HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 751
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 24/17, Beschluss v. 13.06.2017, HRRS 2017 Nr. 751
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Wiesbaden vom 17. Oktober 2016 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weiter gehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Körperverletzung in drei Fällen zu einer Gesamtgeldstrafe von 90 Tagessätzen zu jeweils fünf Euro verurteilt und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Gegen dieses Urteil richtet sich die auf Formalrügen und sachlichrechtlichen Einwendungen gestützte Revision des Angeklagten.
Die Revision hat mit der Sachrüge den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg und führt zur Aufhebung der Unterbringungsanordnung; im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).
Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
1. Der seit 2014 in einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung untergebrachte, nicht vorbestrafte Angeklagte beging im August und September 2015 in drei Fällen Körperverletzungen zum Nachteil von zwei Mitpatienten und einem Betreuer:
a) Am 4. August 2015 umfasste der Angeklagte mit beiden Händen den Kopf eines Mitpatienten, der ihn zuvor bestohlen hatte; er presste seine Daumen gezielt auf die Augäpfel des Geschädigten, der hierdurch eine Hornhautverletzung erlitt, die nach ambulanter Behandlung folgenlos verheilte.
b) Am 15. September 2015 packte der Angeklagte erneut den Kopf dieses Mitpatienten und versuchte wiederum, seine Daumen auf dessen Augäpfel zu pressen. Dies konnte durch das Eingreifen einer Betreuerin verhindert werden. Sie zog den rund 160 Kilogramm schweren Angeklagten von dem Mitpatienten weg; dieser trug Rötungen an den Augen und oberflächliche Hautverletzungen („Kratzer“) an Gesicht und Hals davon.
c) Am 21. September 2015 griff der Angeklagte einer Mitpatientin mit beiden Händen in den Mund und zog ihre Mundwinkel weit auseinander, bis diese einrissen. Anschließend versuchte er, seine Daumen auf ihre Augäpfel zu pressen. Einem hinzutretenden weiteren Betreuer zog der Angeklagte die Brille vom Gesicht, zerdrückte sie mit beiden Händen und warf sie zu Boden. Er schlug mit beiden Händen auf den Betreuer ein und versuchte, mit „nach oben gerichteten Daumen“ nach dem Geschädigten zu greifen, wodurch dieser eine oberflächliche Hautverletzung unter dem linken Auge erlitt. In dem sich nunmehr entwickelnden Handgemenge warf der Angeklagte den Geschädigten zu Boden, der eine Risswunde unterhalb des linken Auges, zwei Kratzwunden an den Armen, Prellungen an Rippen und Ellenbogen sowie Stauchungen im Bereich der Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäule davontrug; der Geschädigte befand sich mehrere Wochen in orthopädischer und rund zwei Monate in psychotherapeutischer Behandlung.
2. Das Landgericht hat die Taten rechtlich als tatmehrheitliche Vergehen der vorsätzlichen Körperverletzung (§ 223 Abs. 1 StGB) gewürdigt und ist - dem psychiatrischen Sachverständigen Dr. B. folgend - davon ausgegangen, dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten „zum jeweiligen Tatzeitpunkt“ erheblich im Sinne des § 21 StGB eingeschränkt gewesen sei. Es hat Einzelstrafen von 45, 45 und 30 Tagessätzen zu jeweils fünf Euro verhängt und daraus eine Gesamtgeldstrafe von 90 Tagessätzen zu jeweils fünf Euro gebildet.
3. Ausgehend von den Ausführungen des Sachverständigen Dr. B., der bei dem Angeklagten eine als krankhafte seelische Störung einzuordnende „hirnorganische Schädigung“ mit Verhaltensauffälligkeiten diagnostiziert und ausgeführt hatte, dass der Angeklagte „inadäquat in seinen Reaktionsmechanismen“, „in seiner Frustrationstoleranz defizitär, im innerpsychischen Spannungsbogen brüchig und in seiner Fähigkeit, Spannungen auszuhalten, erheblich defizitär“ sei und „eine ausgeprägte Neigung zu impulsiven, aggressiven und übergriffigen Handlungsmustern“ zeige, ist die Strafkammer zu der Überzeugung gelangt, dass ein überdauernder Zustand im Sinne des § 63 StGB vorliege und zu befürchten sei, dass der Angeklagte „infolge seines Zustands“ auch künftig weitere erhebliche rechtswidrige Taten begehen werde und deshalb für die Allgemeinheit gefährlich sei.
Die Überprüfung des Urteils zeigt zum Schuld- und zum Strafausspruch keinen den Angeklagten beschwerenden Rechtsfehler auf. Jedoch hält der Maßregelausspruch rechtlicher Überprüfung nicht stand.
1. Die grundsätzlich unbefristete Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB ist eine außerordentlich belastende Maßnahme, die einen besonders gravierenden Eingriff in die Rechte des Betroffenen darstellt. Sie darf nur angeordnet werden, wenn zweifelsfrei feststeht, dass der Unterzubringende bei der Begehung der Anlasstaten aufgrund eines psychischen Defekts schuldunfähig oder vermindert schuldfähig war und die Tatbegehung hierauf beruht. Die Unterbringung erfordert darüber hinaus eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades, dass der Unterzubringende infolge seines fortdauernden Zustandes in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden.
Erforderlich ist danach zunächst die positive Feststellung eines länger andauernden, nicht nur vorübergehenden Zustands, der zumindest eine erhebliche Einschränkung der Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB sicher begründet (st. Rspr., vgl. nur BGH, Urteil vom 6. März 1986 - 4 StR 40/86, BGHSt 34, 22, 27; Beschluss vom 6. Februar 1997 - 4 StR 672/96, BGHSt 42, 385 f.; Senat, Beschluss vom 1. April 2014 - 2 StR 602/13, insoweit in NStZ-RR 2014, 207 nicht abgedruckt; BGH, Beschluss vom 19. Januar 2017 - 4 StR 595/16).
Hinzutreten muss die positive Feststellung, dass der Täter infolge seines Zustandes in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird. Diese Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens sowie der von ihm begangenen Anlasstaten zu entwickeln (st. Rspr., vgl. nur BGH, Beschluss vom 7. Juni 2016 - 4 StR 79/16, NStZ-RR 2016, 306). An die Darlegungen in den Urteilsgründen sind umso höhere Anforderungen zu stellen, je mehr es sich bei dem zu beurteilenden Sachverhalt - wie hier - unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (§ 62 StGB) um einen Grenzfall handelt (Senat, Beschluss vom 16. März 2017 - 2 StR 53/17; BGH, Beschluss vom 8. Januar 2014 - 5 StR 602/13, NJW 2014, 565, 566).
2. Gemessen hieran sind die Unterbringungsvoraussetzungen nicht tragfähig belegt.
a) Zur Frage des überdauernden Zustands ist die Strafkammer dem Sachverständigen Dr. B. gefolgt und hat angenommen, dass das Eingangsmerkmal der krankhaften seelischen Störung erfüllt sei, weil der Angeklagte eine organische Wesensveränderung als Folge einer frühkindlichen Hirnschädigung aufweise; er neige zu impulsiven, aggressiven und übergriffigen Handlungsmustern, wobei „es sehr plötzlich und unvorhersehbar zu Übergriffen“ kommen könne.
b) Damit ist ein überdauernder Zustand im Sinne des § 63 StGB nicht tragfähig belegt. Die Urteilsgründe lassen - worauf der Generalbundesanwalt in seiner Zuschrift zutreffend hingewiesen hat - besorgen, dass das Landgericht allein hierin einen länger dauernden Zustand im Sinne des § 63 StGB gesehen und angenommen hat, dass die verfahrensgegenständlichen Taten unmittelbarer Ausfluss der psychischen Erkrankung sind. Dabei hat es nicht erkennbar bedacht, dass der länger dauernde Zustand so beschaffen sein muss, dass bereits alltägliche Ereignisse die akute erhebliche Beeinträchtigung der Schuldfähigkeit auslösen können (Senat, Urteil vom 17. Februar 1999 - 2 StR 483/98, BGHSt 44, 369, 376; BGH, Urteil vom 9. Mai 2017 - 1 StR 658/16). Eine auf eine frühkindliche Hirnschädigung zurückzuführende Disposition des Angeklagten, in bestimmten Belastungssituationen wegen mangelnder Fähigkeit zur Impulskontrolle in einen Zustand erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit zu geraten, genügt deshalb zur sicheren Annahme eines dauernden Zustands im Sinne des § 63 StGB nicht (vgl. Senat, Beschluss vom 26. Januar 2007 - 2 StR 582/06, BGHR StGB § 63 Zustand 39; BGH, Beschluss vom 10. Januar 2008 - 4 StR 626/07, NStZ-RR 2008, 140, 141; vgl. auch Beschlüsse vom 17. Oktober 2001 - 3 StR 373/01, NStZ 2002, 142, und vom 5. Juli 2011 - 3 StR 173/11, NStZ 2012, 209).
Den in den Urteilsgründen niedergelegten Feststellungen und Wertungen, die sich in einer fragmentarischen Wiedergabe der Ausführungen des Sachverständigen erschöpfen und eine eigenständige Wertung fast vollständig vermissen lassen, lässt sich nicht sicher entnehmen, ob der Angeklagte bereits durch alltägliche Ereignisse oder nur in besonderen Belastungssituationen in einen Zustand verminderter Schuldfähigkeit gerät.
Nicht erkennbar berücksichtigt hat die Strafkammer in diesem Zusammenhang, dass der zum Zeitpunkt der Aburteilung 37 Jahre alte Angeklagte nach den Feststellungen erst mit seiner im August 2014 erfolgten Aufnahme in die Einrichtung aggressiv und übergriffig agierte. Vergleichbare Verhaltensweisen aus früheren Lebensphasen und unter anderen Lebensbedingungen finden sich in den Urteilsgründen nicht. Soweit der Sachverständige Dr. B. in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen hat, dass nunmehr eine „Verhaltensänderung“ eingetreten sei, erschließt sich nicht, worauf eine solche Verhaltensänderung beruhen könnte; unklar bleibt außerdem, ob es sich um eine dauerhafte, unumkehrbare und von äußeren Umständen unabhängige Verhaltensänderung handelt.
Die Strafkammer hat schließlich nicht geprüft, ob die innerhalb der Einrichtung aufgetretenen, den Angeklagten möglicherweise besonders belastenden Situationen im Vorfeld der jeweiligen Taten dazu geführt haben können, dass der Angeklagte zu den verfahrensgegenständlichen Tatzeitpunkten nicht mehr in der Lage gewesen ist, aggressive Impulse zu steuern und zu beherrschen. Hierfür könnten die Hinweise auf die jeweilige Vorgeschichte der drei Taten sprechen, die das Landgericht im Übrigen im Rahmen der Strafzumessung zugunsten des Angeklagten berücksichtigt hat. Danach hatte sich der geschädigte Mitpatient D. mehrfach in das Zimmer des Angeklagten begeben und dort in dessen Eigentum stehende Gegenstände entwendet. Die Geschädigte F. hatte dem Angeklagten Angst eingejagt. Ob der Angeklagte bei diesen und weiteren Vorfällen jeweils aufgrund einer besonderen, nicht alltäglichen Belastung in eine Druck- und Überforderungssituation geraten war, hätte bei dieser Sachlage eingehender Erörterung bedurft.
2. Auch die Erwägungen, mit denen die Strafkammer ihre Erwartung begründet hat, dass vom Angeklagten in Zukunft erhebliche rechtswidrige Straftaten zu erwarten sind (vgl. § 63 Satz 1 StGB nF), halten rechtlicher Überprüfung nicht stand. Sie sind unklar und lückenhaft.
a) Eine Straftat von erheblicher Bedeutung im Sinne des § 63 Satz 1 StGB nF liegt vor, wenn sie mindestens dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzurechnen ist, den Rechtsfrieden empfindlich stört und geeignet ist, das Gefühl der Rechtssicherheit der Bevölkerung erheblich zu beeinträchtigen (BGH, Beschluss vom 18. Juli 2013 - 4 StR 168/13, NJW 2013, 3383, 3385; BVerfG, Beschluss vom 24. Juli 2013 - 2 BvR 298/12, NStZ-RR 2014, 305). Diese bereits durch die Rechtsprechung zu dem bis 31. Juli 2016 geltenden Recht herausgebildeten Anforderungen sind durch § 63 Satz 1 StGB in der geltenden Fassung dahingehend konkretisiert worden (vgl. BT-Drucks. 18/7244 S. 17 f.), dass nur die Erwartung solcher erheblichen rechtswidrigen Taten ausreicht, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird.
Straftaten, die - wie die einfache Körperverletzung - im Höchstmaß mit einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren bedroht sind, sind nicht ohne Weiteres dem Bereich der mittleren Kriminalität zuzurechnen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 24. Juli 2013 - BvR 298/12, juris Rn. 28). Daher vermag nicht jede einfache Körperverletzung im Sinne des § 223 StGB eine Unterbringung nach § 63 StGB rechtfertigen (BGH, Beschluss vom 22. Juli 2010 - 5 StR 256/10, NStZ-RR 2011, 12, 13; Beschluss vom 25. Februar 2015 - 4 StR 544/13; vgl. auch BT-Drucks. 18/7244, S. 18).
b) Auch im Hinblick auf die Gefahrenprognose hat sich die Kammer auf die Wiedergabe der Ausführungen des Sachverständigen Dr. B. beschränkt und sich dessen Ausführungen zu eigen gemacht. Dabei bleibt unklar, ob sie sich dem Sachverständigen Dr. B. auch insoweit angeschlossen hat, als dieser die verfahrensgegenständlichen Angriffe des Angeklagten auf den Zeugen D. als „lebensbedrohend“ eingeordnet hat. Ob das Landgericht sich diese Einschätzung des Sachverständigen, die in den Bereich ureigener richterlicher Wertung übergreift, zu eigen gemacht hat, erscheint fraglich. Hiergegen könnte sprechen, dass es die jeweiligen Taten zum Nachteil des Geschädigten D. sowie das Verletzungsgeschehen zum Nachteil eines Betreuers - rechtlich unbedenklich - jeweils als „einfache“ Körperverletzungen im Sinne des § 223 StGB gewürdigt hat. Auch die Verhängung maßvoller, sich am unteren Ende des Strafrahmens bewegender Geldstrafen spricht dagegen, dass die Strafkammer dieser sachverständigen Bewertung gefolgt ist.
Vor diesem Hintergrund hätte die Gefahrenprognose jedoch einer sorgfältigeren, auf eigenen prognostischen Erwägungen gründenden Darlegung in den Urteilsgründen bedurft. Dabei hätte neben dem konkreten Gewicht der Anlasstaten in die prognostischen Erwägungen eingestellt werden müssen, dass der Angeklagte bislang strafrechtlich noch nicht in Erscheinung getreten ist und er sich nach den Taten für sein Fehlverhalten entschuldigt hat. Der Erörterung hätte außerdem bedurft, dass der Angeklagte die verfahrensgegenständlichen Taten und die im Rahmen der anschließenden vorläufigen Unterbringung festgestellten Übergriffe auf Bedienstete unter besonderen Bedingungen - im Rahmen einer Betreuungseinrichtung bzw. im Rahmen der vorläufigen Unterbringung im Maßregelvollzug - begangen hat. Auch diese Besonderheiten hätten im Rahmen der erforderlichen umfassenden Prognoseentscheidung nicht unberücksichtigt bleiben dürfen (vgl. BGH, Beschluss vom 25. April 2012 - 4 StR 81/12, NStZ-RR 2012, 271 mwN; Beschluss vom 22. Februar 2011 - 4 StR 635/10, NStZ-RR 2011, 202, 203).
Die Sache bedarf daher, zweckmäßigerweise unter Hinzuziehung eines anderen Sachverständigen, im Umfang der Aufhebung neuer Verhandlung und Entscheidung.
HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 751
Externe Fundstellen: NStZ-RR 2017, 308; StV 2019, 257
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede