HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 144
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, AK 62/19, Beschluss v. 15.01.2020, HRRS 2020 Nr. 144
Die Untersuchungshaft hat fortzudauern.
Eine etwa erforderliche weitere Haftprüfung durch den Bundesgerichtshof findet in drei Monaten statt.
Bis zu diesem Zeitpunkt wird die Haftprüfung dem nach allgemeinen Grundsätzen zuständigen Gericht übertragen.
Der Beschuldigte wurde am 15. Juni 2019 vorläufig festgenommen und befindet sich seit 16. Juni 2019 aufgrund des Haftbefehls des Amtsgerichts Kassel vom 15. Juni 2019 (1622 Js 21791/19, richtig wohl vom 16. Juni 2019), ersetzt durch Haftbefehl des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs vom 2. Juli 2019 (3 BGs 120/19), ununterbrochen in Untersuchungshaft.
Gegenstand des Haftbefehls vom 2. Juli 2019 ist der Vorwurf, der Beschuldigte habe am 1. Juni 2019 den Geschädigten, L., heimtückisch und aus niedrigen Beweggründen getötet (§ 211 Abs. 2 StGB).
Der Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs hat unter dem 12. Dezember 2019 die Vorlage der Akten an den Bundesgerichtshof verfügt, nachdem der Generalbundesanwalt beantragt hatte, die Fortdauer der Untersuchungshaft anzuordnen.
Die Voraussetzungen für die Anordnung der Untersuchungshaft und die Fortdauer über sechs Monate hinaus liegen vor.
1. a) Nach dem gegenwärtigen Ermittlungsstand ist im Sinne eines dringenden Tatverdachts im Wesentlichen von folgendem Sachverhalt auszugehen:
Am 1. Juni 2019 gegen 23.30 Uhr erschoss der Beschuldigte den Regierungspräsidenten des Regierungsbezirks Kassel, L., auf der Terrasse dessen Wohnhauses wissentlich und willentlich mittels eines Trommelrevolvers, Kaliber .38. Der Beschuldigte handelte aus fremdenfeindlichen Motiven und nutzte die Arglosigkeit sowie die darauf beruhende Wehrlosigkeit seines Tatopfers aus, indem er sich an den sich in scheinbarer Sicherheit wähnenden und sich keines Angriffs versehenden L. anschlich und aus kurzer Distanz - etwa ein bis zwei Meter - einmal auf dessen Kopf schoss. Dabei kam es ihm darauf an, sein Tatopfer wegen dessen politischer Überzeugung und Betätigung als Regierungspräsident zu töten und gleichsam für die von diesem vertretene Linie in der Flüchtlingspolitik abzustrafen.
b) Der dringende Tatverdacht beruht insbesondere auf den Angaben des Beschuldigten anlässlich seiner verantwortlichen Vernehmung am 25. Juni 2019. Darin hat er sowohl das äußere Geschehen als auch seine Tatmotivation glaubhaft gestanden. Anlass, an dem Wahrheitsgehalt dieser Einlassung zu zweifeln, besteht im derzeitigen Ermittlungsstadium nicht.
Dies gilt auch unter Berücksichtigung dessen, dass der Beschuldigte sein Geständnis mittlerweile widerrufen und in einer neuerlichen Vernehmung am 8. Januar 2020, von der dem Senat bisher nur die hierzu erstellte schriftliche Stellungnahme des Beschuldigten vorliegt, geäußert hat, nicht er, sondern ein Mitbeschuldigter habe das Opfer versehentlich erschossen. Soweit der Beschuldigte zunächst anlässlich seiner Anhörung vor dem Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs am 2. Juli 2019 behauptet hat, er sei bei seiner Vernehmung vom 25. Juni 2019 unter Druck gesetzt worden, hat er dies nicht aufrechterhalten. Auch später geäußerte Einwendungen gegen seine Vernehmungsfähigkeit infolge der Medikation mit dem Benzodiazepin „Tavor“ verfangen nicht. Denn aus der Aussage der behandelnden Anstaltsärztin, die als sachverständige Zeugin vernommen worden ist, ergibt sich, dass mit Blick auf den Zeitpunkt der letzten Medikamentengabe vor der Vernehmung und der verabreichten Dosis eine Beeinträchtigung der Vernehmungsfähigkeit ausgeschlossen ist. Soweit die Angaben des Beschuldigten einer objektiven Überprüfung zugänglich waren, wurden sie durch die weiteren polizeilichen Ermittlungen bestätigt. So wurde etwa das von ihm genannte Waffenversteck aufgefunden.
Schließlich wird das widerrufene Geständnis durch das Ergebnis der molekulargenetischen Untersuchung durch das Landeskriminalamt Hessen gestützt. An der Oberbekleidung des Getöteten wurde eine DNA-Spur gesichert, die sich in allen untersuchten 16 Merkmalssystemen mit dem DNA-Merkmalsmuster des Beschuldigten als identisch erweist. Daher besteht kein vernünftiger Zweifel, dass die beim Tatopfer gesicherte DNA-Fremdspur von dem Beschuldigten stammt. Für eine tatunabhängige Antragung der DNA des Beschuldigten gibt es keine Anhaltspunkte.
Vor diesem Hintergrund vermag auch die neuerliche Einlassung des Beschuldigten, nicht er, sondern ein Mitbeschuldigter habe L. versehentlich erschossen, gemeinsamer Plan sei es vielmehr nur gewesen, das Opfer einzuschüchtern, den dringenden Tatverdacht im derzeitigen Ermittlungsstadium nicht zu entkräften. Eine plausible Erklärung für die geänderte Einlassung, insbesondere den Umstand, dass der Beschuldigte bislang die Mitwirkung des Mitbeschuldigten verschwiegen und die Tat als eigene vorsätzliche Tötung gestanden hat, liegt nicht vor. Soweit der Beschuldigte ausführt, ihm sei durch seinen früheren Verteidiger hierzu geraten und zugesichert worden, dass seine Familie geschützt werde, ist bereits unklar, von wem und vor was die Angehörigen des Beschuldigten geschützt werden hätten sollen.
2. Der Beschuldigte hat sich damit mit hoher Wahrscheinlichkeit des Mordes (§ 211 Abs. 2 StGB) strafbar gemacht.
Das Attentat wurde aus niedrigen Beweggründen verübt, mithin aus einem nach allgemeiner sittlicher Anschauung verachtenswerten und auf tiefster Stufe stehenden Motiv (vgl. BGH, Urteil vom 12. Januar 2005 - 2 StR 229/04, BGHSt 50, 1, 8). Eine politische Tatmotivation ist jenseits des Widerstandsrechts aus Art. 20 Abs. 4 GG nach allgemeiner sittlicher Anschauung grundsätzlich verachtenswert und steht auf tiefster Stufe, da die bewusste Missachtung des Prinzips der Gewaltfreiheit der politischen Auseinandersetzung durch physische Vernichtung politischer Gegner mit der Rechtsordnung schlichtweg unvereinbar ist (vgl. Beschluss vom 2. Mai 2018 - 3 StR 355/17, NStZ 2019, 342 Rn. 12; MüKoStGB/Schneider, 3. Aufl., § 211 Rn. 93 f.). Die Tötung von L. hatte einen politischen Anlass und ein politisches Ziel. Denn das Opfer wurde wegen dessen politischer Überzeugung und Betätigung als Regierungspräsident des Regierungsbezirks Kassel getötet. Er sollte so für die von ihm vertretene Linie in der Flüchtlingspolitik abgestraft werden. Ob der Beschuldigte überdies heimtückisch handelte, wofür nach gegenwärtigem Ermittlungsstand viel spricht, bedarf hier im Ergebnis keiner Entscheidung.
3. Die Strafgerichtsbarkeit des Bundes und damit die Zuständigkeit des Ermittlungsrichters des Bundesgerichtshofs für den Erlass der Haftbefehle ergibt sich aus § 169 Abs. 1 StPO, § 120 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Buchst. a, § 142a Abs. 1 GVG.
a) Der Beschuldigte ist des Mordes (§ 211 Abs. 2 StGB), mithin eines in § 120 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 GVG genannten Katalogdelikts, dringend verdächtig.
b) Die Tat ist ferner nach den Umständen geeignet, den Bestand oder die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland zu beeinträchtigen (§ 120 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Buchst. a GVG). Der spezifisch staatsgefährdende Charakter eines Katalogdelikts im Sinne von § 120 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Buchst. a GVG ist insbesondere dann gegeben, wenn die Tat der Feindschaft des Täters gegen das freiheitlich-demokratische Staats- und Gesellschaftssystem der Bundesrepublik Deutschland entspringt und er seine Opfer nur deshalb auswählt, weil sie dieses System als Amtsträger oder in sonstiger Weise repräsentieren, oder ohne jeden persönlichen Bezug lediglich deshalb angreift, weil sie Bürger oder Einwohner der Bundesrepublik Deutschland sind oder sich im Bundesgebiet aufhalten (BGH, Beschluss vom 24. November 2009 - 3 StR 327/09, NStZ 2010, 468). Diese Voraussetzungen liegen vor, denn die Tat des Beschuldigten beruht auf dessen Ablehnung des freiheitlich-demokratischen Staatsund Gesellschaftssystems der Bundesrepublik Deutschland. Der Beschuldigte wählte sein Opfer aus, weil es diese Ordnung als Amtsträger repräsentierte und für eine bestimmte, von dem Beschuldigten abgelehnte Flüchtlingspolitik eintrat.
c) Die besondere Bedeutung der Tat im Sinne von § 120 Abs. 2 Satz 1 GVG, die die Zuständigkeit des Bundes und damit die Evokationsbefugnis des Generalbundesanwalts begründet, ist gegeben.
Die besondere Bedeutung im Sinne des § 120 Abs. 2 Satz 1 GVG ist grundsätzlich dann anzunehmen, wenn es sich bei der Tat unter Beachtung des Ausmaßes der eingetretenen Rechtsgutsverletzung um ein staatsgefährdendes Delikt von erheblichem Gewicht handelt, das die Schutzgüter des Gesamtstaats in einer derart spezifischen Weise angreift, dass ein Einschreiten des Generalbundesanwalts und eine Aburteilung durch ein die Bundesgerichtsbarkeit ausübendes Gericht geboten ist. Die Beurteilung der Bedeutung des Falles erfordert dabei eine Gesamtwürdigung der Umstände und Auswirkungen der Tat unter besonderer Berücksichtigung ihres Angriffs auf das jeweils betroffene Rechtsgut des Gesamtstaats, hier der inneren Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland (BGH, Urteil vom 22. Dezember 2000 - 3 StR 378/00, BGHSt 46, 238, 253 ff.; Beschluss vom 13. Januar 2009 - AK 20/08, BGHSt 53, 128 Rn. 37). Allein die Schwere der Tat und das Ausmaß der von ihr hervorgerufenen Beeinträchtigung der geschützten Rechtsgüter vermögen dabei für sich die besondere Bedeutung nicht zu begründen; allenfalls können die konkrete Tat- und Schuldschwere den Grad der Gefährdung bundesstaatlicher Belange mitbestimmen (BGH, Beschlüsse vom 13. Januar 2009 - AK 20/08, aaO; vom 22. September 2016 - AK 47/16, juris Rn. 23). Bei der erforderlichen Gesamtwürdigung sind neben dem individuellen Schuld- und Unrechtsgehalt auch die konkreten Auswirkungen für die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und ihr Erscheinungsbild gegenüber Staaten mit gleichen Wertvorstellungen in den Blick zu nehmen. Zudem ist zu beachten, welche Signalwirkung von der Tat für potentielle Nachahmer ausgeht (BGH, Beschluss vom 22. September 2016 - AK 47/16, aaO mwN).
Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Der Beschuldigte wählte den von ihm getöteten Regierungspräsidenten bewusst als Repräsentanten des Staates aus und nahm dessen Engagement bei der Flüchtlingsunterbringung im Regierungsbezirk Nordhessen zum Anlass des Übergriffs. Für ihn war das Opfer eine Symbolfigur für eine von ihm ungewollte, verhasste Entwicklung, die er bekämpfen wollte. Die Tat reiht sich in eine Serie bereits früher bekannt gewordener Straftaten zum Nachteil von Personen ein, die mit Blick auf ihr Engagement für Geflüchtete und deren Aufenthalt in Deutschland eingeschüchtert werden sollten. Sie ist mithin geeignet, bei Politikern und Bürgern ein Klima der Angst vor willkürlichen und grundlosen gewaltsamen Angriffen zu schaffen; ihr kommt damit über die Verletzung individueller Rechtsgüter hinaus eine gesamtstaatliche Bedeutung zu. Die Tat ist überdies geeignet, eine erhebliche Gefahr für das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland im Ausland zu begründen und Signalwirkung für Nachahmungstäter auszulösen.
4. Es bestehen die Haftgründe der Fluchtgefahr (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 StPO) und der Schwerkriminalität (§ 112 Abs. 3 StPO).
Der Beschuldigte hat im Falle seiner Verurteilung mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe zu rechnen, die einen erheblichen Fluchtanreiz begründet. Diesem stehen keine hinreichenden fluchtmildernden Umstände gegenüber. Allein der Umstand, dass der Beschuldigte vor seiner Inhaftierung einen festen Wohnsitz hatte und in seine Familie eingebunden war, reicht hierfür nicht aus. Überdies verfügt der Beschuldigte über enge Kontakte in die rechtsnationale Szene, die ihm im Falle eines Untertauchens hilfreich sein könnten.
Aufgrund des dringenden Tatverdachts einer Straftat nach § 211 Abs. 2 StGB besteht - auch bei der gebotenen restriktiven Auslegung des § 112 Abs. 3 StPO (BGH, Beschlüsse vom 22. September 2016 - AK 47/16, juris Rn. 26; vom 24. Januar 2019 - AK 57/18, juris Rn. 30 ff.) - unter Zugrundelegung der vorgenannten Aspekte überdies der Haftgrund der Schwerkriminalität (§ 112 Abs. 3 StPO).
Der Zweck der Untersuchungshaft kann nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen als deren Vollzug erreicht werden (§ 116 StPO).
5. Die besonderen Voraussetzungen für die Fortdauer der Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus (§ 121 Abs. 1 StPO) liegen vor.
Der Umfang und die Schwierigkeiten der Ermittlungen haben ein Urteil innerhalb von sechs Monaten seit der Inhaftierung des Beschuldigten noch nicht zugelassen. Die vorläufigen Ermittlungsakten umfassen derzeit 191 Aktenbände. Der Generalbundesanwalt hat insgesamt 342 Zeugenvernehmungen und 31 Durchsuchungsmaßnahmen durchführen lassen. Im Rahmen der Ermittlungen sind 450 elektronische Datenträger mit einem Datenvolumen von rund 20 Terrabyte sowie 392 weitere Asservate sichergestellt worden, die einer aufwändigen Auswertung unterzogen werden mussten. Nicht zuletzt mit Blick auf den Einsatz komplizierter Datenverschlüsselung hat die Auswertung der elektronischen Datenträger die Hinzuziehung von - zum Teil externen - IT-Fachleuten erfordert und sich als sehr zeitaufwändig gestaltet. Überdies sind insgesamt 77 Kontoverbindungen ab dem Jahr 2013 ausgewertet worden. Über 400 Hinweisen aus der Bevölkerung ist nachgegangen worden. Auch die Erhebung umfangreicher Funkzellen- und Verbindungsdaten sowie die Aus- und Bewertung von staatsschutzpolizeilichen Erkenntnissen hat geraume Zeit in Anspruch genommen. Diesem gesteigerten Ermittlungsaufwand ist durch einen entsprechend hohen Personaleinsatz Rechnung getragen worden. Unter dem 4. Dezember 2019 ist der polizeiliche Schlussbericht zur Auswertung der Sachbeweise erstellt worden. Der Generalbundesanwalt hat mit der Fertigung der Anklageschrift bereits begonnen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird Bezug genommen auf seinen Vorlagebericht vom 11. Dezember 2019.
In Anbetracht dessen ist das Verfahren bislang mit der in Haftsachen gebotenen Beschleunigung geführt worden.
6. Schließlich steht der weitere Vollzug der Untersuchungshaft auch nicht außer Verhältnis zu der Bedeutung der Sache und der im Fall einer Verurteilung zu erwartenden Strafe (§ 120 Abs. 1 Satz 1 StPO).
HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 144
Externe Fundstellen: StV 2021, 564
Bearbeiter: Christian Becker