HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 159
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 175/19, Urteil v. 20.11.2019, HRRS 2020 Nr. 159
Auf die Revision der Nebenklägerin A. B. wird das Urteil des Landgerichts Darmstadt vom 29. August 2018 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren verurteilt. Hiergegen richtet sich die auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision der Nebenklägerin, mit der sie eine Verurteilung des Angeklagten wegen Mordes erstrebt. Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge Erfolg.
1. Nach den Feststellungen war der kurdisch-stämmige Angeklagte, verheiratet und Vater von fünf Kindern, unzufrieden und gelangweilt in seiner Ehe, weswegen er stets auf der Suche nach Flirts und Affären war. So lernte er im April 2017 das spätere Tatopfer, die selbstbewusste, weltoffene und ihm intellektuell überlegene, ebenfalls kurdisch-stämmige S. G. kennen. Diese hatte sich nach zwanzig Ehejahren von ihrem Ehemann einvernehmlich getrennt und wohnte mit ihren drei Töchtern in F. Mit der Zeit entwickelte sich die Affäre zwischen dem Angeklagten und S. G. zu einer echten Liebesbeziehung. Während die Familie des Angeklagten von dem Verhältnis zunächst keine Kenntnis hatte, stand die Familie der S. G. dem Angeklagten wegen dessen „bestimmerischen Art“ ablehnend gegenüber. Überschattet war die Beziehung zudem von der extremen - grundlosen - Eifersucht des Angeklagten, der S. G. misstraute und deshalb u.a. ihren Chat-Verkehr nahezu rund um die Uhr überwachte, um ihr dann entsprechende Vorhaltungen und Vorwürfe zu machen. Spätestens im August 2017 zweifelte S. G., die sich überwacht und eingeengt fühlte, ob der Angeklagte wirklich der richtige Partner für sie sein könne.
Am 20. August 2017 kam es im Pkw des Angeklagten auf einem Waldparkplatz zu einer - wiederholten - Aussprache über ihre Beziehung. Als S. G. dem Angeklagten vorhielt, krankhaft eifersüchtig zu sein und ankündigte, die Beziehung beenden sowie eventuell zu ihrem Ehemann zurückkehren zu wollen, kam es zunächst zu einer lautstarken verbalen Auseinandersetzung. Voller Wut gab der Angeklagte der Geschädigten sodann eine Backpfeife, die diese erwiderte, indem sie zurückschlug. Der schwer gekränkte Angeklagte würgte nunmehr die Geschädigte, bis sie verstarb. Dabei handelte er spontan und ungeplant in einer durch Verzweiflung, Ausweglosigkeit und Hoffnungslosigkeit geprägten Gefühlslage vor dem Hintergrund seiner Angst, Eifersucht, Trauer und seiner Zerrissenheit. Anschließend zog er die Leiche aus dem Auto in einen Straßengraben und bedeckte sie mit Sträuchern, bevor er nach Frankreich floh, wo er am 26. August 2017 aufgrund eines Europäischen Haftbefehls festgenommen und von wo er am 14. September 2017 nach Deutschland ausgeliefert wurde.
2. Die Schwurgerichtskammer vermochte nicht die Überzeugung zu gewinnen, dass der Angeklagte die Geschädigte heimtückisch, zur Verdeckung einer Straftat oder aus niedrigen Beweggründen tötete.
Die Revision der Nebenklägerin A. B. ist zulässig.
Der auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revisionsbegründung ist hinreichend deutlich zu entnehmen, dass die Nebenklägerin mit ihrem Rechtsmittel nicht nur - was unzulässig wäre - eine höhere Strafe, sondern in zulässiger Weise eine Verurteilung des Angeklagten wegen Mordes erstrebt und dieses Anfechtungsziel auch mit ihrer nicht näher ausgeführten Sachrüge verfolgt.
Die Rüge ist auch begründet.
1. Die Rüge der Verletzung der Aufklärungspflicht mit dem Ziel einer Verurteilung wegen Mordes ist aus den Gründen der Zuschrift des Generalbundesanwalts unzulässig im Sinne des § 344 Abs. 2 StPO.
2. Die Rüge der Verletzung materiellen Rechts führt zur Aufhebung des Urteils mit den zugrundeliegenden Feststellungen.
Das Nichtvorliegen niedriger Beweggründe hat die Schwurgerichtskammer damit begründet, es bleibe „maßgeblich für den (nicht ausschließbar) spontanen Tatentschluss, die S. G. zu töten, ein Motivbündel aus Angst, Eifersucht, Trauer, Hilflosigkeit, Verzweiflung und [innerer] Zerrissenheit, sich zwischen seiner Familie und seiner großen Liebe zu entscheiden zu müssen“ (UA S. 40).
Welches dieser Motive handlungsleitend gewesen sei, vermochte das Landgericht nicht festzustellen. Die dem zugrunde liegende Beweiswürdigung begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken:
a) Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatrichters (§ 261 StPO). Ihm obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Seine Schlussfolgerungen brauchen nicht zwingend zu sein; es genügt, dass sie möglich sind (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 12. Februar 2015 - 4 StR 420/14, juris Rn. 9 mwN). Das Revisionsgericht hat die tatrichterliche Beweiswürdigung selbst dann hinzunehmen, wenn eine andere Beurteilung näher gelegen hätte oder überzeugender gewesen wäre (vgl. BGH, Urteil vom 24. März 2015 - 5 StR 521/14, juris Rn. 8). Die revisionsgerichtliche Prüfung erstreckt sich allein darauf, ob dem Tatrichter Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, wenn sie gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt oder das Gericht überspannte Anforderungen an die Überzeugungsbildung gestellt hat (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 21. August 2019 - 1 StR 218/19; Senat, Urteil vom 1. Februar 2017 - 2 StR 78/16, juris Rn. 20; BGH, Urteil vom 13. Juli 2016 - 1 StR 94/16, juris Rn. 9). Dabei muss sich aus den Urteilsgründen ergeben, dass die vom Gericht gezogene Schlussfolgerung nicht etwa nur eine Annahme ist oder sich als bloße Vermutung erweist, für die es weder eine belastbare Tatsachengrundlage noch einen gesicherten Erfahrungssatz gibt (vgl. Senat, Beschluss vom 8. November 1996 - 2 StR 534/96, juris Rn. 9; BGH, Urteil vom 27. April 2017 - 4 StR 434/16, juris Rn. 8).
b) Nach diesen Maßstäben hält die Beweiswürdigung zur Tatmotivation des Angeklagten sachlich-rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
aa) Der Angeklagte hat in seinem in der Hauptverhandlung am 22. August 2018 abgelegten, vom Landgericht als glaubhaft bewerteten Geständnis gerade nicht vorgebracht, die Getötete aus Angst, Eifersucht, Trauer, Hilflosigkeit, Verzweiflung und innerer Zerrissenheit erwürgt zu haben. Er hat vielmehr geschildert, die Auseinandersetzung habe damit begonnen, dass die - wegen von ihm vermuteter Sexualkontakte zu anderen Männern zur Rede gestellte - S. G. ihm eröffnet habe, sich von ihm eingeengt zu fühlen und zu erwägen, zu ihrem Ehemann zurückzukehren. Deswegen sei er sehr wütend geworden und habe ihr vorgeworfen, dass er ihretwegen Frau und Kinder aufgegeben habe. Sie hingegen habe ihn angeschrien, was er denke, wer er sei. Es sei ihre Entscheidung, mit wem sie zusammen sei. Er sei ehrlos und seine Frau habe ihn bestimmt verlassen, weil er krankhaft eifersüchtig sei. Durch diese Äußerungen habe er sich sehr gekränkt gefühlt und ihr eine Backpfeife verpasst. Sie habe zurückgeschlagen. Es sei ein Hin und Her entstanden. Plötzlich habe er ihr mit seinen Händen den Hals zugedrückt.
bb) Diese Einlassung drängte zu der naheliegenden Schlussfolgerung, dass der Angeklagte die Getötete aus denselben Beweggründen erwürgte, aus denen heraus er ihr unmittelbar zuvor eine Backpfeife versetzt hatte, nämlich aus Wut und aus Kränkung aufgrund ihrer Äußerungen. Das Landgericht hat es versäumt, diese sich aufdrängende Motivlage in seine Erwägungen einzubeziehen. Die Beweiswürdigung bleibt infolge dieses Erörterungsmangels lückenhaft.
cc) Es ist nicht auszuschließen, dass die Schwurgerichtskammer bei rechtsfehlerfreier Beweiswürdigung zu der Überzeugung gelangt wäre, dass der Angeklagte aus Wut und Kränkung den Entschluss fasste, S. G. zu erwürgen. Auch unter Berücksichtigung des dem Tatrichter insoweit zustehenden Beurteilungsspielraums ist es nicht auszuschließen, dass das Landgericht einen solchen Handlungsantrieb als niedrigen Beweggrund im Sinne des § 211 Abs. 2 StGB bewertet hätte, zumal der Angeklagte angesichts seines eigenen Verhaltens keinen nachvollziehbaren Anlass hatte, sich gekränkt zu fühlen (vgl. BGH, Beschluss vom 12. September 2019 ? 5 StR 399/19).
3. Um dem neu zur Entscheidung berufenen Tatrichter eine umfassende, in sich stimmige Beurteilung der subjektiven Tatseite zu ermöglichen, hebt der Senat das gesamte Urteil mit den Feststellungen auf.
Der neue Tatrichter wird zudem den Anrechnungsmaßstab für die in dieser Sache in Frankreich erlittene Auslieferungshaft zu bestimmen haben.
HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 159
Externe Fundstellen: NStZ 2020, 215
Bearbeiter: Karsten Gaede/Marc-Philipp Bittner