HRRS-Nummer: HRRS 2008 Nr. 673
Bearbeiter: Ulf Buermeyer
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 175/08, Beschluss v. 07.05.2008, HRRS 2008 Nr. 673
1. Nach Versäumung der Frist zur Begründung der Revision gegen das Urteil des Landgerichts Koblenz vom 22. November 2007 wird dem Angeklagten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt.
Die Kosten der Wiedereinsetzung trägt der Angeklagte.
2. Auf die Revision des Angeklagten wird das vorbezeichnete Urteil im Strafausspruch mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.
4. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt. Seine auf die Sachrüge gestützte Revision hat in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg; im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
1. Der Schuldspruch ist rechtsfehlerfrei; namentlich lässt die Beweiswürdigung, mit welcher das Landgericht eine Notwehrlage sowie eine irrtümliche Annahme einer solchen Lage durch den Angeklagten ausgeschlossen hat, Rechtsfehler nicht erkennen.
2. Dagegen hält der Strafausspruch rechtlicher Prüfung nicht stand, da die Gründe, mit denen das Landgericht eine erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit ausgeschlossen hat, nicht frei von Rechtsfehlern sind.
Zutreffend hat das Landgericht angenommen, dass von den Eingangsvoraussetzungen des § 20 StGB hier nach der Sachlage und den insoweit rechtsfehlerfrei dargelegten Ausführungen der Sachverständigen allein das Merkmal der tiefgreifenden Bewusstseinsstörung in Betracht kam. Wie die Revision zutreffend ausgeführt hat, hat sich der Tatrichter, insoweit ohne nähere Erörterung der Sachverständigen folgend, einer in der fachwissenschaftlichen forensisch-psychiatrischen Literatur neuen systematischen Differenzierung zwischen "Affekttaten" (im engeren Sinne) und sog. "Impulstaten" angeschlossen (vgl. Marneros, Affekttaten und Impulstaten, 2007) und hieraus für die Anwendung des § 20 StGB Schlussfolgerungen gezogen, die mit der herkömmlichen begrifflichen Zuordnung nicht ohne Weiteres vereinbar sind. Dies kann aber, wie der Generalbundesanwalt zutreffend ausgeführt hat, hier im Ergebnis dahinstehen, weil sich aus dem Zusammenhang der Urteilsgründe ergibt, dass der Tatrichter die von ihm im Anschluss an die Sachverständige näher geprüfte Kategorie der "Impulstaten" hier letztlich zutreffend anhand derselben Kriterien untersucht hat, die gemeinhin unter dem Oberbegriff der "Affekttaten" diskutiert werden. Anzumerken ist insoweit allerdings, dass der Tatrichter dem von ihm im engeren Sinn definierten Bereich der Affekttat, soweit er hierunter nur "Beziehungstaten" versteht, einen jedenfalls zu engen Begriff der "Beziehung" zugrunde legt. Im Zusammenhang mit den insoweit typischen Verlaufs- und Aufbauformen affektiver Spannungen kann nicht allein auf enge partnerschaftliche oder gar intime "Beziehungen" abgestellt werden. Auch zwischen Personen, die, wie hier, über einen langen Zeitraum beruflich und persönlich im engen Kontakt ohne Ausweichmöglichkeit im Fall von Konflikten stehen, kann es zu ähnlichen Konstellationen kommen.
3. Die Anwendung der vom Tatrichter genannten Kriterien für das Vorliegen einer sog. "Impulstat" unter möglicherweise schuldrelevanter Einschränkung der Steuerungsfähigkeit ist nicht rechtsfehlerfrei. Zutreffend rügt die Revision, dass das Landgericht das Vorliegen eines als indiziell angesehenen "raptusartigen Tatverlaufs mit gleichsam rechtwinkligem Affektverlauf" mit nicht tragfähigen Gründen verneint hat. Nach den Feststellungen griff das spätere Tatopfer den Angeklagten aus belanglosem Grund an und stieß ihn "mit aller Gewalt" beinahe aus der offen stehenden Fahrertür der LKW-Kabine, in der sich beide Personen befanden. Der Angeklagte, der erkannte, das dieser Angriff damit abgeschlossen war, "warf sich" in plötzlicher Wut auf seinen Arbeitskollegen, schlug das körperlich deutlich überlegene Tatopfer vielfach mit äußerster Wucht mit den Fäusten gegen den Kopf, kniete sich sodann auf das halb auf dem Beifahrersitz liegende Opfer und erwürgte dieses in unmittelbarem Fortgang der Handlung. Zum Tatzeitpunkt hatte der Angeklagte etwa 36 Stunden nicht geschlafen, wies eine Blutalkoholkonzentration von 2,07 ‰ auf und hatte zusammen mit dem späteren Tatopfer etwa zwölf Stunden lang auf einem Parkplatz in der Fahrerkabine des LKW gesessen.
Unter diesen festgestellten Umständen begegnet die Würdigung des Landgerichts durchgreifenden rechtlichen Bedenken, es habe sich "nicht um einen plötzlichen und kurzen Impulsdurchbruch" gehandelt, weil der Angeklagte die Gewalt über einen längeren Zeitraum hinweg ausgeübt und "die Angriffsrichtung gewechselt" habe (UA S. 27). Auch die Argumentation, der Angeklagte habe nicht über Symptome wie Mundtrockenheit, Herzklopfen, vermehrtes Atmen oder Einengung seiner seelischen Abläufe im Zusammenhang mit dem Tatgeschehen berichtet (UA S. 27), wendet ersichtlich zu schematisch indizielle Kriterien an, die sich in der forensisch-psychiatrischen Literatur und im Gutachten der Sachverständigen finden. Der Angeklagte hat sich auf eine vollständige Amnesie hinsichtlich des unmittelbaren Tatgeschehens berufen (UA S. 13); unabhängig davon wäre es angesichts des festgestellten Kampfgeschehens und der vom Angeklagten aufgewandten Gewalt offensichtlich von allenfalls geringer Bedeutung, ob er (Wochen später) bei der Exploration durch einen Sachverständigen über "Mundtrockenheit" oder "vermehrtes Atmen" berichtet hat.
Andere Indizien, die für das Vorliegen einer schuldrelevanten Bewusstseinsstörung sprechen könnten, hat das Landgericht zutreffend gesehen. Das gilt auch für die festgestellten Gegenindizien, namentlich das ruhige, kontrollierte und fast schon auffällig unbeteiligte Nachtatverhalten. Angesichts des Gewichts, welches der Tatrichter gerade dem Kriterium eines raptusartigen Tatverlaufs beigemessen hat, kann der Senat aber im Ergebnis nicht ausschließen, dass bei zutreffender Einordnung der Beweisanzeichen und Orientierung an den in Rechtsprechung und Literatur anerkannten Kriterien die Entscheidung über das Vorliegen einer erheblichen Verminderung der Steuerungsfähigkeit zugunsten des Angeklagten ausgefallen wäre. Ausgeschlossen werden kann angesichts der insoweit rechtsfehlerfreien Feststellungen sowie der Wiedergabe des Sachverständigengutachtens im Urteil allerdings eine zur Schuldunfähigkeit im Sinne von § 20 StGB führende vollständige Aufhebung der Steuerungsfähigkeit des Angeklagten.
4. Das Landgericht hat einen minder schweren Fall des Totschlags angenommen, dies aber ausdrücklich allein auf das Vorliegen der Voraussetzungen des § 213, 1. Alt. StGB aufgrund der dem Angeklagten von dem späteren Tatopfer zugefügten Misshandlung gestützt. Es kann daher nicht ausgeschlossen werden, dass die mögliche Annahme der Voraussetzungen des § 21 StGB zu einer weiteren Strafrahmenmilderung zugunsten des Angeklagten geführt hätte. Der neue Tatrichter wird den Gesamtzusammenhang der tat- und schuldrelevanten Umstände gegebenenfalls auch insoweit insgesamt neu zu prüfen und zu bewerten haben.
HRRS-Nummer: HRRS 2008 Nr. 673
Externe Fundstellen: NStZ 2008, 618
Bearbeiter: Ulf Buermeyer