HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1377
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 116/20, Beschluss v. 09.09.2020, HRRS 2020 Nr. 1377
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bonn vom 25. November 2019 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Mordes und Totschlags zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe als Gesamtstrafe verurteilt und die besondere Schwere der Schuld festgestellt. Die hiergegen gerichtete, auf die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat Erfolg.
Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
Der zur Tatzeit 29 Jahre alte Angeklagte lebte trotz seit Jahren bestehender familiärer Spannungen im Haus seiner Eltern. Nach langer Alkoholabhängigkeit hatte er im Frühjahr 2019 eine Entwöhnungsbehandlung absolviert und eine Umschulungsmaßnahme zur Wiedereingliederung in das Arbeitsleben begonnen. Kurz vor Ostern 2019 begann er wieder, Alkohol zu konsumieren. Am 29. April 2019 ließ er sich von seinem Hausarzt für zwei Tage krankschreiben und besuchte die Umschulungsmaßnahme nicht. Am Tattag, dem 30. April 2019, gab es zwischen dem Angeklagten und seinen Eltern mehrfach Auseinandersetzungen um die Vorlage der Krankmeldung beim Arbeitgeber. Als sein Vater ihn abends erneut darauf ansprach, fühlte sich der erheblich alkoholisierte Angeklagte unter Druck gesetzt, begab sich mit einem Klappmesser in das elterliche Schlafzimmer und tötete seinen arg- und wehrlosen Vater mit etwa 30 Messerstichen. Während seine Mutter telefonisch die Polizei alarmierte, attackierte der Angeklagte diese ebenfalls mit dem Messer und tötete sie mit zahlreichen Stichen. Zwei kurz darauf eingetroffene Polizeibeamte fanden den Angeklagten in seinem Zimmer sitzend und unverständlich vor sich hin murmelnd. Der Aufforderung der Beamten, sich fesseln zu lassen, kam er nicht nach und sperrte sich vehement gegen alle Versuche einer Fixierung. Trotz Einsatzes von Pfefferspray konnten ihn die Polizisten nicht davon abhalten, aus dem Haus zu gehen. Der Angeklagte lief mit nach vorn gestreckten Armen ruhig die Straße entlang und beschwor „alle Asen“. Zu den ihn verfolgenden Beamten drehte er sich teilweise um, beachtete sie aber im Übrigen nicht weiter. Er konnte schließlich durch massiven Gewalteinsatz von vier Polizeibeamten am Boden fixiert werden. Kurz darauf äußerte der Angeklagte, ob man von ihm heruntergehen könne und was denn los sei. Im Einsatzwagen fragte er, was passiert sei, er habe nur ein paar Bier getrunken und könne sich danach an nichts mehr erinnern.
Seine Annahme, der Angeklagte habe die Arg- und Wehrlosigkeit seines Vaters erkannt und bewusst ausgenutzt, hat das Landgericht damit begründet, dass die Lage des Opfers für den „durchschnittlich intelligenten Angeklagten offensichtlich“ gewesen sei. Der Angeklagte sei „nicht nur zur gezielten Tatausführung in der Lage [gewesen], sondern konnte währenddessen auch auf die erhebliche Gegenwehr seines Vaters reagieren und anschließend noch seine Mutter angreifen“. Im Anschluss an den Sachverständigen hat die Strafkammer im Rahmen der Beurteilung der Schuldfähigkeit das Vorliegen eines affektiven Durchbruchs abgelehnt. Zur Begründung hat sie ausgeführt, dass ein solcher „in aller Regel Intimbeziehungen vorgelagert“ sei. Außerdem sei der klassische Affekttäter eine besonders ruhige Person, die Aggressionen typischerweise unterdrücke, die sich dann im rechtwinklig verlaufenden Affekt entladen würden. Ebenso rechtwinklig falle der Affekttäter nach der Tat in aller Regel in sein übliches Persönlichkeitsmuster zurück und zeige eine erhebliche emotionale Erschütterung über die Tat. Dies offenbare sich typischerweise in einer großen emotionalen Krise und Verzweiflungsakten im Anschluss an die Tat, wie vergeblichen Rettungsbemühungen und ähnlichem. Hiergegen spreche beim Angeklagten „also nicht nur der fehlende vorangegangene sexuelle Kontakt zu seinen Opfern, sondern gerade auch, dass es zwei Opfer waren und ein mehraktiges Geschehen. Zudem sei weder eine gravierende Erschütterung im Nachtatverhalten zu erkennen noch die Bemühung, die Taten ungeschehen zu machen.“
Die Würdigung des Landgerichts, der Angeklagte habe bei der Tötung seines Vaters heimtückisch im Sinne des § 211 Abs. 2 StGB gehandelt, hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
1. Heimtückisch handelt, wer in feindlicher Willensrichtung die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zu dessen Tötung ausnutzt. Arglos ist das Tatopfer, wenn es bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs nicht mit einem gegen seine körperliche Unversehrtheit gerichteten schweren oder doch erheblichen Angriff rechnet. Das Opfer muss weiter gerade aufgrund seiner Arglosigkeit wehrlos sein. Arg- und Wehrlosigkeit können auch gegeben sein, wenn der Tat eine feindselige Auseinandersetzung vorausgeht, das Tatopfer aber nicht (mehr) mit einem erheblichen Angriff gegen seine körperliche Unversehrtheit rechnet. Voraussetzung heimtückischer Begehungsweise ist weiter, dass der Täter die von ihm erkannte Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zur Tatbegehung ausnutzt (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 16. August 2018 - 1 StR 370/18, NStZ 2019, 142 mwN).
2. Zwar ist die Strafkammer im Ausgangspunkt zutreffend davon ausgegangen, dass der Vater des Angeklagten zum Zeitpunkt des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs arg- und wehrlos war. Indes beruht die Feststellung der Strafkammer, der Angeklagte habe die Arg- und Wehrlosigkeit erkannt und zur Tatbegehung ausgenutzt, nicht auf einer sie tragenden Beweiswürdigung.
a) Für das bewusste Ausnutzen der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers ist es erforderlich, dass der Täter die Umstände, die die Tötung zu einer heimtückischen machen, nicht nur an sich wahrgenommen, sondern in dem Sinne in ihrer Bedeutung für die Tatbegehung erfasst hat, dass ihm bewusst geworden ist, einen durch seine Ahnungslosigkeit gegenüber einem Angriff schutzlosen Menschen zu überraschen (st. Rspr.; vgl. nur Senat, Urteil vom 14. Juni 2017 - 2 StR 10/17, NStZ-RR 2017, 278, 279 mwN). Wenn auch nicht jede affektive Erregung oder heftige Gemütsbewegung einen Täter daran hindert, die Bedeutung der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers für die Tatbegehung zu erkennen, so kann doch insbesondere die Spontanität des Tatentschlusses im Zusammenhang mit der Vorgeschichte der Tat und dem psychischen Zustand des Täters ein Beweisanzeichen dafür sein, dass ihm das Ausnutzungsbewusstsein fehlte (BGH, Urteil vom 15. November 2017 - 5 StR 338/17, NStZ-RR 2018, 45, 47 und Beschluss vom 16. Mai 2018 - 1 StR 123/18, juris Rn. 7). Dasselbe gilt für eine - erhebliche - Alkoholisierung des Täters. Deshalb bedarf es in solchen Fällen in aller Regel der Darlegung der Beweisanzeichen, aus denen der Tatrichter folgert, dass der Täter trotz seiner Alkoholisierung und Erregung die für die Heimtücke maßgebenden Gesichtspunkte in sein Bewusstsein aufgenommen hat (BGH, Urteil vom 9. Februar 2000 - 3 StR 392/99, NStZ-RR 2000, 166, 167).
b) Den sich hieraus ergebenden Anforderungen an eine umfassende Beweiswürdigung genügen die Urteilsgründe nicht.
Das Landgericht hat in seine Prüfung nicht erkennbar einbezogen, dass der Angeklagte das Verhältnis zu seinen Eltern „bereits seit seiner Grundschulzeit als angespannt empfand“ und zwischen ihm und seinen Eltern am Tattag aufgrund deren wiederholten Ermahnungen eine gespannte Atmosphäre herrschte. Unmittelbar vor der Tat wurde der Angeklagte von seinem Vater „vehement dazu aufgefordert, die Bescheinigung vorzulegen“. Zudem lag bei einer Blutalkoholkonzentration von 1,91 Promille eine nicht unerhebliche Alkoholisierung sowie eine Mischintoxikation mit Cannabis vor. Auch den Umstand, dass der Angeklagte etwa 30 Mal auf Brust, Hals und Nacken seines Vaters einstach, hat die Strafkammer nicht erörtert. Schließlich hätte das Landgericht auch das für das Vorliegen eines psychischen Ausnahmezustands sprechende Nachtatverhalten in den Blick nehmen müssen, das sie an anderer Stelle selbst als „durchaus befremdlich wirkend“ und „teilweise situationsinadäquat“ gewertet hat. Soweit das Landgericht im Anschluss an den Sachverständigen davon ausgeht, dass einem affektiven Durchbruch „in aller Regel Intimbeziehungen“ vorgelagert seien, hat es sich zudem den Blick dafür verstellt, dass es auch außerhalb von Partnerkonstellationen zu Affektdelikten kommen kann (vgl. etwa Senat, Beschluss vom 7. Mai 2008 - 2 StR 175/08, NStZ 2008, 618 f.; BGH, Beschluss vom 20. Juli 2011 - 5 StR 246/11, StV 2012, 88).
3. Dieser Rechtsfehler führt zur Aufhebung des Schuldspruchs wegen Mordes. Der Senat hat wegen des eng zusammenhängenden Tatgeschehens auch den weiteren Schuldspruch mit sämtlichen Feststellungen aufgehoben, um dem neuen Tatrichter - naheliegend unter Hinzuziehung eines anderen psychiatrischen Sachverständigen - umfassende eigene, in sich widerspruchsfreie Feststellungen zu ermöglichen.
HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 1377
Externe Fundstellen: NJW 2021, 871; NStZ 2021, 162; StV 2021, 108
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner