HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 742
Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 445/21, Urteil v. 11.05.2022, HRRS 2022 Nr. 742
1. Auf die Revisionen der Nebenkläger wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 21. Dezember 2020 mit den Feststellungen aufgehoben; jedoch bleiben die Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen bestehen.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel und die den Nebenklägern insoweit entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weitergehenden Revisionen der Nebenkläger werden verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren verurteilt. Dagegen wenden sich die Nebenkläger mit ihren auf die Rügen der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revisionen. Die Rechtsmittel haben überwiegend Erfolg.
Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
1. Der Angeklagte, kurdischer Abstammung, wanderte mit seiner Familie 1986 zunächst nach Schweden aus, wo er unter Einnahme von Dopingmitteln Kraftsport betrieb. Weil er im Jahre 1996 im Streit seinen Bruder erstochen hatte, wurde gegen ihn eine Jugendstrafe verhängt. Mehrere weitere Gefängnisstrafen in Schweden wegen Körperverletzungen und wegen Morddrohungen folgten, bevor der Angeklagte im Jahre 2011 nach Deutschland übersiedelte. Hier wohnte er in einer eigenen Wohnung, ging aber keiner Erwerbstätigkeit nach. Seinen Lebensunterhalt bestritt er von einer staatlichen Rente aus Schweden und Zuwendungen seiner Familie. 2013 ging er eine langjährige Beziehung mit der Zeugin K. ein, die wegen seines fortwährenden Dopingmittel- und Betäubungsmittelkonsums problematisch verlief. Der Angeklagte verhielt sich aggressiv und es kam auch zu körperlichen Übergriffen, was zu vorübergehenden Trennungen und nachfolgenden Versöhnungen führte. Trennungsabsichten der Zeugin, die zu einem nicht unerheblichen Teil seinen Lebensunterhalt und seinen Drogenkonsum finanzierte, begegnete er stets mit der Behauptung, sie zu lieben, ohne sie sei sein Leben ruiniert. Im Februar 2018 trennte sich die Zeugin K. endgültig von dem Angeklagten.
Während eines Krankenhausaufenthalts im Juli 2018 lernte der Angeklagte die dort als Krankenschwester tätig gewesene, spätere Geschädigte Ü. kennen und begann mit dieser eine Beziehung. Parallel dazu versuchte er vergeblich durch tägliche Telefonate mit der Zeugin K., die ihn weiter finanziell unterstützte, diese zurückzugewinnen mit der Behauptung, sie sei die einzig wahre Frau für ihn.
Auch in der Beziehung zwischen dem eifersüchtigen Angeklagten und Ü. kam es zu Gewalttätigkeiten, von denen sogar Freundinnen der Geschädigten betroffen waren. Im Januar 2019 reisten beide nach Schweden und verlobten sich dort. Ende Januar 2019 erstattete die mittlerweile schwangere Geschädigte Anzeige, weil der Angeklagte sie tätlich angegriffen und verlangt habe, das gemeinsame Kind abzutreiben. In der Folgezeit kam es wiederholt zur Einschaltung der Polizei und zu Wegweisungsverfügungen, Trennungen und Versöhnungen. Trennungswünsche der Geschädigten begegnete der Angeklagte mit der Behauptung, ohne sie nicht leben zu können und sich dann umzubringen. Ende Juni 2019 ließ die Geschädigte einen Schwangerschaftsabbruch durchführen. Um die Geschädigte unter Druck zu setzen, fügte sich der Angeklagte - einen Suizidversuch vortäuschend - im Juli und im August 2019 nicht lebensbedrohliche Schnitte an den Unterarmen zu. Nach einem selbst abgebrochenen kurzzeitigen stationären Klinikaufenthalt im September 2019 hielt er sich vorwiegend im F. Bahnhofsviertel auf. Währenddessen verfestigte sich die Entscheidung der Geschädigten, die Beziehung mit dem drogenabhängigen und manipulativen Angeklagten endgültig zu beenden.
Am 8. und am 9. Oktober 2019 erschien der Angeklagte mehrmals an der Wohnung der Geschädigten und randalierte, bis ihm von der herbeigerufenen Polizei Platzverweise erteilt wurden. Weil sich die Geschädigte auch am 10. Oktober 2019 vor einem Besuch des Angeklagten fürchtete, verließ sie gegen 22.10 Uhr ihre Wohnung. An einem nahegelegenen Kiosk begegnete sie dem ihr auflauernden Angeklagten, der drohte sich selbst umzubringen, sollte die Geschädigte die Beziehung nicht fortsetzen. Diese entgegnete daraufhin, man könne gemeinsam zum Supermarkt gehen und ein Messer kaufen, damit er sich diesmal tatsächlich umbringen könne. Um 22.56 Uhr kauften sie ein Küchenmesser mit einer Klingenlänge von 21 cm, das die Geschädigte bezahlte und das der Angeklagte an sich nahm.
Unmittelbar nach Verlassen des Marktes drohte der Angeklagte, das Messer in der Hand haltend, noch einmal sich umzubringen, sollte die Geschädigte nicht zu ihm zurückkehren. Dies ließ die Geschädigte unbeeindruckt, wobei sich beide frontal gegenüberstanden. Aus Enttäuschung und Wut über die von ihm empfundene Kälte fasste der Angeklagte spontan den Entschluss, nicht sich, sondern die Geschädigte zu töten. Für diese überraschend begann er, auf sie einzustechen. Insgesamt erlitt die Geschädigte, die vergebens versuchte die Angriffe mit den Händen abzuwehren, 33 Stiche in den Oberkörper. Der Angeklagte ließ erst von der Geschädigten ab, als diese tödlich verletzt auf dem Boden lag und Passanten zu Hilfe eilten. Auf der Flucht zog er die Kapuze seines Pullovers über den Kopf, um sich zu tarnen und reinigte das blutverschmierte Messer an seinem Ärmel.
Im unmittelbaren Anschluss an die Tat konsumierte der Angeklagte eine Kokain/Heroin-Mischung, schnitt sich die Pulsadern auf und fügte sich oberflächliche Schnittverletzungen am Hals zu. Um 23.16 Uhr wurde er festgenommen und ins Krankenhaus verbracht, wo seine Verletzungen stationär versorgt wurden. Am Folgetag gab er gegenüber dem ihn überwachenden Polizeibeamten an, er könne jeden ermorden und habe vor niemandem Angst. Er habe schon einmal acht Jahre im Knast gesessen; das sei für ihn kein Problem.
2. Die Strafkammer hat die Tat des Angeklagten als Totschlag gewertet, Mordmerkmale seien nicht feststellbar.
a) Das Mordmerkmal der Heimtücke liege nicht vor. Zwar sei die Geschädigte bei dem Angriff auf ihr Leben sowohl argals auch wehrlos gewesen. Dem Angeklagten habe aber das erforderliche Ausnutzungsbewusstsein gefehlt. So habe er die Geschädigte nach dem Verlassen des Marktes schon nicht von hinten angegriffen, um sie so mit weniger Kraftaufwand zu töten. Hätte er die Arg- und Wehrlosigkeit der Geschädigten bewusst ausnutzen wollen, hätte er mit ihr einen verlassenen Ort aufgesucht und sie bis dahin weiter in Sicherheit gewähnt. Im Übrigen habe er sich in einer ihn psychisch belastenden und subjektiv emotional sehr verletzenden Situation befunden, weil ihm klar geworden sei, dass die Geschädigte weder zu ihm zurückkehren noch ihn weiter finanziell unterstützen würde.
b) Auch ein Mord aus niedrigen Beweggründen komme nicht in Betracht. Handlungsleitend sei ein „Motivbündel“ aus Frustration über die Situation und Wut über die endgültige Zurückweisung sowie die Spontanität des Tatentschlusses gewesen, so dass kein „niedriges“ Hauptmotiv gegeben sei.
Die Ablehnung der Mordmerkmale der Heimtücke und der niedrigen Beweggründe hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
1. Hinsichtlich des Mordmerkmals der Heimtücke hat die Strafkammer das erforderliche heimtückespezifische Ausnutzungsbewusstsein mit nicht tragfähiger Begründung abgelehnt.
a) Ausreichend ist, dass der Täter die Arg- und Wehrlosigkeit in ihrer Bedeutung für die hilflose Lage des Angegriffenen und die Ausführung der Tat in dem Sinne erfasst, dass er sich bewusst ist, einen durch seine Arglosigkeit gegenüber einem Angriff auf Leib und Leben schutzlosen Menschen zu überraschen (st. Rspr.; vgl. Senat, Urteil vom 22. Mai 2019 - 2 StR 530/18, NStZ 2019, 520, 521; BGH, Urteil vom 9. Oktober 2019 - 5 StR 299/19, NStZ 2020, 349 f.). Das Ausnutzungsbewusstsein kann im Einzelfall bereits aus dem objektiven Bild des Geschehens abgeleitet werden, wenn dessen gedankliche Erfassung durch den Täter zur Tatzeit auf der Hand liegt (vgl. BGH, Urteil vom 4. Juli 2018 - 5 StR 580/17, NStZ 2019, 26, 27). Das gilt in objektiv klaren Fällen selbst dann, wenn der Täter die Tat einer raschen Eingebung folgend begangen hat (BGH, Urteile vom 31. Juli 2014 - 4 StR 147/14, StraFo 2014, 433 ff.; vom 29. Januar 2015 - 4 StR 433/14, NStZ 2015, 392, 393). Bei erhaltener Fähigkeit zur Unrechtseinsicht ist auch die Fähigkeit des Täters, die Tatsituation in ihrem Bedeutungsgehalt für das Opfer realistisch wahrzunehmen und einzuschätzen, im Regelfall nicht beeinträchtigt. Anders kann es zwar bei heftigen Gemütsbewegungen liegen, jedoch sprechen auch eine Spontanität des Tatentschlusses sowie eine affektive Erregung des Angeklagten nicht zwingend gegen ein bewusstes Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers. Maßgeblich sind die in der Tatsituation bestehenden tatsächlichen Auswirkungen des psychischen Zustands des Täters auf seine Erkenntnisfähigkeit (vgl. Senat, Urteil vom 11. Juni 2014 - 2 StR 117/14, NStZ 2014, 639). Bei der Beurteilung der subjektiven Voraussetzungen der Heimtücke handelt es sich um eine vom Tatgericht zu bewertende Frage, die nur in eingeschränktem Maß der revisionsgerichtlichen Kontrolle zugänglich ist (vgl. Senat, Urteil vom 22. Mai 2019 - 2 StR 530/18, NStZ 2019, 520, 521).
b) Auch eingedenk dieses eingeschränkten revisionsgerichtlichen Überprüfungsmaßstabes erweist sich die Ablehnung des Ausnutzungsbewusstseins als durchgreifend rechtsfehlerhaft.
aa) Bereits die Ausgangsüberlegung des Landgerichts, dem Ausnutzungsbewusstsein stehe entgegen, dass der Angeklagte die Geschädigte nicht in einen Hinterhalt gesteuert und sie bis dahin in Sicherheit gewogen habe, begegnet rechtlichen Bedenken. Für das bewusste Ausnutzen von Arg- und Wehrlosigkeit genügt es nämlich, dass der Täter sich bewusst ist, einen durch seine Arglosigkeit gegenüber einem Angriff schutzlosen Menschen zu überraschen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Täter die Arglosigkeit herbeiführt oder bestärkt (Senat, Urteil vom 11. Juni 2014 - 2 StR 117/14, NStZ 2014, 639); worauf die Arglosigkeit des Angegriffenen beruht, ist ohne Belang (BGH, Urteil vom 18. Oktober 2007 - 3 StR 226/07, NStZ 2008, 93, 94).
bb) Ebensowenig hindert es die Annahme eines Ausnutzungsbewusstseins, dass der Angeklagte die Geschädigte nach Verlassen des Marktes nicht sofort von hinten attackierte. So wollte der Angeklagte zunächst die Reaktion der Geschädigten auf seinen angedrohten Suizid abwarten. Erst als die Geschädigte es wider Erwarten ablehnte, die Beziehung fortzusetzen, entschloss er sich, diese zu töten.
cc) Ein weiteres, gegen ein Ausnutzungsbewusstsein sprechendes Argument erblickt die Strafkammer in der Spontanität des Tatentschlusses und in der subjektiv emotional sehr verletzenden Situation für den Angeklagten. Sie hat damit ganz wesentlich auf Umstände abgestellt, die das Einsichtsvermögen betreffen. Inwieweit diese konkrete Auswirkungen auf seine Fähigkeit gehabt haben sollen, die Tatsituation zu erkennen und realistisch einzuschätzen, wäre zu erörtern gewesen; dies schon vor dem Hintergrund, dass die Ausführungen des zur Schuldfähigkeit gehörten Sachverständigen keine Hinweise auf tatrelevante Defizite des Angeklagten bei der Wahrnehmung oder Einschätzung der Tatsituation enthalten. Bei dieser Sachlage hätte die Strafkammer näher darlegen müssen, weshalb trotz erhaltener Unrechtseinsicht ausnahmsweise die Fähigkeit des Angeklagten beeinträchtigt war, die übersichtliche Tatsituation in ihrem Bedeutungsgehalt für sein Opfer realistisch wahrzunehmen und einzuschätzen (vgl. BGH, Urteil vom 13. November 2019 - 5 StR 466/19, BeckRS 2019, 31934 Rn. 14).
dd) Schließlich hätte in die Bewertung, ob ein Ausnutzungsbewusstsein gegeben war, auch das umsichtige Nachtatverhalten des Angeklagten einbezogen werden müssen. Dass er unmittelbar nach der Tat die Kapuze über den Kopf zog, sich zügig vom Tatort entfernte und das mitgenommene Tatmesser vom Blut befreite, belegt ein überlegtes Verhalten, das maßgeblich von Sicherungstendenzen auf die eigene Person geprägt war. Ein solch umsichtiges Verhalten stellt ein gewichtiges Indiz gegen die Annahme fehlenden Ausnutzungsbewusstseins aufgrund „Gedanken- und Kopflosigkeit“ dar.
2. Auch hinsichtlich des Mordmerkmals der niedrigen Beweggründe sind die Ausführungen des Landgerichts lückenhaft.
a) Ein Beweggrund ist dann niedrig, wenn er nach sittlicher Würdigung auf tiefster Stufe steht und deshalb besonders verachtenswert ist. Ob dies der Fall ist, beurteilt sich aufgrund einer Gesamtwürdigung, welche die Umstände der Tat, die Lebensverhältnisse des Täters und seiner Persönlichkeit einschließt. Gefühlsregungen wie Wut, Zorn, Ärger, Hass und Rachsucht kommen nur dann als niedrige Beweggründe in Betracht, wenn sie nicht menschlich verständlich, sondern Ausdruck einer niedrigen Gesinnung des Täters sind (vgl. BGH, Urteil vom 28. November 2018 - 5 StR 379/18, NStZ 2019, 206, 207). Entscheidungserheblich sind demnach die Gründe, die den Täter in Wut oder Verzweiflung versetzt oder ihn zur Tötung aus Hass oder Eifersucht gebracht haben. Anzustellen ist eine Gesamtbetrachtung, die sowohl die näheren Umstände der Tat sowie deren Entstehungsgeschichte als auch die Persönlichkeit des Täters und dessen Beziehung zum Opfer einschließt (BGH, Beschluss vom 12. September 2019 - 5 StR 399/19, NStZ 2019, 724, 725).
b) Die Urteilsgründe lassen die gebotene Gesamtwürdigung vermissen. So hat das Landgericht den Beweggrund für die Tötung der Geschädigten in einem Motivbündel gesehen. Ursächlich gewesen seien der Zorn über den Verlust einer Einnahmequelle, Wut über die Aussage der Geschädigten, die endgültige Zurückweisung sowie die Frustration über die Situation.
Zwar hat das Landgericht nicht festzustellen vermocht, welches Motiv handlungsleitend war. Es hat es aber versäumt näher zu prüfen, ob die verschiedenen Beweggründe des Angeklagten nicht ihrerseits jeweils auf einer niedrigen Gesinnung beruhten. Soweit der Angeklagte behauptet hat, die Geschädigte habe während des Treffens mit einem anderen Mann telefoniert, um ihn eifersüchtig zu machen, ist diese Einlassung durch die Auswertung der Verkehrsdaten des Mobiltelefons widerlegt. Vielmehr geriet der als eitel, aufbrausend und massiv gewalttätig beschriebene Angeklagte in Wut, als die Zeugin seinem manipulativen Verhalten diesmal nicht erlag und auf ihrem Trennungswunsch, den er nicht akzeptierte, beharrte. Ob dies geeignet ist, die Beweggründe des Angeklagten auf einer niedrigen Gesinnung beruhend anzusehen, bedarf umfassender neuer tatgerichtlicher Bewertung.
3. Einer Aufhebung der zugehörigen Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen - wie von den Nebenklägern beantragt - bedurfte es nicht, weil diese rechtsfehlerfrei getroffen worden sind (§ 353 Abs. 2 StPO); sie dürfen durch diesen nicht widersprechende ergänzt werden.
HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 742
Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß