HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 861
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 10/17, Urteil v. 14.06.2017, HRRS 2017 Nr. 861
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Aachen vom 22. Juli 2016 aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die den Nebenklägerinnen insoweit entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten verurteilt. Hiergegen richtet sich die auf die Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision der Staatsanwaltschaft. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel hat Erfolg.
1. Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
Anfang September 2015 lernte der in H. lebende, 60 Jahre alte Angeklagte über ein so genanntes Datingportal das spätere Tatopfer, die 54 Jahre alte S., kennen und ging - nach einem ersten persönlichen Treffen - rasch eine intime Beziehung mit ihr ein. Die Beziehung verlief für beide Partner zunächst zufriedenstellend; nach einem gemeinsamen Urlaub im Oktober 2015 entschlossen sie sich, zusammenzuziehen und gemeinsam in der bisher von S. alleine bewohnten Doppelhaushälfte in Ha. zu leben. Zwar traten in der Beziehung immer wieder Spannungen auf. Der Angeklagte fühlte sich unter anderem durch den ausgeprägten Ordnungssinn S., gelegentliche „Eifersüchteleien“ und den Umstand irritiert, dass die sonst sehr gepflegte Geschädigte sich zu Hause gehen ließ; darüber hinaus vermochte er ihr Verhalten nicht recht einzuschätzen und Konflikte nicht offen anzusprechen. In der Erwartung, dass diese Schwierigkeiten sich bewältigen lassen würden, kündigte der Angeklagte die von ihm angemietete Wohnung zum Jahresende. Beide lebten in den Wochen bis Weihnachten weitgehend zurückgezogen und mit sich selbst beschäftigt. Den Weihnachtsabend verbrachte der Angeklagte gemeinsam mit S. und einigen ihrer Familienangehörigen. Am Morgen des 25. Dezember 2015 standen beide früh auf, weil die als Altenpflegerin tätige Geschädigte Frühdienst hatte. Während sie arbeitete, besuchte der Angeklagte eine frühere Ehefrau. Den Abend des 25. Dezember 2015 verbrachten beide zusammen und sahen nach dem Abendessen fern. Die Geschädigte S. begab sich gegen 21.30 Uhr zu Bett und fragte den Angeklagten in der Hoffnung auf den Austausch von Zärtlichkeiten, ob er mitkomme. Der Angeklagte erkannte dies nicht und entgegnete, dass er noch fernsehen wolle. Hierüber war die Geschädigte verstimmt. Am frühen Morgen des 26. Dezember 2015 kam es deshalb zum Streit. Die Geschädigte machte dem Angeklagten Vorwürfe, beschimpfte ihn und verließ schließlich wütend das Haus. Der Angeklagte war über dieses Verhalten der Geschädigten „ungehalten“. Er trank im Verlaufe des Vormittags mehrere Mixgetränke, die er aus Kognac und Cola mischte, sah fern und hörte Musik. Kurz nach 11 Uhr nahm der Angeklagte über den Messengerdienst WhatsApp Kontakt zu einer früheren Freundin auf, tauschte eine Vielzahl von Kurznachrichten mit ihr aus und telefonierte schließlich mehrfach über längere Zeiträume mit ihr. In diesen Telefonaten klagte der Angeklagte darüber, dass er in der Beziehung mit der Geschädigten „nicht glücklich“ sei, seine Wohnung in Holland viel zu früh aufgegeben und seine Ersparnisse aufgebraucht habe. Er wolle „seine Sachen packen und abhauen“.
Gegen 13.15 Uhr kehrte S. nach Hause zurück und betrat grußlos die Küche. Der Angeklagte begab sich ebenfalls in die Küche, um sich ein Getränk zu holen, und kehrte in das Wohnzimmer zurück, ohne die am Küchentisch sitzende Geschädigte anzusprechen. Anschließend tauschte er erneut Kurznachrichten mit seiner früheren Freundin aus. Die Geschädigte begab sich in das Gästezimmer im Obergeschoss und baute dort ein Einzelbett auf. Als der Angeklagte aus dem Obergeschoss ein lautes Poltern hörte, begab er sich hinauf und geriet mit der Geschädigten in eine verbale Auseinandersetzung, deren genauer Inhalt nicht festgestellt werden konnte; nicht ausschließbar beantwortete die Geschädigte die Frage des Angeklagten, „was sie da mache“, mit der Bemerkung, dass sie „den Hals voll“ habe. Beide begaben sich daraufhin in das Wohnzimmer, setzten sich auf ein Sofa und führten ihre verbale Auseinandersetzung fort. „Möglicherweise“ beendete S. die Beziehung zu dem Angeklagten. „Nicht ausschließbar“ schlug die Geschädigte dem Angeklagten ins Gesicht und verursachte dabei eine rund zwei Zentimeter breite, etwa dreieinhalb Zentimeter oberhalb der linken Augenbraue quer verlaufende Hautverletzung. „Entweder diese Körperverletzung oder eine in der Wirkung vergleichbare heftige verbale Provokation“, „möglicherweise“ auch die Erklärung der Geschädigten, dass sie die Beziehung für gescheitert halte, versetzten den Angeklagten in einen Zustand affektiver Erregung. Er wurde „plötzlich von dem drängenden Handlungsimpuls erfasst, Frau S. zu töten“.
In Umsetzung dieses Tatentschlusses erhob sich der Angeklagte, ging in die Küche, ergriff dort ein in einem Messerblock steckendes, großes Küchenmesser mit einer rund 18 Zentimeter langen, spitz zulaufenden Klinge, und kehrte in das Wohnzimmer zurück. Er trat unmittelbar auf die auf dem Sofa sitzende, ahnungslose Geschädigte zu und stach mit dem Messer mehrfach und mit großer Wucht auf sie ein, um sie zu töten. Die Geschädigte erkannte im letzten Moment die Absicht des Angeklagten und versuchte erfolglos, sich mit ihren Armen zu schützen. Der Angeklagte fügte der Geschädigten insgesamt zwölf Stich- und Schnittverletzungen zu, von denen drei jeweils für sich genommen tödlich waren; sie führten zu einer mehrfachen und vollständigen Durchsetzung des Herzens der Geschädigten, eröffneten die Körperhauptschlagader und verletzten ihre Lunge. S. verstarb an den Folgen des stichbedingten Blutverlusts sowie an einem Funktionsversagen ihres Atmungssystems.
2. Die Feststellungen und Wertungen des Schwurgerichts beruhen in erster Linie auf den Angaben des Angeklagten. Soweit dieser sich hinsichtlich des Tatgeschehens im engeren Sinne auf Erinnerungslücken berief, hat das Landgericht die Feststellungen zu dem unmittelbaren Tötungsgeschehen auf das objektive Spurenbild gestützt. Hinsichtlich des tatauslösenden Geschehens hat es angenommen, dass der nicht zu aggressivem Verhalten neigende Angeklagte durch ein ihn provozierendes Ereignis zur Tat veranlasst worden sein müsse; hierfür käme eine Ohrfeige, eine gleichgewichtige verbale Beleidigung oder die Aussage der Geschädigten in Betracht, dass sie die Beziehung als gescheitert ansehe.
Angesichts der affektiven Erregung in Verbindung mit der zum Tatzeitpunkt bestehenden Alkoholisierung hat das Schwurgericht nicht mit der für eine Verurteilung erforderlichen Sicherheit festzustellen vermocht, dass der Angeklagte im Moment des Angriffs auf die Geschädigte erkannte, dass diese arglos war und keinen Angriff auf sich befürchtete. Insoweit ist das Schwurgericht den Ausführungen der Sachverständigen Dr. J. gefolgt, wonach eine affektive Erregung zu „neurokognitiven Beeinträchtigungen“ führen und „eine Einengung der seelischen Abläufe und des Wahrnehmungsfeldes“ bedingen und sich das Bewusstsein des Täters auf die „ihm zugefügte Frustration“ verengen könne. Dies könne dazu führen, dass „die Begleitumstände der Tat nicht mehr vollständig wahrgenommen“ würden. Dass beim Angeklagten tatsächlich eine Bewusstseinsverengung in dem genannten Sinne vorgelegen hat, hat das Schwurgericht auf den Umstand gestützt, dass er eine während des Tatgeschehens erlittene schmerzhafte Schnittverletzung am Daumen der linken Hand erst mit einiger zeitlicher Verzögerung nach der Tat wahrgenommen hat.
Das Schwurgericht hat die Tat deshalb als (minder schweren Fall) des Totschlags gewertet, das Mordmerkmal der Heimtücke wegen fehlenden Ausnutzungsbewusstseins verneint und den Angeklagten zu zeitiger Freiheitsstrafe verurteilt.
Die Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg. Die Erwägungen, mit denen das Schwurgericht Zweifel daran begründet hat, dass der Angeklagte die Arg- und Wehrlosigkeit der Geschädigten bewusst zur Tötung ausgenutzt hat, halten einer rechtlichen Überprüfung nicht stand. Sie sind widersprüchlich und lückenhaft.
1. Heimtückisch handelt, wer in feindseliger Willensrichtung die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zur Tötung ausnutzt (BGH, Beschluss vom 2. Dezember 1957 - GSSt 3/57, BGHSt 11, 139, 144; Urteil vom 20. Oktober 1993 - 5 StR 473/93, BGHSt 39, 353, 368; Urteil vom 16. Februar 2005 - 5 StR 14/04, BGHSt 50, 16, 28). Wesentlich ist, dass der Täter sein keinen Angriff erwartendes, mithin argloses Opfer überrascht und dadurch daran hindert, dem Anschlag auf sein Leben zu begegnen oder ihn wenigstens zu erschweren, wobei für die Beurteilung die Lage der Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs maßgebend ist (Senat, Beschluss vom 24. September 2014 - 2 StR 160/14, NStZ 2015, 214, 215). In subjektiver Hinsicht setzt der Tatbestand des Heimtückemordes nicht nur voraus, dass der Täter die Arg- und Wehrlosigkeit des Tatopfers erkennt; erforderlich ist außerdem, dass er die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers bewusst zur Tatbegehung ausnutzt (Senat, Urteil vom 24. September 2014 - 2 StR 160/14, NStZ 2015, 214, 215; MüKo/Schneider 2. Aufl. 2012 Rn. 180). Dafür genügt es, wenn er die die Heimtücke begründenden Umstände nicht nur in einer äußerlichen Weise wahrgenommen, sondern in dem Sinne in ihrer Bedeutung für die Tatbegehung erfasst hat, dass ihm bewusst geworden ist, einen durch seine Ahnungslosigkeit gegenüber dem Angriff schutzlosen Menschen zu überraschen (vgl. Senat, Urteil vom 11. Juni 2014 - 2 StR 117/14, NStZ 2014, 639, 640; BGH, Urteil vom 11. Dezember 2012 - 5 StR 438/12, NStZ 2013, 232, 233; Urteil vom 29. Januar 2015 - 4 StR 433/14, NStZ 2015, 392, 393).
Ein Ausnutzungsbewusstsein in diesem Sinne kann im Einzelfall auf der Hand liegen, etwa weil die Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers offen zutage liegt und es sich gleichsam von selbst versteht, dass der Täter diese Situation ausnutzt, wenn er das Opfer tötet (BGH, Urteil vom 20. Oktober 1993 - 5 StR 473/93, BGHSt 39, 353, 369 f.).
Zwar kann die Spontanität des Tatentschlusses im Zusammenhang mit der Vorgeschichte der Tat und dem psychischen Zustand des Täters ein Beweisanzeichen dafür sein, dass ihm das Ausnutzungsbewusstsein fehlt (Senat, Urteil vom 10. Februar 2010 - 2 StR 391/09, NStZ-RR 2010, 175, 176; BGH, Beschluss vom 29. November 2011 - 3 StR 326/11, NStZ 2012, 270, 271). Andererseits hindert aber nicht jede affektive Erregung oder heftige Gemütsbewegung einen Täter daran, die Bedeutung der Arg- und Wehrlosigkeit des Opfers in ihrer Bedeutung für die Tat zu erkennen (vgl. Senat, Urteil vom 10. Februar 2010 - 2 StR 391/09, NStZ-RR 2010, 175, 176). Entscheidend ist insoweit stets, ob die Fähigkeit des Täters, die Tatsituation in ihrem Bedeutungsgehalt für das Opfer realistisch wahrzunehmen und einzuschätzen, beeinträchtigt ist (vgl. Senat, Urteil vom 11. Juni 2014 - 2 StR 117/14, NStZ 2014, 639; Urteil vom 10. Februar 2010 - 2 StR 391/09, NStZ-RR 2010, 175, 176). Kommt der Tatrichter trotz uneingeschränkter Wahrnehmungsfähigkeit zu dem Ergebnis, dass der Täter die für die Heimtücke maßgeblichen Umstände aufgrund seiner Erregung nicht in sein Bewusstsein aufgenommen hat, so muss er die Beweisanzeichen hierfür umfassend darlegen und sorgfältig würdigen.
2. Gemessen hieran halten die Darlegungen zum fehlenden Ausnutzungsbewusstsein rechtlicher Überprüfung nicht stand.
a) Das Landgericht hat im Rahmen der Schuldfähigkeitsbeurteilung festgestellt, dass „Wachheit, Orientierung, Auffassung und Aufmerksamkeit“ des Angeklagten zum Tatzeitpunkt nicht erheblich beeinträchtigt gewesen sind und ist zu dem Ergebnis gelangt, dass der Angeklagte in vollem Umfang in der Lage war, das Unrecht seines Tuns zu erkennen und nach dieser Einsicht zu handeln. Diese - tragfähig begründeten - Feststellungen und Erwägungen stehen in einem unauflöslichen Widerspruch zu der im Rahmen der Mordmerkmalsprüfung angestellten Erwägung, der Angeklagte habe die Lage seines Tatopfers in ihrer Bedeutung für seinen Tatplan aufgrund seiner affektiven Erregung nicht zutreffend wahrgenommen und zur Begehung der Tat ausgenutzt.
b) Darüber hinaus ist auch die festgestellte affektive Erregung des Angeklagten nicht tragfähig begründet. Insoweit hat das Schwurgericht nicht in den Blick genommen, dass der Angeklagte, der bis kurz vor der Tat mit einer früheren Freundin telefonierte und Kurznachrichten austauschte, dieser vom Scheitern der Beziehung mit der Geschädigten berichtet hatte. Vor diesem Hintergrund ist die auch auf die mögliche Beendigung der Beziehung durch die Geschädigte gestützte affektive Erregung nicht ohne nähere Begründung nachvollziehbar.
Soweit das Landgericht die im Rahmen der Mordmerkmalsprüfung festgestellte Bewusstseinseinengung auch damit begründet hat, dass der Angeklagte „die schmerzhafte Verletzung nicht unerheblichen Ausmaßes an seinem linken Daumen erst mit einiger zeitlicher Verzögerung nach Vollendung der Tat“ wahrgenommen habe, lassen die Ausführungen des Schwurgerichts nicht erkennen, ob es den Zeitpunkt bedacht hat, zu dem der Angeklagte sich diese Verletzung zugezogen hat. Sie entstand während des Tötungsgeschehens im Verlaufe der zahlreichen, mit großer Wucht ausgeführten Stichverletzungen gegen das Tatopfer. Bei dieser Sachlage versteht es sich jedenfalls ohne nähere Erörterungen nicht von selbst, dass von einem zeitlich deutlich verzögert einsetzenden Schmerzempfinden während der - regelhaft mit einer erheblichen affektiven Erregung einher gehenden - Tötungshandlung auf eine Bewusstseinseinengung bereits zum Zeitpunkt des Tatentschlusses rückgeschlossen werden kann.
c) Schließlich fehlt es an der gebotenen Gesamtwürdigung aller für und gegen ein Ausnutzungsbewusstsein sprechenden Umstände. Insoweit wäre zu bedenken gewesen, dass die Arg- und Wehrlosigkeit der Geschädigten offen zutage lag. In die Gesamtwürdigung aller Umstände hätte auch eingestellt werden müssen, dass der Angeklagte sich zwar spontan zur Tat entschloss, aber mit direktem Tötungsvorsatz handelte. Vor diesem Hintergrund hätte es der näheren Erörterung bedurft, ob er die Situation seines Tatopfers schon deshalb in den Blick genommen haben könnte, um sein Tatentschluss erfolgreich umzusetzen (vgl. Dannhorn, NStZ 2007, 297, 299). Nicht zuletzt hätte sich das Schwurgericht mit dem Umstand auseinandersetzen müssen, dass der Angeklagte selbst seinen „Zustand“ als „nicht böse oder aggressiv“, sondern als „ganz ruhig“ beschrieben hat.
3. Die hierin liegenden Erörterungsmängel führen zur Aufhebung der angegriffenen Entscheidung.
Der Senat hebt auch die Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen auf, um dem neuen Tatrichter insgesamt neue und widerspruchsfreie Feststellungen zu ermöglichen.
HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 861
Externe Fundstellen: NStZ-RR 2017, 278
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner