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HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 1110

Bearbeiter: Christian Becker

Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 399/19, Beschluss v. 12.09.2019, HRRS 2019 Nr. 1110


BGH 5 StR 399/19 - Beschluss vom 12. September 2019 (LG Neuruppin)

Wut, Ärger, Hass und Rache als niedrige Beweggründe (Gesamtwürdigung; niedrige Gesinnung; beachtliche Gründe; Eifersucht; Gelschulden; subjektive Voraussetzungen).

§ 211 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Wut, Ärger, Hass oder Rache kommen als niedrige Beweggründe i.S.d. § 211 StGB in Betracht, wenn diese Antriebsregungen ihrerseits auf einer niedrigen Gesinnung beruhen. Wut oder Verärgerung sind als niedrig einzustufen, wenn sie unter Berücksichtigung der Beziehung zwischen Täter und Opfer eines beachtlichen Grundes entbehren. Entscheidungserheblich sind demnach die Gründe, die den Täter in Wut oder Verzweiflung versetzt oder ihn zur Tötung aus Hass oder Eifersucht gebracht haben. Anzustellen ist eine Gesamtbetrachtung, die sowohl die näheren Umstände der Tat sowie deren Entstehungsgeschichte als auch die Persönlichkeit des Täters und dessen Beziehung zum Opfer einschließt

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Neuruppin vom 10. April 2019, soweit der Angeklagte verurteilt worden ist, mit den Feststellungen aufgehoben; ausgenommen hiervon bleiben die Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen.

Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Die weitergehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freispruch im Übrigen wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und wegen Bedrohung in acht Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt und die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Die Revision des Angeklagten erzielt mit der Sachrüge den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg und ist im Übrigen im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO unbegründet.

I.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts war der Angeklagte seit Herbst 2017 mit der Zeugin H. liiert, die ab dem Jahreswechsel 2017/2018 überwiegend bei ihm wohnte. Die Zeugin war seit vielen Jahren mit dem später Geschädigten S. K. eng befreundet und stellte ihm in der Zeit ihrer Abwesenheit ihre Wohnung zur Verfügung. Auch der Angeklagte lernte so den Zeugen K. kennen. Beide kamen zunächst gut miteinander aus und absolvierten einen gemeinsamen Montageeinsatz in Frankreich. Zwischen beiden ergaben sich nicht näher aufklärbare finanzielle Verflechtungen, die zumindest ein wechselseitiges Sich-Aushelfen mit Geld und den Verkauf einer Play-Station zum Gegenstand hatten.

Ende Mai 2018 kühlte sich das Verhältnis zwischen dem Angeklagten und der Zeugin H. einerseits sowie andererseits dem Zeugen K. merklich ab. Gegenüber dem Zeugen K. schlug es schließlich in Verachtung und Feindseligkeit um. Grund hierfür war, dass der Angeklagte vom Zeugen 200 bis 500 Euro forderte, die dieser nicht bezahlte. Unabhängig von der objektiven Berechtigung dieser Forderung, lebte der Angeklagte jedenfalls in der Vorstellung, der Zeuge K. schulde ihm noch dieses Geld. Zudem nahm der Angeklagte an, der Zeuge habe eine sexuelle Beziehung zur Zeugin H., zumal da er nach wie vor deren Wohnung nutzte. Der Angeklagte wurde zunehmend eifersüchtig und fand sich in seinem Verdacht bestätigt, als er in der Wohnung der Zeugin ein benutztes Kondom entdeckte. Als der Zeuge anfing, den Kontakt mit dem Angeklagten zu meiden und eine Nachfrage wegen des Geldes unbeantwortet zu lassen, gelangte der Angeklagte zur Auffassung, er werde von dem Zeugen „auf ganzer Linie für dumm verkauft“ und entschloss sich, sich dies auf keinen Fall gefallen zu lassen, sondern seine Interessen mit Nachdruck durchzusetzen.

Der Angeklagte bedrohte den Zeugen zwischen dem 21. Juni und 2. Juli 2018 mit acht, teilweise im Minutenabstand gesendeten Textnachrichten, damit dieser die finanziellen Forderungen doch noch erfülle. Der Zeuge reagierte auf die Drohnachrichten nicht und leistete insbesondere nicht die vom Angeklagten beanspruchte Zahlung. Der Angeklagte kam resignierend zu der Erkenntnis, dass es ihm mit dieser Methode nicht gelingen werde, den Zeugen zur Zahlung zu bringen; er nahm von weiteren Drohungen Abstand. An seiner Wut wegen der unerledigten finanziellen Forderungen und der vermuteten sexuellen Beziehung zwischen dem Zeugen und der Zeugin H. änderte sich nichts.

Am 1. September 2018 sah der unter dem Einfluss von Alkohol und Betäubungsmitteln stehende Angeklagte, der mit dem Fahrrad unterwegs war, wie der Zeuge K. einkaufen ging und rief im die Worte „S., du Rattenassi!“ zu. Der Zeuge, der nun einen Angriff des Angeklagten befürchtete, ging beschleunigten Schrittes zum Einkaufsmarkt. Spätestens in diesem Moment verdichtete sich die bei dem Angeklagten ohnehin bestehende Wut auf den Zeugen und seine latente Bereitschaft, dem Zeugen sein vermeintliches Fehlverhalten heimzuzahlen, zu dem Entschluss eines handgreiflichen Angriffs. Der Angeklagte klappte ein mitgeführtes Messer auf, fuhr hinter dem Zeugen her und stach ihm mit bedingtem Tötungsvorsatz von hinten knapp unterhalb der Nieren in den Rücken. Die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten war dabei durch das Zusammenwirken einer Impulskontrollstörung mit dem Alkohol- und Betäubungsmittelkonsum nicht ausschließbar erheblich vermindert. Das Messer blieb stecken und der Zeuge ging durch die Wucht des Stiches zu Boden. Der vom Fahrrad gestiegene Angeklagte ging zu dem am Boden liegenden Zeugen. Als dieser sich plötzlich erhob und wegrannte, folgte ihm der Angeklagte zu Fuß, konnte ihn aber nicht einholen, weshalb er schließlich von der weiteren Verfolgung Abstand nahm. Durch den Stich kam es zu einer Verletzung des Dickdarms, die ohne die alsbald durchgeführte Notoperation konkret lebensgefährlich gewesen wäre.

2. Das Landgericht hat jede Textnachricht als eine Tat der Bedrohung angesehen und bei dem mit bedingtem Tötungsvorsatz geführten Messerstich das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe angenommen. Motiv des Angeklagten sei seine Wut auf den Zeugen wegen der Nichterfüllung der finanziellen Forderungen und des vermuteten Verhältnisses mit der Zeugin H. gewesen. Die Tat stehe in einem krassen Missverhältnis hierzu, nachvollziehbar sei allenfalls eine Körperverletzung wie ein Schlag auf die Nase. An der Motivlage ändere sich auch nichts dadurch, dass die tatsächliche Begehung der Tat durch die beim Angeklagten bestehende Impulskontrollstörung maßgeblich begünstigt worden sei. Denn ob und inwieweit sich der Angeklagte letztlich zwischen Begehung und Nicht-Begehung der Tat frei habe entscheiden können, habe keine Auswirkungen auf die Gefühle und Motive, die ihn dazu veranlasst hätten, die Möglichkeit der Tatbegehung überhaupt in Erwägung zu ziehen.

II.

1. Das Landgericht hat die Annahme des Mordmerkmals der niedrigen Beweggründe nicht tragfähig begründet.

a) Ein Beweggrund ist dann niedrig, wenn er nach allgemeiner sittlicher Würdigung auf tiefster Stufe steht und deshalb besonders verachtenswert ist. Die Beurteilung der Frage, ob ein Beweggrund „niedrig“ ist und - in deutlich weiterreichendem Maße als bei einem Totschlag - als verachtenswert erscheint, hat auf Grund einer Gesamtwürdigung aller äußeren und inneren für die Handlungsantriebe des Täters maßgeblichen Faktoren, insbesondere der Umstände der Tat, der Lebensverhältnisse des Täters und seiner Persönlichkeit zu erfolgen. Bei einer Tötung aus Wut, Ärger, Hass oder Rache kommt es darauf an, ob diese Antriebsregungen ihrerseits auf einer niedrigen Gesinnung beruhen (st. Rspr., vgl. nur BGH, Urteil vom 28. November 2018 - 5 StR 379/18, NStZ 2019, 206 mwN). Wut oder Verärgerung sind als niedrig einzustufen, wenn sie unter Berücksichtigung der Beziehung zwischen Täter und Opfer eines beachtlichen Grundes entbehren (vgl. MüKoStGB/Schneider, 3. Aufl., § 211 Rn. 73 mwN). Entscheidungserheblich sind demnach die Gründe, die den Täter in Wut oder Verzweiflung versetzt oder ihn zur Tötung aus Hass oder Eifersucht gebracht haben. Anzustellen ist eine Gesamtbetrachtung, die sowohl die näheren Umstände der Tat sowie deren Entstehungsgeschichte als auch die Persönlichkeit des Täters und dessen Beziehung zum Opfer einschließt (MüKoStGB/Schneider, aaO, Rn. 100 mwN).

In subjektiver Hinsicht muss hinzukommen, dass der Täter die Umstände, die die Niedrigkeit seiner Beweggründe ausmachen, in ihrer Bedeutung für die Tatausführung ins Bewusstsein aufgenommen hat und, soweit gefühlsmäßige oder triebhafte Regungen in Betracht kommen, diese gedanklich beherrschen und willensmäßig steuern kann. Dies ist nicht der Fall, wenn der Täter außer Stande ist, sich von seinen gefühlsmäßigen und triebhaften Regungen freizumachen (BGH, Beschluss vom 22. März 2017 - 2 StR 656/13, NStZ 2018, 527).

b) Nach diesen Maßstäben sind die Ausführungen des Landgerichts zum Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe lückenhaft, denn es mangelt an der gebotenen Gesamtwürdigung.

aa) Die Schwurgerichtskammer hat nicht näher geprüft, ob die Wut des Angeklagten auf sein Opfer ihrerseits auf einer niedrigen Gesinnung beruht, sondern sogleich auf das Missverhältnis zwischen Tat und Anlass abgestellt. Damit hat sie die gebotene Prüfung wesentlich verkürzt. Insbesondere bleibt unberücksichtigt, dass der Zeuge dem Angeklagten - jedenfalls aus dessen Sicht - seit geraumer Zeit eine nicht unerhebliche Summe Geld schuldete und sich verschiedenen Rückzahlungsansinnen entzogen hatte. Auch hat das Landgericht nicht in den Blick genommen, dass die Eifersucht des Angeklagten, der die Zeugin H. bei sich wohnen ließ, aus seiner Sicht nicht jeden vernünftigen Grundes entbehrte. Ob all dies geeignet ist, die Beweggründe des Angeklagten als auf einer niedrigen Gesinnung beruhend anzusehen, bedarf umfassender tatgerichtlicher Bewertung.

bb) Die erforderliche neue Gesamtbetrachtung bei der Prüfung niedriger Beweggründe wird dazu Anlass geben, auch die subjektive Seite des Mordmerkmals genauer als bislang in den Blick zu nehmen.

2. Der aufgezeigte Rechtsfehler führt zur Aufhebung des Schuldspruchs wegen versuchten Mordes und des an sich rechtsfehlerfrei getroffenen tateinheitlichen Schuldspruchs wegen gefährlicher Körperverletzung.

3. Nicht bestehen bleiben können auch die Schuldsprüche wegen Bedrohung in acht Fällen. Zum einen hat der Generalbundesanwalt zutreffend darauf hingewiesen, dass die konkurrenzrechtliche Bewertung bei denjenigen Textnachrichten zweifelhaft ist, die binnen weniger Minuten an einem Tag versandt wurden. Zum anderen liegt nach den Feststellungen des Landgerichts nahe, dass es sich ohnehin lediglich um eine Tat der (fehlgeschlagenen) versuchten Nötigung handelt, hinter der die Bedrohungstaten zurücktreten würden (vgl. BGH, Beschluss vom 11. März 2014 - 5 StR 20/14 mwN).

4. Um dem neuen Tatgericht widerspruchsfreie Feststellungen zur Motivlage des Angeklagten zu ermöglichen, können lediglich die Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen aufrecht erhalten bleiben. Insoweit bleibt die Revision des Angeklagten aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts erfolglos.

HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 1110

Externe Fundstellen: NJW 2019, 3464; NStZ 2019, 724; StV 2020, 104

Bearbeiter: Christian Becker