022 mit den Feststellungen zur Alkoholisierung des Angeklagten aufgehoben.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die auf die Verletzung sachlichen Rechts gestützte Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg.

I.

Nach den Feststellungen des Landgerichts hielt sich der Angeklagte, der die Nacht mit Freunden verbracht und dabei nicht unerhebliche, aber im Einzelnen nicht mehr feststellbare Mengen an Alkohol konsumiert hatte, in den Morgenstunden des 13. September 2020 am Bahnhof in N. auf. Dort traf er gegen 8.00 Uhr auf den später Geschädigten B., der zu diesem Zeitpunkt bereits erheblich alkoholisiert war. Aufgrund dessen hatte dieser Schwierigkeiten, mit dem Angeklagten zu reden. Zusammen tranken der Angeklagte und B. noch im Bereich des Bahnhofs Whisky. Während des Aufenthalts filmte der Angeklagte sich und den Geschädigten, unter anderem mit dem Bemerken „Guck mal, wen ich hier habe“. Eine hiervon erstellte Videosequenz übersandte er um 8.07 Uhr einem Freund, dem Zeugen C. Schließlich entschlossen sie sich, zusammen zum Munitionsdepot zu fahren. Dabei handelt es sich um einen im sozialen Umfeld des Angeklagten bekannten Treffpunkt, um dort gemeinsam Alkohol zu trinken. Mit dem Auto des Bruders des Angeklagten fuhren beide dorthin. Auf der Fahrt wie auch am Zielort setzten sie den Konsum von Whisky fort, wobei nicht festzustellen war, welche Mengen jeder zu sich nahm. In der vom Angeklagten mitgeführten Whiskyflasche befand sich schließlich nur ein geringer Rest von Whisky. Spätestens während des Aufenthalts am Munitionsdepot hegte der Angeklagte die Vermutung, B. bereits zuvor begegnet zu sein. Der Angeklagte war einige Tage zuvor gemeinsam mit dem Zeugen C. in eine Auseinandersetzung mit einer dunkelhäutigen Person verwickelt gewesen. Dabei hatten der Angeklagte und der Zeuge C. versucht, dieser Person habhaft zu werden, nachdem diese ein junges Mädchen sexuell motiviert belästigt hatte. Die betreffende Person war jedoch geflüchtet.

Als der Angeklagte vermutete, dass es sich bei B. um jene dunkelhäutige Person handeln könnte, versuchte er vergeblich, telefonischen Kontakt zu C. aufzunehmen. So fragte der Angeklagte B. direkt, ob er derjenige gewesen sei, der das Mädchen belästigt habe. Dann beschloss er, B. für sein Handeln zur Rechenschaft zu ziehen. Dazu trat er, nachdem der Geschädigte zu Boden gegangen war, mehrfach wuchtig auf den am Boden Liegenden ein. Er versetzte diesem insgesamt 16 Tritte, wovon mindestens vier Tritte gegen den Kopf und zwei Tritte gegen den Oberkörper erfolgten. Zumindest einer der dem Geschädigten versetzten Tritte erfolgte mittels einer Stampfbewegung von oben herab. B. versuchte mehrfach, sich zwischen den Tritten aufzurichten, worauf der Angeklagte ihn aufforderte, liegen zu bleiben. B. versuchte, sein Gesicht vor den Tritten des Angeklagten zu schützen, die Angriffe des Angeklagten abzuwehren und sich zur Wehr zu setzen. Aufgrund der erheblichen Alkoholisierung war er jedoch weder zu weiterer Abwehr noch zu einem Gegenangriff fähig. Während der Tatausführung filmte der Angeklagte sich selbst und das Tatgeschehen mit seinem Mobiltelefon. Mehrfach fragte er in die Kamera: „Ist der das?“. Er packte den Geschädigten an den Haaren und zog ihn in Richtung Kamera. Den Kopf vor die Kamera haltend, fragte er unter anderem: „Guck in die Kamera! Ist der das? Ist dieser Hurensohn das? Guck in diese Kamera, guck rein, mein Kollege will dich sehen. Guck rein, sonst töte ich Dich, guck rein, sonst ficke ich Deine Mutter.“ Die erstellten Videos übermittelte er mit seinem Handy an den Zeugen C. zwischen 8.17 Uhr und 8.23 Uhr.

Dem Angeklagten war bei der Tat bewusst, dass die von ihm ausgeführten Tritte, insbesondere gegen den Kopf, grundsätzlich geeignet waren, lebensgefährliche Verletzungen hervorzurufen. Er vertraute jedoch darauf, dass solche lebensgefährdenden Verletzungen nicht eintreten würden.

Anschließend verließ der Angeklagte mit dem PKW den Ort des Geschehens und ließ den Geschädigten verletzt zurück. Um 9.55 Uhr erhielt er einen Anruf der Zeugin R., die die mit Blut verschmierte Jacke des B. im Bereich des Munitionsdepots gefunden und die Polizei verständigt hatte. Der Angeklagte äußerte sich nicht dazu und verabredete sich mit der Zeugin zum Kaffeetrinken. Die herbeigerufene Polizei konnte bei der Nachsuche im Bereich des Fundorts der Jacke B. nicht auffinden.

Im Laufe des Vormittags begab sich der Angeklagte zurück zum Geschädigten, um nach diesem zu sehen. Dieser hatte sich inzwischen zur Hundeschule in N. begeben. Er war verletzt und ansprechbar. Über den Vormittag verteilt schaute der Angeklagte mehrfach nach ihm und versicherte, Hilfe zu holen. Schließlich wurde ihm bewusst, dass der Geschädigte aufgrund seiner Verletzungen tatsächlich medizinische Hilfe benötigte. Er suchte seine Cousine und seinen Cousin auf und bat diese, einen Krankenwagen zur Hundeschule zu bestellen. Ein um 13.13 Uhr abgesetzter Notruf führte jedoch nicht zu einem Einsatz.

Anschließend traf sich der Angeklagte mit der Zeugin R. Er forderte sie auf, zum Schäferhundeverein zu fahren, da sich dort eine Person befinde, die Hilfe benötige. Diese fand dort aber niemanden, weil sich B. zwischenzeitlich weiter fortbewegt hatte. Darüber informiert, machte er sich zusammen mit dem Zeugen C. auf die Suche. Nachdem sie B. gefunden hatten, teilte der Angeklagte der Zeugin R. den Auffindeort mit und forderte sie auf, einen Krankenwagen zu rufen, andernfalls er das täte, auch wenn er Ärger bekommen würde. Die Zeugin R. begab sich schließlich zu dem vom Angeklagten beschriebenen Ort und benachrichtigte um14.00 Uhr einen Krankenwagen, der den Geschädigten zur ärztlichen Versorgung in die Notaufnahme des Universitätsklinikums M. verbrachte.

Der Geschädigte erlitt durch die Tritte erhebliche Hämatome einhergehend mit Schwellungen der Stirn- und Gesichtshaut, ein Schädel-Hirn-Trauma sowie eine Fraktur des Nasenbeins und des linken Daumengelenks. Ferner kam es zu Hautdurchtrennungen im Augenbrauenbereich, zahlreichen Abschürfungen im Gesicht und Schürfwunden am gesamten Körper. Der Zeuge befand sich drei Tage zur Beobachtung in der Klinik.

Das Landgericht hat angenommen, da der Angeklagte an einer antisozialen Persönlichkeitsstörung leide sowie an einer Alkoholkonsumstörung. Aufgrund seiner erheblichen Alkoholisierung sei nicht auszuschließen, dass bei der Tat seine Fähigkeit, entsprechend seiner Unrechtseinsicht zu handeln, im Sinne des § 21 StGB erheblich vermindert war.

II.

Die Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg.

1. Die Revision gegen das der Staatsanwaltschaft am 4. April 2022 zugestellte Urteil ist zulässig. Die Frist des § 345 Abs. 1 Satz 1 StPO ist gewahrt. Die Revisionsbegründung ist am 4. Mai 2022, dem letzten Tag der Frist, eingegangen.

2. Die Rechtsmittelführerin hat die Revision zwar auf den Schuld- und Strafausspruch beschränkt; diese Beschränkung ist aber unwirksam. Die Staatsanwaltschaft wendet sich in ihrer Revisionsbegründungsschrift unter anderem auch gegen die mit Blick auf die Alkoholisierung des Angeklagten erfolgte Nichtausschließbarkeit der Voraussetzungen des § 21 StGB durch das Landgericht, das sich im Rahmen seiner Entscheidung, Unterbringungen nach §§ 63, 64 StGB nicht anzuordnen, gerade auch mit dem Alkoholkonsum des Angeklagten befasst. Aufgrund des dadurch bestehenden Zusammenhangs zwischen beiden Rechtsfolgenentscheidungen ist hier eine getrennte Prüfung beider Rechtsfolgen nicht möglich.

3. Das Landgericht hat den Sachverhalt nicht unter allen rechtlichen Gesichtspunkten geprüft und damit gegen die ihm obliegende Kognitionspflicht nach § 264 StPO verstoßen.

a) Diese gebietet, dass der durch die zugelassene Anklage abgegrenzte Prozessstoff durch vollständige Aburteilung des einheitlichen Lebensvorgangs erschöpft wird. Der Unrechtsgehalt der Tat muss ohne Rücksicht auf die dem Eröffnungsbeschluss zugrunde gelegte Bewertung ausgeschöpft werden, soweit keine rechtlichen Gründe entgegenstehen. Fehlt es daran, stellt dies einen sachlich-rechtlichen Mangel dar. Bezugspunkt dieser Prüfung ist die Tat im Sinne von § 264 StPO, also ein einheitlicher geschichtlicher Vorgang, der sich von anderen ähnlichen oder gleichartigen unterscheidet und innerhalb dessen der Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll (st. Rspr.; s. etwa BGH, Urteil vom 8. Dezember 2021 ? 5 StR 236/21, juris Rn. 10 mwN; Beschluss vom 20. Mai 2021 ? 3 StR 443/20, juris Rn. 11 mwN).

b) Den sich daraus ergebenden Anforderungen wird das angegriffene Urteil in mehrerer Hinsicht nicht gerecht.

aa) Der Angeklagte fuhr nach dem Aufenthalt am Bahnhof N. mit dem Auto seines Bruders zum Munitionsdepot, das er nach der Tat auch wieder mit dem PKW verließ. Der Angeklagte hat sich eingelassen, beginnend ab dem Abend am 12. September 2020 in ganz erheblichem Maße alkoholische Getränke zu sich genommen zu haben. Seine Erinnerung von der Nacht und dem Tatgeschehen selbst sei infolge der Alkoholisierung nur noch schemenhaft. Er habe auch keine Erinnerung daran, wann er das Fahrzeug seines Bruders in Gebrauch genommen habe. Im Bereich des Bahnhofs habe er mit dem Geschädigten zusammen Whisky getrunken, dies sei im Bereich des Munitionsdepots fortgesetzt worden. Er habe keine Kenntnis davon, in welchem Umfang er in der Nacht alkoholische Getränke getrunken habe, meine aber, dass er vor der gemeinsam mit dem Geschädigten konsumierten Flasche Whisky ca. 30 doppelte Whisky-Cola getrunken haben kann.

Diese Einlassung des Angeklagten hätte dem Landgericht Anlass sein müssen, eine Strafbarkeit nach § 316 Abs. 1 StGB zu prüfen. Es hat zwar gestützt auf die Angaben des Angeklagten zum Alkoholkonsum im zeitlichen Zusammenhang mit der Tat nicht ausschließbar angenommen, dass dieser im Zustand der erheblich verminderten Steuerungsfähigkeit gehandelt hat, hat es aber vor dem Hintergrund des Geständnisses, zweimal mit dem Auto gefahren zu sein, zu erörtern versäumt, ob sich aus der Einlassung zu den zu sich genommenen Alkoholmengen und zu dem sich daraus ergebenden Erinnerungsverlust nicht die Voraussetzungen für eine Strafbarkeit nach § 316 Abs. 1 StGB ergeben. Insoweit wäre die Strafkammer gehalten gewesen, sich eine Überzeugung zu verschaffen, welche Alkoholmengen der Angeklagte mindestens zu sich genommen hat und welche Blutalkoholkonzentration sich daraus ergibt. Wäre ihr dies nicht möglich gewesen, weil die Trinkmengenangaben keine verlässliche Grundlage für eine solche Berechnung darstellen, hätte es erörtern müssen, ob die Angaben des Angeklagten zu den behaupteten Folgen des Alkoholkonsums, insbesondere zum Erinnerungsverlust, eine tragfähige Grundlage für die Annahme einer durch Alkohol herbeigeführten Fahruntüchtigkeit des Angeklagten sein können. Da die Fahrten des Angeklagten Teil des Lebenssachverhalts sind, den die Staatsanwaltschaft zur Aburteilung gestellt hat, hätte sich das Landgericht, das Straftaten nach § 316 StGB auch nicht von der Verfolgung ausgenommen hat, nach einem Hinweis gemäß § 265 Abs. 1 StPO mit einer möglichen Strafbarkeit wegen Trunkenheit im Verkehr befassen müssen.

bb) Das von dem Angeklagten gefilmte Tatgeschehen hätte für das Landgericht Anlass sein müssen, eine Strafbarkeit nach § 240 StGB zu erörtern. So packte er den Geschädigten an den Haaren und zog ihn in Richtung Kamera. Den Kopf vor die Kamera haltend, sagte er unter anderem: „Guck in die Kamera! Ist der das? Ist dieser Hurensohn das? Guck in diese Kamera, guck rein, mein Kollege will dich sehen. Guck rein, sonst töte ich Dich!“ Damit hat der Angeklagte Gewalt eingesetzt und zudem mit dem Tode gedroht, um den Geschädigten zu veranlassen, in die Kamera zu schauen. Die Urteilsgründe lassen zwar offen, ob er dies letztlich getan hat, gegebenenfalls wäre aber zumindest eine Versuchsstrafbarkeit zu erörtern gewesen.

4. Die Verletzung der Kognitionspflicht führt zur Aufhebung des Schuldspruchs; dies bedingt den Entfall des Rechtsfolgenausspruchs, auch soweit das Landgericht von einer Anordnung der §§ 63, 64 StGB abgesehen hat. Die Sache bedarf neuer Verhandlung und Entscheidung. Die bisherigen Feststellungen sind durch den aufgezeigten Rechtsfehler nicht betroffen; sie können daher bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO) und um solche ergänzt werden, die den bisherigen nicht widersprechen (vgl. zur Aufrechterhaltung von Feststellungen bei der Verletzung der Kognitionspflicht BGH, Beschluss vom 10. Juni 2020 - 5 StR 435/19). Dies gilt allerdings nicht im Hinblick auf die Feststellungen zur Alkoholisierung des Angeklagten, die insgesamt neu zu treffen sind.

5. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat vorsorglich darauf hin, dass der neue Tatrichter auch einen Verstoß gegen § 201a Abs. 1 Nr. 2 StGB in den Blick zu nehmen haben wird (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 25. April 2017 - 4 StR 244/16, NStZ 2017, 408). Zwar verstieß die Nichterörterung der Vorschrift nicht gegen die dem Landgericht obliegende Kognitionspflicht, weil es zum Urteilszeitpunkt an einem Strafantrag wie auch an der Bejahung des besonderen öffentlichen Interesses fehlte. Nachdem nunmehr aber der Generalbundesanwalt in der Revisionshauptverhandlung das besondere öffentliche Interesse bejaht hat, wird das neue Tatgericht eine entsprechende Strafbarkeit zu prüfen haben.

Ebenso wird das Landgericht Gelegenheit haben, sich mit einer möglichen Strafbarkeit nach § 239b StGB auseinanderzusetzen. Der Angeklagte hat sich zwar nicht des Geschädigten B. bemächtigt, um ihn durch eine Todesdrohung dazu zu veranlassen, in die Kamera zu schauen (§ 239b Abs. 1 Halbsatz 1 2. Alternative StGB). Es gibt auf der Grundlage der Feststellungen des Landgerichts keinen Anhaltspunkt dafür, dass er - als er beschloss, den Zeugen für sein Handeln zur Rechenschaft zu ziehen - bereits die Absicht hatte, den Zeugen mit einer Todesdrohung zum Blick in die Kamera zu veranlassen. Es wird aber zu erwägen sein, ob der Angeklagte nicht eine von ihm geschaffene Bemächtigungslage zu einer solchen Nötigung ausgenutzt hat (§ 239b Abs. 1 Halbsatz 2 StGB). Ob dies der Fall ist oder ob die angewandte Gewalt nicht womöglich gleichzeitig die Bemächtigungslage herbeiführte und in unmittelbarem Zusammenhang hierzu die Nötigungshandlung ermöglichte, wird - gegebenenfalls anhand neu zu treffender Feststellungen, die den bisherigen nicht widersprechen - zu prüfen sein.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 951

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede