HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1272
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 248/22, Urteil v. 19.07.2023, HRRS 2023 Nr. 1272
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bonn vom 2. Februar 2022 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung unter Einbeziehung einer Strafe aus einer anderen Verurteilung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und einem Monat verurteilt. Die auf die Verletzung sachlichen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat in vollem Umfang Erfolg.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts lernten sich der Angeklagte und die Zeugin D. - vermittelt durch die beiden Familien - im Sommer 2017 kennen. Schnell entstand der Entschluss zu heiraten. Auf die Verlobung im September 2017 folgten zügig die Trauung und eine große Hochzeitsfeier am 3. Dezember 2017. In der hierauf folgenden Hochzeitsnacht hatten die beiden das erste Mal miteinander Geschlechtsverkehr.
Am Neujahrstag 2018 reisten der Angeklagte und die Nebenklägerin im Rahmen ihrer Flitterwochen in die Türkei. Dort kam es in der Wohnung der Großmutter des Angeklagten zu ersten - hier nicht angeklagten - erzwungenen sexuellen Handlungen des Angeklagten gegenüber der Nebenklägerin. Nach Rückkehr aus den Flitterwochen gestaltete sich die Ehe weiter problematisch; der Angeklagte schlug, demütigte und kontrollierte die Zeugin D. Er untersagte ihr jeglichen Kontakt zu männlichen Personen und kam oft spät nachts betrunken nach Hause.
Alsbald war die Zeugin D. schwanger, wobei die Zwillingsschwangerschaft aus medizinischer Sicht eine Risikoschwangerschaft war. Zwei Monate vor dem Geburtstermin kam es am 5. Juli 2018 vorzeitig zur Geburt mithilfe eines Kaiserschnitts. Es schloss sich ein sechswöchiger Krankenhausaufenthalt an, nachdem die Nebenklägerin nach Hause zurückkehrte. Ende August 2018 teilte sie dem Angeklagten, der hierauf schon gewartet hatte, mit, dass nach der bis dahin gebotenen Vorsicht wieder vaginaler Geschlechtsverkehr stattfinden dürfe; dies äußerte sie, obwohl sie bereits zu diesem Zeitpunkt weiteren Geschlechtsverkehr mit dem Angeklagten innerlich ablehnte.
Einige Tage später, Ende August/Anfang September 2018, kam der Angeklagte betrunken nachts oder frühmorgens nach Hause. Die Nebenklägerin lag schlafend im Ehebett, die Zwillinge lagen in einem Kinderbett unmittelbar daneben. Der Angeklagte legte sich zu der mit einem Pyjama bekleideten Zeugin ins Bett, umarmte sie von hinten und drückte sie an sich. Beide veränderten nunmehr ihre Liegeposition, indem sie sich weiter entfernt von den Zwillingen mit den Köpfen an das Fußende des Bettes legten. Die Zeugin sagte dem Angeklagten, sie wolle keinen Geschlechtsverkehr, weil ansonsten die Kinder aufwachen könnten. Der Angeklagte aber machte weiter, sagte zu ihr, „er werde sie schon überreden“, und begann, sie zu küssen, was die Nebenklägerin zunächst noch erwiderte, um eine Eskalation zu vermeiden. Sie sagte ihm dann aber erneut, sie wolle das nicht. Gleichwohl legte sich der Angeklagte in der Folge auf die Zeugin, drückte ihre Beine auseinander und drang ungeschützt in ihre zu diesem Zeitpunkt nicht mehr bedeckte Vagina ein. Wie die Zeugin entkleidet wurde, konnte die Strafkammer nicht mehr aufklären. Die Zeugin wehrte sich aus Angst, die Kinder könnten wach werden, nicht. Auch hatte sie - vor dem Hintergrund der bereits erfahrenen Gewalttätigkeiten innerhalb der Ehe - Angst vor Schlägen des Angeklagten. Der Angeklagte sah die Zeugin während des Geschlechtsverkehrs aggressiv an und drang mit wuchtvollen Stößen tief in sie ein, was sie als schmerzhaft empfand. Der Angeklagte sagte zu ihr: „Spüre diesen Schmerz und vergiss diesen Schwanz nie!“ Die Zeugin erwiderte, es tue ihr weh, er solle aufhören, verhielt sich ansonsten aber leise, um die Kinder nicht zu wecken, zitterte, weinte und biss vor Schmerzen in die Bettdecke. Zwischenzeitlich gelang es der Nebenklägerin, sich auf den Bauch zu drehen, weshalb der Angeklagte versuchte, nunmehr von hinten vaginal den Geschlechtsverkehr auszuüben. Als er schließlich erneut in der Ursprungsstellung von oben in die wieder auf dem Rücken liegende Zeugin eindrang, kam es zum Samenerguss. Unmittelbar nach der Ejakulation stand die Nebenklägerin auf, um sich zu duschen. Der Angeklagte blieb liegen und schlief ein.
2. Das Landgericht hat seine Überzeugung von der Tatbegehung durch den bestreitenden Angeklagten vor dem Hintergrund des Bestehens einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation auf die Angaben der Nebenklägerin gestützt. Es ist dabei davon ausgegangen, dass sie das Tat- und das Rahmengeschehen umfassend, detailliert, aus sich heraus verständlich und widerspruchsfrei konstant geschildert habe.
Die Beweiswürdigung des Landgerichts erweist sich als durchgreifend rechtsfehlerhaft.
1. Dabei lässt der Senat dahinstehen, ob das nur mit der Sachrüge angegriffene Urteil bereits deshalb aufzuheben sein könnte, weil das Landgericht seiner Beweiswürdigung eine vollständige, verschriftlichte Aussage der polizeilichen Vernehmung der Zeugin D. von 16 Seiten zugrunde gelegt hat, zu der die Urteilsgründe mitteilen, diese sei der Vernehmungsbeamtin vorgehalten worden (vgl. zur Wiedergabe einer umfassenden Vernehmung mit vielen Details durch einen Vernehmungsbeamten nach längerer Zeit Senat, Beschluss vom 7. September 1988 - 2 StR 390/88, BGHR StPO Inbegriff der Hauptverhandlung 11; BGH, Beschluss vom 11. August 1987 - 5 StR 162/87, BGHR StPO, § 261 Inbegriff der Verhandlung 5; Beschluss vom 29. Juni 2021 - 3 StR 157/21, NStZ 2022, 119).
Die angegriffene Entscheidung begegnet jedenfalls deshalb durchgreifenden rechtlichen Bedenken, weil den sich aus § 267 Abs. 1 Satz 2 StPO ergebenden Anforderungen an eine Beweiswürdigung nicht genügt ist.
2. Eine den Anforderungen des § 267 Abs. 1 Satz 2 StPO genügende Beweiswürdigung setzt voraus, dass die für die Überzeugung des Tatgerichts maßgeblichen Gesichtspunkte klar und bestimmt im Rahmen einer strukturierten, verstandesgemäß einsichtigen und auf das Wesentliche konzentrierten Darstellung nachvollziehbar niedergelegt werden (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 11. März 2020 - 2 StR 380/19, NStZ-RR 2020, 258; Beschluss vom 11. April 2023 - 4 StR 487/22). Sie soll keine umfassende Dokumentation der Beweisaufnahme enthalten, sondern lediglich belegen, warum bestimmte, für die Schuld und die Straffrage bedeutsame Umstände so festgestellt worden sind wie geschehen (vgl. BGH, Beschluss vom 20. November 2018 - 4 StR 326/18, Rn. 6; Beschluss vom 11. August 2020 - 4 StR 102/20). Die Abfassung des Urteils setzt eine wertende Vorauswahl zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem durch das Tatgericht voraus (vgl. BGH, Beschluss vom 30. Mai 2018 - 3 StR 486/17). Es ist daher regelmäßig verfehlt, umfängliche Vernehmungsprotokolle oder verschriftete Audiovernehmungen in Gänze in das Urteil hineinzukopieren (vgl. auch Beschluss vom 25. November 2021 - 4 StR 255/21). Ebenso wenig ist es angezeigt, Zeugenaussagen in allen Einzelheiten sowie unter Mitteilung ihnen zugrundeliegender Vorhalte oder Nachfragen des Gerichts wiederzugeben (vgl. BGH, Beschluss vom 11. August 2020 - 4 StR 102/20, juris Rn. 6 f.; Beschluss vom 27. September 2018 - 4 StR 191/18, juris Rn. 8). Im Übrigen kann bereits ein unübersichtlicher Aufbau der Urteilsgründe einen durchgreifenden Mangel des Urteils darstellen, wenn sich hieraus Unklarheiten und Widersprüche ergeben (vgl. BGH, Beschluss vom 22. Oktober 2019 - 4 StR 37/19, NStZ 2020, 102).
3. Urteilsgründe, die entgegen diesen gesetzlichen, nämlich aus § 267 Abs. 1 bis 3 StPO folgenden Anforderungen (vgl. BGH aaO) angelegt sind, gefährden den Bestand eines angefochtenen Urteils. So liegt der Fall hier. Der Senat vermag anhand der Urteilsgründe nicht nachzuvollziehen, welche Aussageteile für das Tatgericht von (wesentlicher) Bedeutung waren und ob es solche Umstände, die geeignet sind, die Entscheidung zu Gunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten zu beeinflussen, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen hat (vgl. BGH, Beschluss vom 11. April 2023 - 4 StR 497/22). Das Revisionsgericht ist nicht gehalten, sich aus einzelnen Passagen der Vernehmung die für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Aussage erforderlichen Angaben herauszusuchen, die womöglich das Ergebnis des Tatrichters tragen könnten.
a) Die Strafkammer hat an den Beginn der Beweiswürdigung zunächst zutreffend die Einlassung des Angeklagten gestellt, bevor sie ohne weitere Erläuterung die polizeiliche Vernehmung der Nebenklägerin über 16 engzeilig beschriebene Seiten in die Urteilsgründe hineinkopiert hat. Es folgen auf weiteren 13 ebenso dicht beschriebenen Seiten die Angaben der Nebenklägerin in der Hauptverhandlung, die in sämtlichen ersichtlich auch belanglosen Einzelheiten wiedergegeben werden, zum Teil in einem großen Abschnitt mit dem Hinweis „Auf ausführlichen Vorhalt der Inhalte der polizeilichen Vernehmung“ versehen. Die sich anschließende Beweiswürdigung geht von einer Aussage-gegen-Aussage-konstellation aus und stützt sich dabei auf die Angaben der Nebenklägerin, die das Tat- wie auch das Randgeschehen umfassend, detailliert, aus sich heraus verständlich und in sich widerspruchsfrei konstant geschildert habe.
b) Dieser Urteilsaufbau enthält keine strukturierte und auf das Wesentliche konzentrierte Darstellung der Beweisgründe, sondern stellt - was die Angaben der Nebenklägerin, insbesondere auch in der Hauptverhandlung anbelangt - eine Dokumentation der Beweisaufnahme dar, die insbesondere auch dem Leser den Blick auf die maßgeblichen Umstände des Einzelfalls versperrt. So ist bei der Lektüre der 29 eng bedruckten Seiten, auf denen Angaben der Nebenklägerin wiedergegeben werden, nicht ersichtlich, auf welche Umstände es gegebenenfalls für die Würdigung ihrer Aussage später ankommt. Die Angaben werden ohne jede Wertung oder Vorauswahl in den Urteilsgründen dargelegt, was dazu führt, dass eine Fülle von offensichtlichen Belanglosigkeiten Erwähnung finden. Hinsichtlich der Angaben der Nebenklägerin, die diese „auf Vorhalt der polizeilichen Vernehmung“ gemacht hat, erschließt sich zudem nicht, was ihr tatsächlich vorgehalten worden ist und was konkret Anlass für einen Vorhalt war.
Erst im Anschluss teilen die Urteilsgründe mit, in welchen Punkten es aus Sicht der Strafkammer Abweichungen in den Aussagen gegeben hat. Diese Ausführungen nehmen zwar der Sache nach auf die vorangestellten Vernehmungen der Nebenklägerin Bezug, stehen letztlich aber zusammenhanglos daneben, weil konkrete Bezüge zu einzelnen Angaben nicht hergestellt werden. Der Senat ist aber nicht gehalten, sich durch eine ins Einzelne gehende Durchsicht der Vernehmungsinhalte selbst die Überzeugung zu verschaffen, ob die Angaben der Nebenklägerin letztlich in sich widerspruchsfrei und konstant sind. Dies gilt insbesondere für eine mögliche Abweichung in ihren Angaben zum Stellungswechsel bei der vorgeworfenen Vergewaltigung, einen Umstand, der das unmittelbare Tatgeschehen betrifft. Dass die Nebenklägerin einen solchen in ihrer polizeilichen Vernehmung behauptet, davon aber im Rahmen ihres freien Berichts in der Hauptverhandlung nichts bekundet hat, teilt das Landgericht zwar noch mit. Wie es aber im Einzelnen „auf Nachfrage bzw. Vorhalt“ letztlich zu einer Bestätigung eines Positionswechsels gekommen ist, ist der Würdigung des Landgerichts nicht zu entnehmen. Auf die zu Beginn mitgeteilten Vernehmungsinhalte geht das Landgericht selbst nicht ein. Insgesamt verfehlt das Landgericht damit seine Aufgabe, seine Überzeugungsbildung strukturiert und einsichtig in einer nachvollziehbaren Darstellung so darzulegen, dass das Revisionsgericht diese auf Rechtsfehler überprüfen kann. Die Sache muss deshalb neu verhandelt und entschieden werden.
HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1272
Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede