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HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 843

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 109/20, Urteil v. 31.03.2021, HRRS 2021 Nr. 843


BGH 2 StR 109/20 - Urteil vom 31. März 2021 (LG Limburg)

Begehen durch Unterlassen (Garantenstellung unter Geschwistern: ausdrückliche oder konkludente Übernahme von Verantwortung; Garantenstellung im Eltern-Kind-Verhältnis; keine Garantenstellung gegenüber eines Hilfsbedürftigen nach Beistand); Totschlag (bedingter Vorsatz: Abgrenzung von bewusster Fahrlässigkeit, hohe Lebensgefährlichkeit des Verhaltens, grundsätzliche Unbeachtlichkeit der Motive des Täters, Zweifelssatz); unterlassene Hilfeleistung; Körperverletzung mit Todesfolge (Unterlassen).

§ 13 Abs. 1 StGB; § 15 StGB; § 212 StGB; §§ 223, 227 StGB; § 323c StGB; § 264 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Unter Geschwistern besteht nicht schon wegen ihrer Verwandtschaft in der Seitenlinie eine Garantenstellung. Nur im Eltern-Kind-Verhältnis liegt mit Blick auf §§ 1618a, 1619 BGB bereits aufgrund einer Verwandtschaft in aufsteigender Linie eine Rechtspflicht zum Handeln nahe.

2. Eine Garantenstellung eines Geschwisterteils kommt etwa in Betracht, wenn es ausdrücklich oder konkludent die Übernahme von Verantwortung erklärt, diese zusätzlich neben den in erster Linie verantwortlichen Eltern übernommen hat und sich insoweit auch sein Vorsatz auf das Bestehen einer Rechtspflicht zum Handeln erstreckt.

3. Allein daraus, dass jemand einem Hilfsbedürftigen beisteht, folgt noch keine Garantenpflicht zur Vollendung einer begonnenen Hilfeleistung.

4. Bedingter Tötungsvorsatz ist nach ständiger Rechtsprechung gegeben, wenn der Täter den Tod als mögliche, nicht ganz fernliegende Folge seines Verhaltens erkennt (Wissenselement) und dies billigt oder sich um des angestrebten Zieles willen zumindest mit dem Eintritt des Todes abfindet, mag ihm der Erfolgseintritt auch gleichgültig oder an sich unerwünscht sein (Willenselement). Bewusste Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Täter mit der als möglich erkannten Tatbestandsverwirklichung nicht einverstanden ist und ernsthaft und nicht nur vage darauf vertraut, der tatbestandliche Erfolg werde nicht eintreten. Diese Grundsätze gelten sowohl für Begehungsdelikte als auch für Unterlassungstaten. Gegenstand des Vorsatzes müssen bei Unterlassungen neben der Untätigkeit aber auch die physisch-reale Handlungsmöglichkeit, der Eintritt des Erfolges, die Quasi-Kausalität sowie die eine objektive Zurechnung begründenden Umstände sein.

5. Für die Beweiswürdigung zur Frage des Tötungsvorsatzes gilt, dass eine hohe Lebensgefährlichkeit des Verhaltens regelmäßig ein wichtiges auf (Eventual-)Vorsatz hinweisendes Beweisanzeichen darstellt. Zwar kann im Einzelfall der Vorsatz fehlen, wenn dem Täter, obwohl er alle Umstände kennt, die sein Verhalten zu einer das Leben gefährdenden Behandlung machen, das Risiko des Todes nicht erfasst, oder wenn er trotz erkannter Gefährlichkeit der Tat ernsthaft und nicht nur vage auf ein Ausbleiben des tödlichen Erfolges vertraut. Das Vertrauen auf einen glimpflichen Ausgang darf aber nicht auf bloßen Hoffnungen beruhen, sondern muss tatsachenbasiert sein. Den Motiven des Täters kommt - anders als bei direktem Vorsatz - bei der Abgrenzung bedingten Tötungsvorsatzes von bewusster Fahrlässigkeit nur unter bestimmten Umständen eine Bedeutung zu.

6. Das Tatgericht hat die für und gegen (bedingten) Tötungsvorsatz sprechenden Tatsachen und Beweisergebnisse in einer Gesamtschau zu würdigen. Einzelindizien dürfen nicht nur isoliert bewertet werden, sondern sie entfalten ihr wahres Beweisgewicht erst, wenn sie auch in der Relation zu den anderen Umständen des Einzelfalls gesehen werden. Erst nachdem das Tatgericht eine Gesamtwürdigung vorgenommen hat und ihm danach unüberwindliche Zweifel verbleiben, hat es zugunsten des Angeklagten zu entscheiden.

7. Eine vorsätzliche Körperverletzung kann durch einen Garanten verwirklicht werden, wenn er den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges trotz vorhandener Möglichkeit dazu pflichtwidrig nicht abwendet. Ein von § 223 Abs. 1 StGB erfasster Erfolg in Gestalt einer Gesundheitsschädigung kann bereits darin liegen, dass bei einem behandlungsbedürftigen Zustand einer Person die gebotene ärztliche Versorgung nicht bewirkt wird. Die Möglichkeit, sodann auch § 227 StGB durch Unterlassen zu verwirklichen, ist in der Rechtsprechung anerkannt.

Entscheidungstenor

Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Limburg an der Lahn vom 16. Oktober 2019, soweit es die Angeklagten A. und W. W. betrifft auch zu deren Gunsten, mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts Frankfurt am Main zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat die Angeklagten A. und W. W. jeweils wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen zu Freiheitsstrafen von zwei Jahren bei Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt und die Angeklagte E. W. vom Vorwurf der unterlassenen Hilfeleistung freigesprochen. Gegen dieses Urteil richten sich die zuungunsten der Angeklagten eingelegten Revisionen der Staatsanwaltschaft mit der Sachrüge. Die Rechtsmittel haben Erfolg.

I.

Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Die Angeklagten A. und W. W. sind seit dem Jahr 1993 miteinander verheiratet; im gleichen Jahr wurde die Angeklagte E. W. als ihre erste Tochter geboren. J. W. kam als zweites Kind der Eheleute am 18. Januar 1995 zur Welt. Sie litt unter einem Down-Syndrom, ferner an Diabetes Typ I und sie hatte einen leichten Herzklappenfehler. Die Angeklagten A. und W. W. kümmerten sich intensiv um ihre Tochter J. Sie trafen alle Entscheidungen bezüglich der gesundheitlichen Fürsorge und Förderung dieser Tochter einvernehmlich. A. W. nahm an einer Schulung teil und kannte sich in der Therapie der Diabetes aus. W. W. leidet selbst an Diabetes mellitus Typ I.

Am 6. Oktober 2016 stellte A. W. die Tochter J. bei einer Ärztin vor, die ihr ein automatisches Blutzuckermessgerät am Oberarm einsetzte. Den nach zwei Wochen erforderlichen Austausch des Sensors unterließ A. W. danach jedoch. Bis zum Samstag, dem 29. Oktober 2016, gab es, von einem Gewichtsverlust abgesehen, keine gesundheitlichen Auffälligkeiten. Dann kam es zu einer Stoffwechselentgleisung durch Insulinmangel. Am Morgen des 30. Oktober 2016 hatte J. W. einen Blutzuckerwert von 240 mg/dL, worauf A. W. ihr Insulin spritzte. Gegen Mittag erbrach J. blutig, was A. und E. W. wahrnahmen. J. war geschwächt. Sie wurde ins Wohnzimmer geführt, mit Skiunterwäsche bekleidet und auf die Couch gelegt. Der Sensor zur Blutzuckermessung wurde entfernt. J. klagte über Übelkeit und Bauchschmerzen, sie war ohne Appetit, hatte aber Durst und Harndrang. Sie konnte abends nicht mehr ins Obergeschoss gehen und verbrachte die Nacht auf der Couch im Wohnzimmer. A. und E. W. blieben bei ihr, während W. W. im Schlafzimmer übernachtete. Im Lauf des folgenden Montags, des 31. Oktober 2016, verstärkten sich die Symptome der Stoffwechselentgleisung bei J. über Stunden hinweg dramatisch. Sie wurde lethargisch, war von Übelkeit und Erbrechen betroffen und sprach nur noch wenig. Ihre Atmung wurde schwer und ihr Bewusstsein trübte erkennbar ein. Gegen 14 Uhr maß A. W. bei ihr einen Blutzuckerwert von 300 mg/dL.

J. befand sich in einer schweren Ketoazidose. Gleichwohl riefen die Angeklagten keinen Arzt. J. hätte andernfalls noch bis in die Abendstunden gerettet werden können. A. und E. W. waren ununterbrochen im Haus, während W. W. tagsüber der Arbeit im nahegelegenen Familienunternehmen nachging, aber für Bürotätigkeiten nach Hause kam und die dramatische Entwicklung bei seiner Tochter J. wahrnahm.

Gegen Abend fanden sich alle Angeklagten gemeinsam im Wohnzimmer ein. Sie entkleideten J. und hüllten sie in eine Decke. J. sprach nicht mehr und reagierte auf die Frage, ob sie etwas trinken wolle, nur noch mit Kopfnicken. Gegen 20 Uhr ergab eine Blutzuckermessung durch A. W. das Signal „high“, was einen Wert von mehr als 600 mg/dL bedeutete. J. lag in den Armen ihrer Schwester E., die den Puls prüfte, als ihr Atem aussetzte. E. W. erkannte, dass J. tot war, und weckte ihre Mutter, die eingenickt war. Um 21.52 Uhr wählte W. W. den Notruf und überließ dann das Telefonat seiner Tochter E., die der Empfehlung einer Herz-Druck-Massage folgte. Kurz danach trafen Sanitäter und gegen 22.00 Uhr eine Notärztin ein, die sich vergeblich um eine Reanimation bemühten; um 22.53 Uhr stellte die Ärztin den Tod von J. W. fest.

2. Die Angeklagten haben bestritten, die Symptome einer lebensbedrohenden Ketoazidose erkannt zu haben. Die Strafkammer wurde sachverständig dahin beraten, dass es sich um einen typischen Verlauf einer Stoffwechselentgleisung bei Diabetes mellitus Typ I gehandelt habe, deren Symptome auch für Laien mindestens über einen Zeitraum von zwölf Stunden vor dem Tod erkennbar gewesen seien. Die abweichenden Einlassungen der Angeklagten seien nicht nachvollziehbar.

Gleichwohl hat die Strafkammer keine vorsätzliche Herbeiführung des Todes festgestellt. Sie hat in diesem Zusammenhang ausgeführt, für ein vorsätzliches Unterlassen gebotener Rettungshandlungen durch die Angeklagten trotz Erkennens einer akuten Lebensgefahr spreche ihr Wissen darum, dass J. am Samstag bei einem hohen Blutzuckerwert blutigen Auswurf erbrochen hatte und sehr geschwächt war, ferner, dass sich ihr Zustand kontinuierlich verschlechterte, dass mehrfach hohe Blutzuckerwerte gemessen wurden, und dass die Entwicklung sich immer weiter zuspitzte. Weder eine angespannte psychische Verfassung der Angeklagten noch das Fehlen eines feststellbaren Motivs für einen Totschlag durch Unterlassen oder auch die Rettungsversuche nach dem Atemstillstand von J. könnten diese Hinweise auf ein vorsätzliches Unterlassen der Hinzuziehung ärztlicher Hilfe widerlegen. Auch sei eine psychosoziale Vernachlässigung von J. W. dadurch, dass sie zuletzt kein eigenes Zimmer mehr hatte, und der Sensor zur Blutzuckermessung entfernt wurde, festzustellen. Das Entkleiden und das spätere Verschwinden des von der Notärztin zurückgelassenen Protokolls seien auffällig. Jedoch habe die Abstimmung im Quorum der Kammer bei der Urteilsberatung nur eine für die Verurteilung wegen einer Vorsatztat nicht ausreichende Mehrheit von drei zu zwei Stimmen ergeben. Dafür, dass die Angeklagten nicht vorsätzlich die erforderlichen Rettungsmaßnahmen ergriffen, sondern die Symptome verkannt hätten, spreche, dass sie J. früher fürsorglich betreut hätten und ein Motiv für vorsätzliches Verhalten nicht feststellbar sei. Die Strafkammer habe sodann gesondert über den Vorwurf der fahrlässigen Tötung durch A. und W. W. abgestimmt, die als einzige Alternative in Betracht zu ziehen sei. Insoweit habe sich ein Verhältnis von zwei zu drei Stimmen ergeben. Danach sei das Abstimmungsergebnis dahin zu bewerten, dass von fahrlässiger Tötung auszugehen sei.

Die Angeklagte E. W. sei vom Vorwurf der unterlassenen Hilfeleistung freizusprechen, weil sich dafür nicht die erforderliche Stimmenmehrheit ergeben habe. Es sei nicht festzustellen, dass E. W. den tödlichen Verlauf erkannt habe.

II.

Die Revisionen sind begründet.

1. Die Urteilsgründe zur Frage eines Tötungsvorsatzes der Angeklagten A. und W. W. sind lückenhaft.

a) In rechtlicher Hinsicht ist nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs bedingter Tötungsvorsatz gegeben, wenn der Täter den Tod als mögliche, nicht ganz fernliegende Folge seines Verhaltens erkennt (Wissenselement) und dies billigt oder sich um des angestrebten Zieles willen zumindest mit dem Eintritt des Todes abfindet, mag ihm der Erfolgseintritt auch gleichgültig oder an sich unerwünscht sein (Willenselement). Bewusste Fahrlässigkeit liegt vor, wenn der Täter mit der als möglich erkannten Tatbestandsverwirklichung nicht einverstanden ist und ernsthaft und nicht nur vage darauf vertraut, der tatbestandliche Erfolg werde nicht eintreten (vgl. BGH, Urteil vom 1. März 2018 - 4 StR 399/17, BGHSt 63, 88, 93 mwN). Diese Grundsätze gelten sowohl für Begehungsdelikte als auch für Unterlassungstaten. Gegenstand des Vorsatzes müssen bei Unterlassungen neben der Untätigkeit aber auch die physisch-reale Handlungsmöglichkeit, der Eintritt des Erfolges, die Quasi-Kausalität sowie die eine objektive Zurechnung begründenden Umstände sein (vgl. BGH, Urteil vom 19. August 2020 - 1 StR 474/19, NJW 2021, 326, 327).

b) Für die Beweiswürdigung zur Frage des Tötungsvorsatzes gilt, dass eine hohe Lebensgefährlichkeit des Verhaltens regelmäßig ein wichtiges auf (Eventual-)Vorsatz hinweisendes Beweisanzeichen darstellt. Zwar kann im Einzelfall der Vorsatz fehlen, wenn dem Täter, obwohl er alle Umstände kennt, die sein Verhalten zu einer das Leben gefährdenden Behandlung machen, das Risiko des Todes nicht erfasst, oder wenn er trotz erkannter Gefährlichkeit der Tat ernsthaft und nicht nur vage auf ein Ausbleiben des tödlichen Erfolges vertraut. Das Vertrauen auf einen glimpflichen Ausgang darf aber nicht auf bloßen Hoffnungen beruhen, sondern muss tatsachenbasiert sein. Den Motiven des Täters kommt - anders als bei direktem Vorsatz - bei der Abgrenzung bedingten Tötungsvorsatzes von bewusster Fahrlässigkeit nur unter bestimmten Umständen eine Bedeutung zu (vgl. BGH, Urteil vom 12. Dezember 2018 - 5 StR 517/18, NStZ 2019, 208 f.).

Das Tatgericht hat die für und gegen (bedingten) Tötungsvorsatz sprechenden Tatsachen und Beweisergebnisse in einer Gesamtschau zu würdigen. Einzelindizien dürfen nicht nur isoliert bewertet werden, sondern sie entfalten ihr wahres Beweisgewicht erst, wenn sie auch in der Relation zu den anderen Umständen des Einzelfalls gesehen werden (vgl. Senat, Urteil vom 2. September 2009 - 2 StR 229/09, NStZ 2010, 102, 103). Erst nachdem das Tatgericht eine Gesamtwürdigung vorgenommen hat und ihm danach unüberwindliche Zweifel verbleiben, hat es zugunsten des Angeklagten zu entscheiden (vgl. BGH, Urteil vom 6. Februar 2018 - 1 StR 199/17, NStZ-RR 2018, 256).

c) Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil, auch mit Blick auf den eingeschränkten revisionsrechtlichen Überprüfungsmaßstab, nicht gerecht.

Die Strafkammer hat zwar Indizien mitgeteilt, die für und gegen den Angeklagten A. und W. W. sprechen können. Danach hat es aber nur auf das Abstimmungsergebnis verwiesen. Die Urteilsgründe müssen jedoch erkennen lassen, dass eine Abwägung der für und gegen die Angeklagten sprechenden Umstände stattgefunden hat und aus welchen Erwägungen das Gericht zu seinem Entscheidungsergebnis gelangt ist. Daran fehlt es hier.

2. Ebenso rechtsfehlerhaft ist der Freispruch der Angeklagten E. W. Dazu hat das Tatgericht lediglich angemerkt, die Schwurgerichtskammer habe nicht die Überzeugung gewinnen können, dass die Angeklagte E. W. den tödlichen Verlauf der Ketoazidose erkannt habe. Das lässt jede Begründung vermissen, wie sie für einen Freispruch aus tatsächlichen Gründen erforderlich ist (vgl. etwa Senat, Urteil vom 1. Juli 2020 - 2 StR 326/19, BeckRS 2020, 25873).

Zudem hat das Landgericht ein echtes Unterlassungsdelikt gemäß § 323c StGB nur im Hinblick auf den „tödlichen Verlauf“ geprüft und verneint. Das erweist sich schon deshalb als unzureichend, weil die Strafkammer nicht zusätzlich in den Blick genommen hat, dass bereits der sich verschlechternde Gesundheitszustand der Schwester geraume Zeit vor dem Eintritt des Todes ein Auslöser für eine Handlungspflicht im Sinne des § 323c StGB gewesen sein könnte. Das gilt jedenfalls dann, wenn keine Gewähr für eine sofortige anderweitige Hilfe bestanden hat.

3. Es liegen auch Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten A. und W. W. vor, die gemäß § 301 StPO zugleich zur Urteilsaufhebung zu deren Gunsten führen.

Das Landgericht hat diese Angeklagten bei einem Stimmenverhältnis von zwei zu drei Stimmen wegen fahrlässiger Tötung verurteilt. Die aus dem Stimmenverhältnis gezogene Folgerung war rechtsfehlerhaft. Wurde nach der Abstimmung über Totschlag durch Unterlassen nur über fahrlässige Tötung mit einem Ergebnis von zwei zu drei Stimmen abgestimmt, so vermag dies einen Schuldspruch nicht zu tragen. Fehlerfrei wäre die Folgerung nur gewesen, wenn jedenfalls zwei Mitglieder des Quorums, die für die Annahme von Tötungsvorsatz gestimmt, insoweit aber keine Mehrheit gemäß § 263 Abs. 1 StPO gefunden hatten, auf der folgenden Stufe des Abstimmungsvorgangs hilfsweise für die Annahme von Fahrlässigkeit gestimmt hätten. Danach wurde aber ausweislich der Mitteilung in den Urteilsgründen nicht gesondert gefragt.

4. Für die neue Verhandlung und Entscheidung weist der Senat auf Folgendes hin:

Nach § 264 StPO muss das Gericht die in der Anklage bezeichnete Tat so, wie sie sich nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung darstellt, unter allen konkret in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten würdigen, soweit dafür keine rechtlichen Hindernisse bestehen (vgl. BGH, Urteile vom 29. Oktober 2009 - 4 StR 239/09, NStZ 2010, 222, 223; vom 26. September 2019 - 4 StR 30/19, Beck RS 2019, 23008; vom 30. September 2020 - 5 StR 99/20, NStZ-RR 2020, 377, 378).

a) Außer einer vom Landgericht geprüften vorsätzlichen Tötung durch Unterlassen oder der für die Angeklagten A. und W. W. bejahten fahrlässigen Tötung durch Unterlassen kommt auch eine Körperverletzung mit Todesfolge nach § 227 StGB in Betracht. Eine vorsätzliche Körperverletzung kann dabei durch einen Garanten verwirklicht werden, wenn er den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges trotz vorhandener Möglichkeit dazu pflichtwidrig nicht abwendet. Ein von § 223 Abs. 1 StGB erfasster Erfolg in Gestalt einer Gesundheitsschädigung kann bereits darin liegen, dass bei einem behandlungsbedürftigen Zustand einer Person die gebotene ärztliche Versorgung nicht bewirkt wird. Die Möglichkeit sodann auch § 227 StGB durch Unterlassen zu verwirklichen, ist in der Rechtsprechung anerkannt (vgl. BGH, Urteile vom 22. November 2016 - 1 StR 354/16, BGHSt 61, 318, 321 ff.; vom 26. Januar 2017 - 3 StR 479/16, NStZ 2017, 410, 411; vom 10. Oktober 2017 - 1 StR 496/16, NStZ 2018, 462, 463).

b) Bezüglich der Angeklagten E. W. hat das Landgericht nur ein echtes Unterlassungsdelikt gemäß § 323c StGB geprüft. Die Möglichkeit einer Garantenstellung für ein unechtes Unterlassungsdelikt hat es nicht angesprochen, obwohl sie möglicherweise in Betracht kommt.

aa) Allerdings besteht unter Geschwistern nicht schon wegen ihrer Verwandtschaft in der Seitenlinie eine Garantenstellung (vgl. LG Kiel, NStZ 2004, 157, 158; Bülte, GA 2013, 389, 392 ff.; Nikolaus, JA 2005, 605, 607). Nur im Eltern-Kind-Verhältnis liegt mit Blick auf §§ 1618a, 1619 BGB bereits aufgrund einer Verwandtschaft in aufsteigender Linie eine Rechtspflicht zum Handeln nahe (vgl. BGH, Beschluss vom 2. August 2017 - 4 StR 169/17, NStZ 2018, 34 f.).

bb) Eine Garantenstellung der Angeklagten E. W. kann sich hier aus der tatsächlichen Übernahme einer Schutzfunktion ergeben.

(1) Dies kommt etwa in Betracht, wenn sie ausdrücklich oder konkludent die Übernahme von Verantwortung erklärt, diese zusätzlich neben den in erster Linie verantwortlichen Eltern übernommen und sich insoweit auch ihr Vorsatz auf das Bestehen einer Rechtspflicht zum Handeln erstreckt hätte (vgl. BGH, Beschluss vom 2. August 2017 - 4 StR 169/17, NStZ 2018, 34, 35). Nicht in jedem Handeln von E. W., das ihrer Schwester im Vorfeld oder während der akuten gesundheitlichen Krise zugutegekommen ist, kann eine im Sinne von § 13 Abs. 1 StGB relevante Übernahme von Verantwortung gesehen werden. Allein daraus, dass jemand einem Hilfsbedürftigen beisteht, folgt noch keine Garantenpflicht zur Vollendung einer begonnenen Hilfeleistung (vgl. Senat, Urteil vom 11. September 2019 - 2 StR 563/18, StV 2020, 373, 375). Eine mit Rechtswirkung versehene Übernahme von Verantwortung durch E. W. wäre auch abzugrenzen von einer bloßen Unterstützung der Mutter und von einfacher Zuwendung gegenüber der Schwester.

(2) Ob und in welchem Umfang E. W., sollte eine von den Eltern unabhängige Garantenstellung nicht begründet worden sein, in bestimmten Situationen anstelle der Eltern für diese in die ihnen obliegende Garantenpflicht eingetreten ist, bestimmt sich gegebenenfalls nach den in der Familie hierzu ausdrücklich oder konkludent getroffenen Absprachen über die Betreuung und Beaufsichtigung von J. W. (vgl. BGH, Beschluss vom 2. August 2017 - 4 StR 169/17, NStZ 2018, 34, 35).

d) Sollte der neue Tatrichter zu einer Verurteilung wegen eines unechten Unterlassungsdelikts gelangen, wird er bei der Strafzumessung auch § 13 Abs. 2 StGB zu berücksichtigen haben.

5. Der Senat macht gemäß § 354 Abs. 2 Satz 1 StPO von der Möglichkeit Gebrauch, die Sache an ein anderes Landgericht desselben Landes zurückzuverweisen.

HRRS-Nummer: HRRS 2021 Nr. 843

Externe Fundstellen: StV 2022, 75

Bearbeiter: Karsten Gaede/Julia Heß