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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 991

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 337/20, Urteil v. 23.06.2021, HRRS 2021 Nr. 991


BGH 2 StR 337/20 - Urteil vom 23. Juni 2021 (LG Aachen)

Beweiswürdigung (beschränkte Revisibilität; Identifikation als Täter).

§ 261 StPO

Entscheidungstenor

Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Aachen vom 23. Januar 2020 mit den Feststellungen insoweit aufgehoben, als der Angeklagte im Fall 2 der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Aachen vom 24. September 2018 freigesprochen wurde.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten freigesprochen. Mit ihrer Revision beanstandet die Staatsanwaltschaft den Freispruch im Fall 2 der Anklage. Sie rügt die Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das Rechtsmittel hat im Umfang der Anfechtung Erfolg.

I.

In Fall 2 der zugelassenen Anklage der Staatsanwaltschaft Aachen vom 24. September 2018 wird dem Angeklagten zur Last gelegt, am 20. Juni 2018 mit drei nicht identifizierten Tatbeteiligten den Geschädigten in dessen Shisha-Bar in K. aufgesucht und ihn zur Zahlung von „Schutzgeld“ in nicht bekannter Höhe aufgefordert zu haben. Auf die Weigerung des Geschädigten habe der Angeklagte, um seiner (unberechtigten) Forderung Nachdruck zu verleihen, eine mitgeführte halbautomatische Schusswaffe gezogen und damit den Geschädigten bedroht, während die weiteren Tatbeteiligten auf diesen körperlich einwirkten. Im Verlauf des sich hieraus ergebenden Handgemenges habe sich ein Schuss aus der vom Angeklagten geführten Waffe gelöst, den Geschädigten am Oberschenkel getroffen und zu einem Oberschenkeldurchschuss geführt. Anschließend sei der Geschädigte vom Angeklagten und den weiteren Tatbeteiligten auf die Motorhaube eines Pkw gedrückt und gewürgt worden. Die Täter hätten schließlich vom Geschädigten abgelassen und seien mit einem silbernen Pkw mit vermutlich belgischem Kennzeichen weggefahren.

II.

Die Strafkammer hat festgestellt, dass sich am 20. Juni 2018 ein Vorfall wie in der Anklage geschildert ereignet habe, bei dem der Geschädigte einen Oberschenkeldurchschuss erlitten hat. Das festgestellte Tatgeschehen stützt die Strafkammer auf die Videoaufzeichnung zweier Überwachungskameras in der Shisha-Bar des Geschädigten und die damit übereinstimmende Tatschilderung der Zeugin A. Sie geht ferner davon aus, dass die Person, die bei der Tat ein blaues T-Shirt getragen hat, auch diejenige war, die die Waffe hatte und schoss; dies hatte die Zeugin A. „konstant in allen Vernehmungen geschildert“. Ausweislich der Urteilsgründe hat die anthropologische Sachverständige eine Identität dieser Person mit dem Angeklagten für möglich erachtet; die Zeugin A. hat diese Person im Ermittlungsverfahren bei einer Wahllichtbildvorlage als den Anklagten identifiziert.

Die Strafkammer hat sich nicht davon zu überzeugen vermocht, dass der Angeklagte an der Tat beteiligt war. Zwar seien die Angaben der Zeugin A. in der Hauptverhandlung, wonach sie den Angeklagten nicht identifiziert und eine fehlerhafte Durchführung der Wahllichtbildvorlage geschildert hat, bewusst falsch; für diese Falschaussage seien ihr ausweislich der Telekommunikationsüberwachung 10.000 € versprochen und 5.000 € bereits bezahlt worden. Es bestünden gleichwohl „Unsicherheiten auch und insbesondere an der Zuverlässigkeit der Identifizierung durch die Zeugin A. “, was die Strafkammer mit der Bildauswahl bei der Wahllichtbildvorlage und einem möglichen Alternativtäter begründet.

III.

Die wirksam auf den Freispruch des Angeklagten im Fall 2 der Anklage beschränkte Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg. Die Beweiswürdigung im angefochtenen Urteil dazu, dass der Angeklagte nicht mit hinreichender Sicherheit als Täter habe identifiziert werden können, hält sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Auf die Verfahrensbeanstandung kommt es daher nicht mehr an.

1. Das Revisionsgericht muss es grundsätzlich hinnehmen, wenn das Tatgericht einen Angeklagten freispricht, weil es Zweifel an seiner Täterschaft nicht zu überwinden vermag. Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters (§ 261 StPO). Ihm obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein, es genügt, dass sie möglich sind (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 1. Februar 2017 - 2 StR 78/16, NStZ-RR 2017, 183 mwN). Es kommt nicht darauf an, ob das Revisionsgericht angefallene Erkenntnisse anders gewürdigt oder Zweifel überwunden hätte. Vielmehr hat es die tatrichterliche Überzeugungsbildung selbst dann hinzunehmen, wenn eine andere Beurteilung nähergelegen hätte oder überzeugender gewesen wäre (vgl. BGH, Urteil vom 24. März 2015 - 5 StR 521/14, NStZ-RR 2015, 178, 179). Die revisionsgerichtliche Prüfung beschränkt sich allein darauf, ob dem Tatrichter Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist oder gegen die Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt (BGH, aaO mwN). Das Urteil muss erkennen lassen, dass der Tatrichter solche Umstände, die geeignet sind, die Entscheidung zu Gunsten oder zu Ungunsten des Angeklagten zu beeinflussen, erkannt und in seine Überlegungen einbezogen und in eine umfassende Gesamtwürdigung eingestellt wurden (st. Rspr.; vgl. nur Senat, Urteil vom 23. Juli 2008 - 2 StR 150/08, NJW 2008, 2792, 2793 mwN).

2. Den sich hieraus ergebenden Anforderungen wird die Beweiswürdigung nicht gerecht. Die Erwägung der Strafkammer, „durchgreifende Zweifel an der Wiedererkennungsleistung der Zeugin A. im Ermittlungsverfahren und damit an der Täterschaft des Angeklagten [… hätten sich] aus dem Umstand ergeben, dass sich im Laufe der Hauptverhandlung ein konkreter Alternativtäter ergeben“ habe, leidet an einem durchgreifenden Erörterungsmangel.

a) Die Strafkammer zieht den Zeugen Ak. als möglichen Alternativtäter in Betracht, weil er sich zunächst gegenüber einem anderen Zeugen und in dem gegen ihn geführten Ermittlungsverfahren als Täter bezeichnet hat. Von dieser Darstellung ist der Zeuge dann aber wieder abgerückt und hat den Angeklagten belastet. „Vor diesem Hintergrund“ hat die Strafkammer „von der Täterschaft des Zeugen Ak. keine sichere Überzeugung gewinnen können“.

b) Die Strafkammer lässt indes unerörtert, ob der Zeuge Ak. auch nach der von der Zeugin A. gegebenen Täterbeschreibung als Alternativtäter tatsächlich in Betracht zu ziehen ist. Zu dahingehenden Darlegungen und Eröterungen musste sich die Strafkammer schon deswegen gedrängt sehen, da sie ausweislich der Urteilsgründe nicht nur der Schilderung der Zeugin A. zum Tatablauf folgt, sondern auch die von der Zeugin beginnend mit ihrer Erstbefragung am Tatort konstant abgegebene Täterbeschreibung für zutreffend erachtet. Danach handelte es sich bei dem Täter mit dem blauen T-Shirt, den die Zeugin A. bei der späteren Wahllichtbildvorlage als den Angeklagten identifizierte, um eine etwa 32 bis 35 Jahre alte männliche Person mit gepflegtem Vollbart, dunklen kurzen - an ein paar Stellen grauen - Haaren und kräftiger Statur („aufgebaut“, „muskulöser Oberkörper“). Diese Täterbeschreibung sieht die Strafkammer - wie auch das von der Zeugin geschilderte Tatgeschehen und von ihr berichtete Details im Tatablauf - bestätigt durch die in Augenschein genommene Videoaufzeichnung der Überwachungskameras am Tatort. Demgegenüber teilen die Urteilsgründe zum Zeugen Ak. lediglich mit, dieser sei zur Tatzeit 25 Jahre und von „durchschnittlicher Statur“ gewesen; zu dessen Haartracht im Tatzeitpunkt verhält sich das Urteil überhaupt nicht.

c) Damit wird nicht nachvollziehbar, ob der von der Strafkammer vorgenommene Bezug zwischen der Täteridentifizierung durch die Zeugin A. einerseits und dem Vorhandensein eines Alternativtäters andererseits auf einer tragfähigen Grundlage basiert. Allein der Umstand, dass neben dem Angeklagten theoretisch auch irgendeine andere Person als Täter in Betracht kommt, vermag für sich genommen Zweifel an Zuverlässigkeit der Täteridentifizierung durch die Zeugin A. nicht zu begründen.

3. Die Sache bedarf daher im Umfang der Aufhebung neuer Verhandlung und Entscheidung. Das neue Tatgericht wird auch Gelegenheit haben, den Beweiswert der Wiedererkennungsleistung der Zeugin A. anhand der konkreten Umstände der Wahllichtbildvorlage und deren Dokumentation (Vorlage mehrerer „sequentieller Wahllichtbildvorlagen, bestehend aus jeweils acht Personen“, die die Zeugin bei sich zu Hause selbst habe durchblättern und beliebig lange betrachten können) umfassend neu zu beurteilen (vgl. BGH, Urteile vom 12. März 2020 - 4 StR 544/19, NStZ 2020, 499; vom 14. April 2011 - 4 StR 501/10, NStZ 2011, 648; Beschluss vom 9. November 2011 - 1 StR 524/11, NJW 2012, 791) und in eine Gesamtwürdigung (dazu vgl. Senat, Urteil vom 1. Juli 2020 - 2 StR 326/19; BGH, Urteile vom 11. Oktober 2016 ? 5 StR 181/16; vom 2. Dezember 2015 - 1 StR 292/15 je mwN) einzustellen.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 991

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß