HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 607
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, AK 9/20, Beschluss v. 23.04.2020, HRRS 2020 Nr. 607
Die Untersuchungshaft hat fortzudauern.
Eine etwa erforderliche weitere Haftprüfung durch den Bundesgerichtshof findet in drei Monaten statt.
Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem Oberlandesgericht Naumburg übertragen.
Der Angeschuldigte wurde am 9. Oktober 2019 vorläufig festgenommen und befindet sich seit dem 10. Oktober 2019 ununterbrochen in Untersuchungshaft aufgrund des Haftbefehls des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom selben Tag (1 BGs 326/19).
Gegenstand des Haftbefehls ist der Vorwurf, der Angeschuldigte habe am 9. Oktober 2019 in H. in zwei Fällen heimtückisch und aus niedrigen Beweggründen einen Menschen getötet sowie dies in sieben weiteren Fällen versucht, strafbar als Verbrechen gemäß § 211 Abs. 2 Variante 4 und 5, §§ 22, 23 Abs. 1, §§ 52, 53 Abs. 1 StGB.
Der Generalbundesanwalt hat mit Anklageschrift vom 3. April 2020 - unter Beschränkung der Strafverfolgung - Anklage zum Oberlandesgericht Naumburg vor allem wegen des dem Haftbefehl zugrundeliegenden Lebenssachverhalts erhoben und diesen dabei rechtlich teilweise abweichend gewürdigt. Er ist insgesamt von einer Strafbarkeit wegen Volksverhetzung in zwei tateinheitlichen Fällen, Mordes, Mordes in Tateinheit mit versuchtem Mord in vier tateinheitlich zusammentreffenden Fällen, versuchten Mordes in sechs Fällen - diese teils in mehreren tateinheitlich zusammentreffenden Fällen -, fahrlässiger Körperverletzung in Tateinheit mit Gefährdung des Straßenverkehrs und mit verbotenem Kraftfahrzeugrennen, versuchten Mordes in zwei Fällen jeweils in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und mit versuchter räuberischer Erpressung mit Todesfolge sowie wegen besonders schwerer räuberischer Erpressung ausgegangen.
Die Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus liegen vor.
1. Nach dem gegenwärtigen Ermittlungsstand ist im Sinne eines dringenden Tatverdachts - in Bezug auf das im Haftbefehl niedergelegte Geschehen - von folgendem Sachverhalt auszugehen:
a) Der Angeschuldigte beabsichtigte, am 9. Oktober 2019 in die Synagoge in H. einzudringen und dort möglichst viele Menschen zu töten. Hierzu hatte er bereits seit mehreren Monaten Vorbereitungen getroffen, unter anderem verschiedene Spreng- sowie Brandvorrichtungen hergestellt, und bewusst das jüdische Fest Jom Kippur als Tattag ausgewählt. Beweggrund für ihn war, etwas gegen „die Juden“, die er als Feinde betrachtet, zu unternehmen und Gleichgesinnten länderübergreifend ein Beispiel zu geben. Hierzu befestigte er an dem von ihm bei der Tat getragenen Helm ein Mobiltelefon, mit dem er das Geschehen aufnahm sowie über ein Videoportal veröffentlichte, und nutzte überdies eine weitere an der Kleidung fixierte Kleinkamera („Action-Cam“).
Am Tattag fuhr der Angeschuldigte mit einem für die Tat gemieteten Pkw, in dem er diverse, zumeist selbst hergestellte Waffen und Sprengmittel verstaut hatte, gegen 12 Uhr zur Synagoge, in der sich rund fünfzig Menschen befanden. Das Gebäude war ebenso wie der danebengelegene jüdische Friedhof von einer Mauer umgeben. Der Versuch des Angeschuldigten, die Synagoge mit zwei Langwaffen zu betreten und mit den Waffen sogleich eine möglichst große Zahl von Menschen zu töten, scheiterte daran, dass die Eingänge zu dem Gelände, anders als von ihm erhofft, verschlossen waren. Daher konnte er seine Alternativüberlegung, Brandsätze in das Gebäude zu werfen, ebenfalls nicht umsetzen.
Er bemühte sich im Folgenden letztlich vergeblich, Zugang zur Synagoge zu erhalten, um sein Ziel noch verwirklichen zu können. Er warf zunächst eine „Granate“ zu dem Zweck über die Umfassungsmauer, entweder nach Möglichkeit jemanden zu töten oder die Versammelten dazu zu veranlassen herauszukommen und diese dann erschießen zu können. Daraufhin platzierte er einen weiteren Sprengkörper im Türspalt des Einfahrtstores.
b) Kurz nach der Explosion des Sprengkörpers fragte eine Passantin den Angeschuldigten, ob das sein müsse, wenn sie dort entlanggehe. Als sie bereits weitergegangen war und sich keines Angriffs auf sie versah, schoss er ihr unter bewusster Ausnutzung dieses Umstands vor Wut über die Störung mit einem Feuerstoß von vier Schuss in den Rücken. Nachdem er zwischenzeitlich nochmals erfolglos versucht hatte, das Einfahrtstor gewaltsam zu öffnen, gab er einen weiteren Feuerstoß mit elf Schuss auf die reglos am Boden Liegende ab. Sie verstarb noch vor Ort.
c) Während der Angeschuldigte sich weiter mühte, in die Synagoge zu gelangen, hielt ein Kurierfahrer in Nähe der Getöteten an. Er stieg aus seinem Kleinlieferwagen aus, ohne den Angeschuldigten zu bemerken. Dieser zielte mit einer Schusswaffe auf den Kurier. Obschon er den Abzug betätigte, löste sich kein Schuss, selbst nachdem er zwischendurch versucht hatte, die Störung zu beheben. Der Angegangene stieg in sein Fahrzeug und fuhr davon.
d) Der Angeschuldigte wandte sich wieder der Synagoge zu, gab - nach anfangs vergeblichem Bemühen - wiederholt Schüsse auf eine der in der Umgebungsmauer gelegenen Türen ab und trat dagegen. Als die Tür nicht nachgab, entzündete er mehrere Brandsätze und warf sie mit dem Ziel über die Mauer, Gegenstände in der Nähe der Synagoge und möglichst diese selbst in Brand zu setzen. Er erkannte schließlich, dass er mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln nicht in die Synagoge gelangen sowie seine Absicht, die darin befindlichen Menschen zu töten, nicht verwirklichen konnte, und sah sein Vorhaben endgültig als gescheitert an; ein Überklettern der Mauer zog er nicht in Betracht. Er setzte sich in seinen Pkw und fuhr davon.
Unterwegs fiel ihm zufällig ein Dönerimbiss auf, und er entschloss sich, nunmehr dort Menschen zu töten, die er für ihm verhasste Muslime hielt. Als er aus dem Auto ausgestiegen war und eine Sprengvorrichtung geworfen hatte, schoss er auf einen in der Eingangstür des Imbisses stehenden Gast. Wie er wusste und ausnutzte, rechnete dieser nicht mit einem Angriff und war daher nicht zur Gegenwehr bereit. Der Angegriffene flüchtete in das Lokal, der Angeschuldigte folgte.
Dort zielte der Angeschuldigte auf einen weiteren Gast und betätigte den Abzug, konnte aber wegen einer Störung der Waffe keinen Schuss abgeben. Der Anvisierte brachte sich im hinteren Bereich des Lokals in Sicherheit, während der Angeschuldigte nochmals auf ihn zu schießen versuchte.
Der Angeschuldigte wandte sich erneut dem anfangs im Eingang stehenden Gast zu, der hinter einem Getränkekühlschrank Schutz gesucht hatte. Er versuchte, aus nächster Nähe auf diesen zu schießen, was wegen der Funktionsstörung der Waffe misslang. Er bemühte sich, die Störung zu beseitigen und sodann in Richtung des Schutzsuchenden sowie eines weiteren Gastes zu schießen. Dies scheiterte, so dass sich der weitere Gast in den hinteren Bereich des Imbisses zurückziehen konnte. Zwei andere Personen hatten sich ebenfalls in Sicherheit gebracht.
Nach weiteren vergeblichen Schussversuchen wechselte der Angeschuldigte die Waffe, näherte sich dem zwischen zwei Getränkekühlschränken kauernden Gast und gab auf ihn einen Schuss aus unmittelbarer Nähe ab.
e) Der Angeschuldigte begab sich zu seinem Fahrzeug und holte dort eine weitere Schusswaffe. Als an ihm ein Passant vorbeiging, lud er die Waffe, legte auf diesen an und gab einen Schuss ab. Er traf den in geduckter Haltung schnell weglaufenden Mann jedoch nicht.
f) Der Angeschuldigte fuhr ein Stück mit dem Pkw, drehte um, parkte erneut in der Nähe des Imbisses und stieg mitsamt einer Schrotflinte wieder aus. Als ihn zwei von einer Baustelle kommende Arbeiter sahen und die Flucht ergriffen, folgte er ihnen und gab mehrere Schüsse in ihre Richtung ab. Sie blieben unverletzt.
g) Der Angeschuldigte betrat abermals den Imbiss, ging direkt zu dem an unveränderter Stelle zwischen den Kühlschränken liegenden, noch lebenden Geschädigten und schoss wiederholt auf ihn, um ihn zu töten. Dieser verstarb infolge mehrfacher Herz- und Lungendurchschüsse.
h) Sodann ging der Angeschuldigte zum Wagen und fuhr los. Kurz darauf hielt er an, als ihm ein mit drei Polizeibeamten besetzter Funkstreifenwagen entgegenkam. Zudem waren zwei weitere Beamte in einem zivilen Fahrzeug vor Ort. Der Angeschuldigte stieg mit einer Waffe aus und gab mehrere Schüsse in Richtung der rund siebzig Meter entfernten Beamten ab, deren Tod er zumindest billigend in Kauf nahm. Obschon er selbst durch den Schuss eines Polizeibeamten am Hals verletzt wurde, konnte er seinen Pkw besteigen und fortfahren.
i) Der Angeschuldigte wollte sich ein anderes Fahrzeug beschaffen, da er im Rahmen der Schüsse auf das erste Opfer versehentlich seinen eigenen Pkw getroffen und zwei Reifen beschädigt hatte. Dazu bedrohte er in L. an einem Hof einen dort Wohnenden mit einer Pistole und forderte diesen auf, ihm den Schlüssel für einen abgestellten VW Polo zu geben. Als der Angesprochene erwiderte, keinen Schlüssel zu haben, schoss der Angeschuldigte auf ihn und verletzte ihn im Bereich der Nackenweichteile. Als die Freundin des Geschädigten hinzukam, gab er auf sie ebenfalls einen Schuss ab, der sie im linken Schenkelhals traf. Die Geschosse wurden jeweils operativ entfernt.
j) Der Angeschuldigte setzte seine Flucht zunächst zu Fuß fort, bis er sich bei einer Werkstatt eines fremden Fahrzeugs bemächtigte und damit weiter flüchtete. Gegen 13:40 Uhr wurde er schließlich - nach einem Unfall in einem Baustellenbereich - festgenommen.
2. Der dringende Tatverdacht beruht auf den insgesamt geständigen Angaben des Angeschuldigten gegenüber dem Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs sowie dem psychiatrischen Sachverständigen und in verschiedenen polizeilichen Vernehmungen. Die Einlassung wird gestützt durch das umfangreiche weitere bisherige Ergebnis der Ermittlungen, insbesondere die Auswertung der von der Tat gefertigten Videoaufnahmen und weiterer vom Angeschuldigten herrührender Daten, eine Vielzahl von Zeugenaussagen, rechtsmedizinische Untersuchungen sowie die sichergestellten Waffen.
Der Angeschuldigte hat sich weitgehend auch zur inneren Tatseite geäußert. Im Übrigen ergibt sich diese aus dem äußeren Hergang.
Nach einer vorläufigen Bewertung aufgrund eines schriftlichen psychiatrischen Gutachtens ist nicht ersichtlich, dass die Fähigkeit des Angeschuldigten, das Unrecht seiner Taten einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln, bei den Taten aufgehoben war.
3. In rechtlicher Hinsicht folgt daraus, dass sich der Angeschuldigte mit hoher Wahrscheinlichkeit jedenfalls wegen Mordes (§ 211 Abs. 2 StGB) in zwei Fällen und versuchten Mordes in mehreren Fällen (§ 211 Abs. 2, §§ 22, 23 Abs. 1 StGB) strafbar gemacht hat. Für die hier zu entscheidende Frage der Haftfortdauer kommt es auf die darüber hinaus verwirklichten Delikte nicht maßgeblich an.
a) Nach dem derzeit zugrunde zu legenden Geschehen tötete der Angeschuldigte die Passantin an der Synagoge und den Gast des Imbisses heimtückisch. Er nutzte ihre Arg- und Wehrlosigkeit bewusst aus. Beide versahen sich jeweils zum Zeitpunkt des ersten mit Tötungsvorsatz gegen sie geführten Angriffs keines solchen. Auch wenn der Angeschuldigte die Tötungen, anders als die beabsichtigte Tat in der Synagoge, nicht zuvor näher geplant hatte und die Opfer spontan auswählte, ergibt sich nach vorläufiger Würdigung nicht, dass ihm das Ausnutzungsbewusstsein fehlte (s. allgemein BGH, Urteil vom 29. Januar 2015 - 4 StR 433/14, NStZ 2015, 392, 393). Die Tötung unbeteiligter Menschen nahm er, wie auch im vorläufigen schriftlichen psychiatrischen Gutachten ausgeführt, im Rahmen des von ihm als „Kampf“ verstandenen Geschehens generell in Kauf.
Vor diesem Hintergrund bestehen überdies keine Bedenken gegen die im Haftbefehl vorgenommene Bewertung, der Angeschuldigte habe zudem aus niedrigen Beweggründen im Sinne des § 211 Abs. 2 StGB getötet; denn sein Handeln war politisch motiviert (vgl. dazu etwa BGH, Beschluss vom 2. Mai 2018 - 3 StR 355/17, NStZ 2019, 342 Rn. 12 mit kritischer Anmerkung Engländer). Außerdem war er darüber verärgert, dass er seinen ursprünglichen Plan nicht umsetzen konnte, und wählte seine Opfer willkürlich aus (s. BGH, Urteil vom 15. September 2015 - 5 StR 222/15, NStZ 2015, 690, 691 mwN).
b) Die vom Angeschuldigten beabsichtigte Tötung von arglosen Synagogenbesuchern beruhte ersichtlich auf niedrigen Beweggründen. Ferner hatte er nach seiner Vorstellung bereits unmittelbar zu einer auf Verwirklichung seiner Tötungsabsicht gerichteten Handlung im Sinne des § 22 StGB angesetzt.
Ein unmittelbares Ansetzen liegt nicht erst dann vor, wenn der Täter bereits ein Merkmal des gesetzlichen Tatbestands verwirklichte. In den Bereich des Versuchs einbezogen ist ein für sich gesehen noch nicht tatbestandsmäßiges Handeln, soweit es nach der Vorstellung des Täters der Verwirklichung eines Tatbestandsmerkmals räumlich und zeitlich unmittelbar vorgelagert ist oder nach dem Tatplan im ungestörten Fortgang ohne Zwischenakte in die Tatbestandsverwirklichung einmünden soll. Diese abstrakten Maßstäbe bedürfen angesichts der Vielzahl denkbarer Sachverhaltsgestaltungen stets der wertenden Konkretisierung unter Beachtung der Umstände des Einzelfalles. Ein wesentliches Abgrenzungskriterium ist das aus der Sicht des Täters erreichte Maß konkreter Gefährdung des geschützten Rechtsguts. Die Dichte des Tatplans kann für die Abgrenzung zwischen Vorbereitungs- und Versuchsstadium ebenfalls Bedeutung gewinnen. So sind Handlungen, die keinen tatbestandsfremden Zwecken dienen, sondern wegen ihrer notwendigen Zusammengehörigkeit mit der Tathandlung nach dem Plan des Täters als deren Bestandteil erscheinen, weil sie an diese zeitlich und räumlich angrenzen und mit ihr im Falle der Ausführung eine natürliche Einheit bilden, nicht als der Annahme unmittelbaren Ansetzens entgegenstehende Zwischenakte anzusehen (BGH, Urteil vom 20. März 2014 - 3 StR 424/13, BGHR StGB § 22 Ansetzen 38 Rn. 8 f.).
Gemessen daran ist ein unmittelbares Ansetzen dem gegenwärtigen Sachstand zufolge gegeben. Der Angeschuldigte plante, sofort mit dem Betreten der Synagoge beliebige Menschen zu töten. Die Bemühungen, in das Gebäude zu gelangen, sollten unmittelbar in die Tatbestandsausführung münden (vgl. zum vorab geplanten Öffnen einer Tür BGH, Urteil vom 9. März 2006 - 3 StR 28/06, BGHR StGB § 22 Ansetzen 34 Rn. 5). Eine zeitliche oder räumliche Zäsur war vom Angeschuldigten nicht beabsichtigt. Er befand sich infolge seines Bemühens, Zugang zum Gelände zu erhalten, eigener Einschätzung nach bereits im „Kampfmodus“ und hatte demnach subjektiv die Schwelle zum „jetzt geht es los“ überschritten. Als er sich keinen Einlass verschaffen konnte, griff er ohne Weiteres auf eine zuvor in Betracht gezogene Tatvariante zurück und warf Brandsätze über die Mauer. Im Übrigen bestand eine erhöhte Gefährdung der in der Synagoge Versammelten, weil die Tür zur Synagoge zunächst unverschlossen war und der Angeschuldigte nach einem Zutritt zum Gelände ohne Weiteres in das Gebäude hätte gelangen sowie seinen Tatplan hätte umsetzen können.
c) Mit Blick darauf, dass im Haftbefehl die dort angenommenen weiteren Fälle des versuchten Mordes dem Tatgeschehen nicht näher zugeordnet werden, besteht insoweit kein Anlass zu näheren Ausführungen. Für die Haftfortdauer können die Verwirklichung zusätzlicher Mordmerkmale oder weiterer Tatbestände sowie die konkurrenzrechtliche Bewertung des versuchten Mordes einer Vielzahl von Synagogenbesuchern gleichfalls dahinstehen.
4. Die Ermittlungszuständigkeit des Generalbundesanwalts und die Zuständigkeit des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs zum Erlass des Haftbefehls folgen aus § 142a Abs. 1 Satz 1 und 2, § 120 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Buchst. a GVG, § 169 Abs. 1 StPO.
a) Die Katalogtat des (teils versuchten) Mordes ist nach den konkreten Umständen geeignet, die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland zu beeinträchtigen.
Die innere Sicherheit kann bereits dann beeinträchtigt sein, wenn die Tat Auswirkungen auf den inneren Frieden der Bundesrepublik Deutschland in einer Weise hat, die über die Verletzung der Rechtsgüter einzelner Personen und die dadurch hervorgerufene Gefährdung der öffentlichen Sicherheit erheblich hinausgehen (BGH, Beschluss vom 12. Januar 2000 - StB 15/99, BGHR GVG § 120 Abs. 2 Nr. 3a Sicherheit 1). Hierbei ist unter anderem zu berücksichtigen, ob sich Straftaten auch gegen die auf Toleranz gegenüber Menschen unterschiedlicher Rassen, Sprachen sowie religiöser und politischer Anschauungen aufbauende Wertentscheidung des Grundgesetzes richten, weil die Opfer lediglich als Repräsentanten der den Tätern verhassten Gruppe angegriffen werden. Hierdurch kann zum einen das friedliche Zusammenleben empfindlich gestört, zum anderen in der Öffentlichkeit ein allgemeines Klima der Angst und Einschüchterung hervorgerufen werden. Ferner besteht die Gefahr von Nachahmungseffekten (vgl. zu allem BGH, Beschluss vom 12. Januar 2000 - StB 15/99, BGHR GVG § 120 Abs. 2 Nr. 3a Sicherheit 1; Urteil vom 22. Dezember 2000 - 3 StR 378/00, BGHSt 46, 238, 251 f.).
Danach ist eine entsprechende Eignung gegeben. Der Angeschuldigte wählte sowohl die in der Synagoge versammelten als auch die sich am Dönerimbiss aufhaltenden Menschen als Opfer aus, weil sie nach seiner Ansicht jeweils einer von ihm verhassten religiösen Gruppe angehörten. Er hatte sein Vorgehen bewusst darauf angelegt, ihm ähnlich gesonnene Personen zu motivieren. Die Taten haben deutlich über den örtlichen Bereich hinaus Aufmerksamkeit gefunden und Zweifel an einem ausreichenden Schutz insbesondere jüdischer Mitbürger vor willkürlichen tätlichen Angriffen genährt.
b) Eine besondere Bedeutung im Sinne des § 120 Abs. 2 Satz 1 aE GVG ist nach einer Gesamtwürdigung der Umstände und Auswirkungen der Taten unter besonderer Berücksichtigung des Gewichts der Angriffe auf das betroffene Rechtsgut des Gesamtstaats gegeben (s. zum Maßstab BGH, Urteil vom 22. Dezember 2000 - 3 StR 378/00, BGHSt 46, 238, 253 f.).
5. Es besteht der Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO sowie - auch bei der gebotenen restriktiven Auslegung des § 112 Abs. 3 StPO (s. BGH, Beschluss vom 24. Januar 2019 - AK 57/18, juris Rn. 30 ff.) - derjenige der Schwerkriminalität. Für den Angeschuldigten besteht angesichts der ihm drohenden Rechtsfolgen ein erheblicher Fluchtanreiz. Dieser wird nicht durch andere Umstände wesentlich herabgesetzt, zumal der Angeschuldigte an seinen zu den Taten führenden Überzeugungen noch im Gespräch mit dem psychiatrischen Sachverständigen festhielt und bei den Taten die Einstellung vertrat, lieber im Kampf zu sterben als den Rest seines Lebens im Gefängnis zu verbringen.
6. Der Umfang der Ermittlungen hat ein Urteil bislang noch nicht zugelassen und rechtfertigt die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus (§ 121 Abs. 1, § 122 Abs. 4 Satz 2 StPO).
Angesichts der zahlreichen Geschädigten, der verschiedenen Tatorte und der Anzahl der unterschiedlichen eingesetzten Waffen sowie Sprengsätze waren eine Vielzahl von Untersuchungen durchzuführen. Zudem sind hunderte Zeugen vernommen worden. Ein ausführliches psychiatrisches Gutachten über den Angeschuldigten, das im November 2019 in Auftrag gegeben worden ist, ist im März 2020 eingegangen. Die Sachakten umfassen mehr als 20.000 Seiten. Trotz dieses Umfangs hat der Generalbundesanwalt bereits unter dem 3. April 2020 Anklage erhoben.
7. Die Untersuchungshaft steht nach Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Angeschuldigten einerseits sowie dem Strafverfolgungsinteresse der Allgemeinheit andererseits nicht zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe außer Verhältnis (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO). Dies gilt auch in Anbetracht dessen, was der Angeschuldigte in seinem Schreiben vom 10. April 2020 vorgebracht hat.
HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 607
Bearbeiter: Christian Becker