HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 1267
Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 100/21, Urteil v. 13.10.2021, HRRS 2021 Nr. 1267
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Köln vom 18. August 2020 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Kammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt. Hiergegen richtet sich die zuungunsten des Angeklagten eingelegte, auf die Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision der Staatsanwaltschaft. Das Rechtsmittel hat Erfolg.
Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
1. Nach dem Genuss von Alkohol sowie von geringen Mengen Marihuana und Kokain traf der Angeklagte am 25. August 2019 gegen 4.40 Uhr morgens in der K. Innenstadt auf den später Geschädigten A. Beide befanden sich in Begleitung mehrerer afrikanischer Landsleute. Alsbald entbrannte eine zunächst verbale Streitigkeit zwischen dem Angeklagten und dem Zeugen J., einem Begleiter des Geschädigten. Nach einem Kopfstoß des Angeklagten kam es mit J. zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung, die durch das beschwichtigende Eingreifen der Begleiter des J. vorübergehend geschlichtet wurde. Während der Angeklagte den Streit damit als beendet betrachtete, begann nunmehr der Geschädigte diesen verbal zu provozieren, um ihn dann im Rahmen von Handgreiflichkeiten zu verletzen. Bei der sich anschließenden Auseinandersetzung zwischen den beiden gewann der körperlich überlegene Angeklagte die Oberhand, bevor er von den um Deeskalation bemühten Begleitern des A. von dem auf dem Boden liegenden Geschädigten heruntergezogen wurde.
Wieder im Kreise seiner Begleiter zerschlug der Geschädigte eine Bierflasche, um sich unter Einsatz des abgebrochenen Flaschenhalses für die erlittene Schmach zu rächen. Auf Aufforderung eines Umstehenden nahm er jedoch von seinem Vorhaben Abstand und warf die zerbrochene Flasche weg. Nach einer kurzen Phase der Beruhigung kam es zu einer weiteren körperlichen Auseinandersetzung. Zunächst griff der Zeuge J. den Angeklagten erneut an, um sich für die Kopfnuss zu rächen. Auch der Geschädigte griff auf Seiten des J. in die Schlägerei mit dem Angeklagten ein, bevor die Streithähne durch das beherzte Eingreifen von Passanten wieder getrennt werden konnten. Daraufhin entfernte sich J. von dem Ort des Geschehens.
Der Angeklagte, der bei der Auseinandersetzung mit seinen beiden Kontrahenten eine größere Anzahl an Faustschlägen hatte einstecken müssen, wollte nun seinerseits die Sache nicht auf sich beruhen lassen. Zum Zorn gereizt fasste er den Entschluss, den durch die Streitschlichtungsbemühungen der Passanten abgelenkten Geschädigten in einem unbeobachteten Moment zu attackieren. Zu diesem Zweck zerschlug auch er eine Bierflasche und stach dem unbewaffneten Geschädigten den abgebrochenen Flaschenhals ohne Vorwarnung mit großer Wucht gezielt in den Hals, dabei dessen Tod billigend in Kauf nehmend. Der Angeklagte wollte dabei das Überraschungsmoment aufgrund der Ablenkung des Geschädigten und dessen daraus folgende Wehrlosigkeit ausnutzen. Der von dem Angriff vollkommen überraschte Geschädigte konnte keine Abwehr- bzw. Ausweichbemühungen mehr entfalten. Er verstarb noch am Tatort durch Verbluten aufgrund der Durchtrennung der Halsschlagader.
Die Blutalkoholkonzentration des Angeklagten zum Tatzeitpunkt betrug 1,53 ‰, diejenige des Geschädigten 2,21 ‰.
2. Das Landgericht hat den Angeklagten aufgrund dieser Feststellungen des Totschlags schuldig gesprochen; sein Handeln sei nicht durch Notwehr gerechtfertigt gewesen. Hingegen habe er keinen Mord begangen; das Merkmal der Heimtücke sei nicht erfüllt, da der Geschädigte im Tatzeitpunkt einen erheblichen Angriff auf seine körperliche Unversehrtheit besorgt habe und deshalb nicht arglos gewesen sei.
Das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft hat Erfolg.
1. Die Begründung, mit der das Landgericht die objektiven Voraussetzungen des Mordmerkmals der heimtückischen Begehungsweise verneint hat, beruht auf einer rechtsfehlerhaften Beweiswürdigung.
a) Arglos im Sinne heimtückischer Begehungsweise ist ein Tatopfer dann, wenn es bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs nicht mit einem gegen seine körperliche Unversehrtheit gerichteten schweren oder doch erheblichen Angriff rechnet (Senat, Beschluss vom 9. September 2020 - 2 StR 116/20, NStZ 2021, 162 mwN).
b) Für die Schwurgerichtskammer stand „außer Zweifel, dass der Geschädigte zum Zeitpunkt des Zerbrechens der Bierflasche und des Zustechens durch die Intervention des Zeugen B. abgelenkt war“. So habe der Geschädigte weder Abwehrverletzungen noch auf ein Ausweichen hindeutende Verletzungen aufgewiesen. Gleichwohl sei er nicht arglos gewesen, weil er aufgrund der vorangegangenen Auseinandersetzung zum Zeitpunkt des Zustechens einen erheblichen Angriff auf seine körperliche Unversehrtheit konkret besorgt habe. Er habe nicht davon ausgehen können, dass der Streit beigelegt gewesen sei.
c) Diese Beweiswürdigung begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Zwar ist die Beweiswürdigung Sache des Tatrichters und unterliegt nur eingeschränkter revisionsrechtlicher Kontrolle. Ein Urteil kann jedoch keinen Bestand haben, wenn die Beweiswürdigung lückenhaft ist, namentlich wesentliche Feststellungen nicht berücksichtigt oder naheliegende Schlussfolgerungen nicht erörtert werden (st. Rspr.; vgl. Senat, Beschluss vom 28. April 2020 - 2 StR 494/19, NStZ 2020, 693 mwN). Das ist hier der Fall:
Die Beweiswürdigung des Landgerichts ist in mehrfacher Hinsicht lückenhaft und widersprüchlich. Den Urteilsgründen kann nicht entnommen werden, dass das Tatgericht alle Umstände, die geeignet waren, seine Entscheidung zu beeinflussen, erkannt und in seine Überlegungen miteinbezogen hat. So stehen frühere Aggressionen und eine feindselige Atmosphäre der Annahme von Arglosigkeit grundsätzlich nicht entgegen; es kommt vielmehr darauf an, ob das Tatopfer gerade im Tatzeitpunkt mit Angriffen auf sein Leben gerechnet hat (vgl. BGH, Beschluss vom 11. November 2015 - 5 StR 259/15, NStZ-RR 2016, 72 mwN). Hier hat das Landgericht schon nicht erörtert, dass dem Angriff mit dem Flaschenhals zwar mehrere körperliche Auseinandersetzungen vorausgegangen waren, der Angeklagte sich bis dahin aber gegenüber dem Geschädigten stets defensiv verhalten hatte und nicht seinerseits als Angreifer aufgetreten war (vgl. etwa BGH, Urteil vom 20. Januar 2005 - 4 StR 491/04, NStZ 2005, 691, 692). Ebensowenig hat die Schwurgerichtskammer erwogen, dass dem tätlichen Angriff lediglich ein Faustkampf ohne Waffen vorausgegangen war und der Geschädigte deshalb nicht unbedingt mit dem Einsatz eines gefährlichen Werkzeugs durch den ihm körperlich überlegenen Angeklagten rechnen musste. Schließlich lassen sich die Feststellungen, der Geschädigte sei einerseits nicht arglos gewesen, andererseits jedoch von der Tat des Angeklagten „vollkommen überrascht“ gewesen nur schwerlich miteinander in Einklang bringen. Wieso der in ein Gespräch verwickelte und aufgrund des Überraschungsangriffs wehrlose Geschädigte den Angeklagten in der konkreten Situation nicht mehr beachtete, wenn er doch nach Ansicht des Landgerichts mit einem weiteren Angriff rechnete, wird nicht aufgelöst. Die Preisgabe von Verteidigungsmöglichkeiten stellt jedoch ein gewichtiges, erörterungsbedürftiges Indiz für eine Arglosigkeit dar (BGH, Urteil vom 15. November 2017 - 5 StR 338/17, NStZ 2018, 97 f.).
2. Auch zur inneren Tatseite der Heimtücke ist die Beweiswürdigung rechtsfehlerhaft, weil die Annahme, der Angeklagte habe gewusst, dass der Geschädigte nicht arglos war, nicht belegt ist.
a) An verschiedenen Stellen seines Urteils stellt das Landgericht fest, dass der Geschädigte - für den Angeklagten erkennbar - durch die Streitschlichtungsbemühungen des Zeugen B. abgelenkt war und ihm keine Aufmerksamkeit mehr schenkte. Das damit einhergehende Überraschungsmoment habe er für seinen ohne Vorwarnung geführten Angriff bewusst ausgenutzt, wobei er die Wehrlosigkeit des Geschädigten in diesem Moment erkannt habe. Es habe „keinerlei Anhaltspunkte für den Angeklagten, dass der Geschädigte mit einem Angriff mit einer abgebrochenen Glasflasche rechnen würde“, gegeben. Die bei dem Angeklagten zur Tatzeit vorgelegene Mischintoxikation habe seine Erkenntnismöglichkeiten nicht beeinträchtigt.
b) Unklar bleibt, wie das Landgericht seine Schlussfolgerung der Kenntnis des Angeklagten von der fehlenden Arglosigkeit des Getöteten getroffen hat. Vielmehr stehen sich die Urteilspassagen „es gab keinerlei Anhaltspunkte für den Angeklagten, dass der Geschädigte mit einem Angriff mit einer abgebrochenen Glasflasche rechnen würde“ sowie „er wusste, dass der Geschädigte aufgrund des vorangegangenen Geschehens nicht arglos war“, unvereinbar gegenüber.
3. Nach alledem kann der Schuldspruch „nur“ wegen Totschlags keinen Bestand haben. Die rechtsfehlerhafte Verneinung des Mordmerkmals „Heimtücke“ führt zur Aufhebung des Urteils und zur Zurückweisung an das Landgericht. Sollte der neue Tatrichter nicht die objektiven, sondern nur die subjektiven Voraussetzungen des Mordmerkmals der Heimtücke feststellen können, wird er eine Verurteilung wegen eines versuchten Mordes in Tateinheit mit Totschlag zu erwägen haben (vgl. MüKo-StGB/Schneider, 4. Aufl., § 211 Rn. 279).
HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 1267
Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß