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HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 242

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 459/16, Beschluss v. 24.01.2017, HRRS 2017 Nr. 242


BGH 2 StR 459/16 - Beschluss vom 24. Januar 2017 (LG Kassel)

Heimtückemord (Zeitpunkt des Vorliegens der Arg- und Wehrlosigkeit: erforderliches gleichzeitiges Bestehen von Tötungsvorsatz); Schuldunfähigkeit (dissoziale Persönlichkeitsstörung als andere schwere soziale Abartigkeit: erhebliche Verminderung des Hemmungsvermögens); Anordnung der Sicherungsverwahrung bei gleichzeitiger lebenslanger Freiheitsstrafe (nur ausnahmsweise gleichzeitige Anordnung, erforderliche Ermessensentscheidung des Gerichts).

§ 211 StGB; § 20 StGB; § 66 Abs. 2, Abs. 3 StGB; § 267 Abs. 6 Satz 1 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Für die Bewertung der Tat als heimtückisch ist grundsätzlich der Zeitpunkt des ersten mit Tötungsvorsatz ausgeführten Angriffs maßgeblich ist. Die Rechtsprechung hat den Grundsatz, dass Heimtücke die Arglosigkeit des Angegriffenen bei Tatbeginn voraussetzt, für Ausnahmefälle modifiziert (vgl. BGH NStZ 2016, 340, 341). Ein solcher Ausnahmefall liegt zum Beispiel vor, wenn der Täter das Opfer mit Tötungsvorsatz in einen Hinterhalt lockt, um eine günstige Gelegenheit zur Tötung zu schaffen, und die entsprechenden Vorkehrungen und Maßnahmen bei Ausführung der Tat noch fortwirken (vgl. BGH NStZ 1989, 364). Auch in den Ausnahmefällen hat die Rechtsprechung aber stets daran festgehalten, dass der Täter bereits in diesem Moment mit Tötungsvorsatz gehandelt haben muss (vgl. BGH NStZ 2015, 31 f.).

2. Ist eine „ausgeprägte“ dissoziale Persönlichkeitsstörung diagnostiziert, kommt eine Bewertung des Zustandsbildes als schwere andere seelische Abartigkeit in Betracht. Die Annahme, eine dissoziale Persönlichkeitsstörung sei niemals eine seelische Abartigkeit im Sinne der §§ 20, 21 StGB, wäre ebenso fehlerhaft, wie die Behauptung, derartige Persönlichkeitsstörungen erfüllten stets die Voraussetzungen eines Eingangsmerkmals (vgl. BGHSt 37, 397, 400 f.). Die Fragen, ob eine festgestellte seelische Abartigkeit in Form einer „ausgeprägten“ dissozialen Persönlichkeitsstörung schwer gewesen ist und ob sie bei der Begehung der Tat die Fähigkeit des Angeklagten, sich entsprechend einer vorhandenen Einsicht in das Unrecht der Tat zu steuern, erheblich vermindert hat, sind durch Gesamtwürdigung der Persönlichkeit, ihrer Entwicklung, der Vorgeschichte und des unmittelbaren Anlasses sowie der Ausführung der Tat und des Nachtatverhaltens zu prüfen. Der Vergleich mit den Auswirkungen krankhafter seelischer Störungen hat sich nicht notwendig an solchen Krankheitsbildern zu orientieren, die zu einem Ausschluss der Schuldfähigkeit führen. Der Vergleich mit schwächeren Formen kann genügen (vgl. BGHSt 37, 397, 401 f.).

3. Im Allgemeinen führen Persönlichkeitsstörungen zwar nicht zur Aufhebung der Unrechtseinsicht oder der Steuerungsfähigkeit; sie können aber eine erhebliche Verminderung des Hemmungsvermögens zur Folge haben (vgl. BGHSt 49, 45, 54).

4. Zwar hat der Bundesgerichtshof für die Fälle der zwingenden Maßregelanordnung nach § 66 Abs. 1 StGB angenommen, dass diese neben der Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe in Betracht kommt. Damit soll dem Sicherungsrisiko für den Fall des Wegfalls der lebenslangen Freiheitsstrafe aufgrund einer Revision oder eines Wiederaufnahmeantrags des Angeklagten entgegengewirkt werden, gegen den eine zunächst nicht verhängte Maßregel gemäß § 66 StGB wegen des Verschlechterungsverbots gemäß § 358 Abs. 2 Satz 1 oder § 373 Abs. 2 Satz 1 StPO neben einer verbleibenden zeitigen Freiheitsstrafe nicht mehr angeordnet werden könnte (vgl. BGHSt 59, 56, 61 ff.).

5. Dies enthebt aber die Gerichte im Erkenntnisverfahren jedenfalls im Fall einer Ermessensentscheidung gemäß § 66 Abs. 2 oder Abs. 3 StGB nicht von der Berücksichtigung der Tatsache, dass es voraussichtlich nie zur Vollziehung der Maßregel kommen kann, wenn der Angeklagte auch zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wird. Der Bundesgerichtshof hat deshalb für Maßregelanordnungen nach § 66 Abs. 2 und Abs. 3 StGB ausgeführt, dass eine solche regelmäßig nicht erforderlich ist, wenn auch eine lebenslange Freiheitsstrafe verhängt wird (vgl. BGH NStZ 2013, 524). Es ist nämlich nahezu ausgeschlossen, dass es dann jemals zur Vollstreckung der Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung kommt, weil der Angeklagte nach Vollstreckung der Mindestverbüßungsdauer der lebenslangen Freiheitsstrafe nur bedingt entlassen werden kann, sofern er nicht mehr als gefährlich angesehen werden kann; fällt dagegen die Legalprognose negativ aus, bleibt es bei der Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Kassel vom 28. Juni 2016 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben,

a) soweit er wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zum Nachteil der Zeugin B. verurteilt wurde,

b) im Ausspruch über die Gesamtfreiheitsstrafe und die Maßregel. 2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen. 3. Die weiter gehende Revision des Angeklagten wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe als Gesamtstrafe verurteilt sowie seine Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Außerdem hat es eine Adhäsionsentscheidung getroffen. Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Angeklagten mit der Sachrüge. Das Rechtsmittel hat in dem aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Umfang Erfolg.

I.

1. Nach den Feststellungen des Landgerichts wollte der Angeklagte am 7. Oktober 2015 gegen 21.45 Uhr bei einem Einkaufsmarkt Leergut abgeben und Bier kaufen. Er führte eine Plastiktüte mit Leergut sowie ein Küchenmesser mit. Nachdem er auf seinem Fußweg zum Einkaufsmarkt die Zeugin Z., die ihren Hund ausführte, sexuell bedrängt, von dieser aber bald wieder abgelassen hatte, begegnete er den Zeuginnen Be. und B., die sich vor einem Hotel stehend unterhielten. Der Angeklagte wollte auf dem Bürgersteig zwischen den Zeuginnen hindurch gehen. Als er die Zeugin Be. erreichte, drehte er sich zu dieser um und stach unvermittelt mit dem Küchenmesser in Richtung ihres Bauches. Er glaubte, die Zeuginnen hätten sich abfällig über ihn als vorbestraften Sexualstraftäter unterhalten, worüber er verärgert war. Er wollte die Zeugin Be. verletzen und nahm deren Tod billigend in Kauf. Sein Messerstich traf die Handtasche der Geschädigten, die diese vor dem Bauch trug. Bei weiteren Stichbewegungen verletzte der Angeklagte die sich wehrende Zeugin Be. an der Hand.

Die Zeugin B. erkannte den Angriff auf die Zeugin Be., sie sah allerdings das Messer nicht und ging von einem Schlag des Angeklagten aus. Sie wollte weglaufen, um Hilfe zu holen, weil sie weitere Schläge des Angeklagten gegen die Zeugin Be. befürchtete und sich „auch selbst in Gefahr“ sah. „Dabei prallte sie gegen den unmittelbar neben ihr auf dem Gehweg befindlichen Stromkasten. Dies bemerkte der Angeklagte und entschloss sich nunmehr die Zeugin B. mit dem Messer anzugreifen. Er ließ freiwillig von der Zeugin Be. ab, drehte sich blitzschnell zur Zeugin B. um, hielt sie an ihrer Jacke fest und drückte sie in die aus der Hotelmauer und dem Stromkasten gebildete Ecke, wobei der Angeklagte in Tötungsabsicht sofort kräftig auf die Geschädigte mit dem Messer einstach, zunächst zweimal in das rechte Bein und sodann in den Bauch.

Die Zeugin B. wurde von dem plötzlichen Angriff überrascht und konnte aufgrund dessen zunächst nicht abwehrend reagieren, was der Angeklagte bewusst zur Tatbegehung ausnutzte. Erst nach dem Bauchstich erkannte sie, dass der körperlich überlegene Angeklagte ein Messer in der Hand hielt, fiel daraufhin zu Boden und blieb auf dem Rücken liegen. Obwohl sie sich nunmehr nach Kräften wehrte und versuchte mit dem Oberarm ihr Gesicht und ihren Hals zu schützen, konnte sie nicht verhindern, dass sich der Angeklagte in Beckenhöhe auf sie setzte und weiter kraftvoll mit dem Messer vor allem auf ihren Oberkörper einstach.“ Als der Angeklagte schließlich versuchte, der Zeugin B. mit dem Messer in den Hals zu schneiden, kam ihr der Zeuge A. zu Hilfe. Dieser zog den Angeklagten von der Zeugin B. herunter und warf ihn zu Boden. Der Zeuge A. konnte dem Angeklagten das Messer entwinden. Nach einem Gerangel wurde der Angeklagte festgehalten, konnte noch kurzzeitig entfliehen, wurde aber verfolgt und gestellt. Die schwer verletzte Zeugin B. wurde durch den Einsatz eines Notarztes und eine anschließende Notoperation im Krankenhaus gerettet.

2. Das Landgericht hat angenommen, der Angeklagte sei vom Versuch der Tötung der Zeugin Be. strafbefreiend zurückgetreten. Jedoch falle ihm eine gefährliche Körperverletzung zum Nachteil dieser Zeugin zur Last. Der Angriff auf die Zeugin B. sei eine rechtlich selbständige Handlung. Diese Tat sei als Versuch des Mordes zu bewerten, weil der Angeklagte heimtückisch gehandelt habe. Die Zeugin B. sei arg- und wehrlos gewesen. Maßgeblich sei dafür zwar die Lage bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs. Allerdings sei das Opfer auch dann noch arglos, wenn ihm der Täter offen feindselig entgegentrete, die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff aber so kurz bemessen sei, dass dem Opfer keine Möglichkeit mehr bleibe, dem Angriff zu begegnen. Unter dem Angriff sei dabei nicht nur die eigentliche Tötungshandlung, sondern auch die unmittelbar davor liegende Phase zu verstehen.

Ein Tötungsversuch aus niedrigen Beweggründen scheide aus, weil der Angeklagte irrtümlich davon ausgegangen sei, die Zeuginnen hätten sich abfällig über ihn geäußert.

II.

1. Das Urteil ist rechtlich nicht zu beanstanden, soweit der Angeklagte wegen gefährlicher Körperverletzung zum Nachteil der Zeugin Be. verurteilt wurde. Seine Revision ist jedoch begründet, soweit sie die Verurteilung wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zum Nachteil der Zeugin B. beanstandet.

a) Die Annahme eines heimtückisch begangenen Tötungsversuchs begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

Zutreffend ist das Landgericht davon ausgegangen, dass für die Bewertung als heimtückisch begangene Tat der Zeitpunkt des ersten mit Tötungsvorsatz ausgeführten Angriffs maßgeblich ist. Zu dieser Zeit ging die Zeugin B. allerdings schon davon aus, dass der Angeklagte nach der Verletzung der Zeugin Be. auch sie angreifen werde. Sie war daher nicht mehr arglos und nur wegen Arglosigkeit wehrlos.

Die Rechtsprechung hat den Grundsatz, dass Heimtücke die Arglosigkeit des Angegriffenen bei Tatbeginn voraussetzt, für Ausnahmefälle modifiziert (vgl. BGH, Urteil vom 3. September 2015 - 3 StR 242/15, NStZ 2016, 340, 341; Beschluss vom 28. Juni 2016 - 3 StR 120/16, NJW 2016, 2899; weitere Nachweise zur „Zeitregel“ und ihren Ausnahmen bei Küper, GA 2014, 611 ff.). Ein solcher Ausnahmefall liegt zum Beispiel vor, wenn der Täter das Opfer mit Tötungsvorsatz in einen Hinterhalt lockt, um eine günstige Gelegenheit zur Tötung zu schaffen, und die entsprechenden Vorkehrungen und Maßnahmen bei Ausführung der Tat noch fortwirken (vgl. BGH, Beschluss vom 7. April 1989 - 3 StR 83/89, NStZ 1989, 364). Die Verurteilung wegen versuchten Heimtückemordes kann im vorliegenden Fall aber auch nicht auf eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass Heimtücke die Arglosigkeit des Angegriffenen bei Beginn des Angriffs auf Leib oder Leben voraussetzt, gestützt werden. Auch in den Ausnahmefällen hat die Rechtsprechung stets daran festgehalten, dass der Täter bereits in diesem Moment mit Tötungsvorsatz gehandelt haben muss (vgl. BGH, Beschluss vom 6. November 2014 - 4 StR 416/14, NStZ 2015, 31 f. mit Anm. Engländer). Daran fehlt es hier. Der Angeklagte hat sich nach den getroffenen Feststellungen zum Angriff auf die Zeugin B. erst entschlossen, nachdem diese sich angesichts des Angriffs auf die Zeugin Be. zur Flucht gewandt hatte, weil sie auch einen Angriff auf ihre eigene körperliche Unversehrtheit befürchtete.

Die Voraussetzungen des Mordmerkmals der Heimtücke liegen deshalb nicht vor; andere Mordmerkmale hat das Landgericht verneint. Das Urteil kann daher keinen Bestand haben, soweit es die Tat zum Nachteil der Zeugin B. betrifft. Der Aufhebung unterliegt zugleich die für sich genommen rechtsfehlerfrei erfolgte Verurteilung wegen tateinheitlich begangener gefährlicher Körperverletzung.

Der Senat hebt - nur insoweit abweichend vom Antrag des Generalbundesanwalts - die zugehörigen Feststellungen mit auf. Wegen des Wertungsfehlers ist nämlich auch die unzutreffende Feststellung getroffen worden, die Zeugin B. sei von dem Angriff überrascht worden, habe aufgrund dessen nicht abwehrend reagieren können und der Angeklagte habe diese Arg- und Wehrlosigkeit bewusst zur Tatbegehung ausgenutzt.

b) Mit der Aufhebung des Schuldspruchs wegen der Tat zum Nachteil der Zeugin B. entfallen die lebenslange Freiheitsstrafe als Einzelstrafe sowie die Gesamtstrafe. Ferner hebt der Senat den Maßregelausspruch auf, weil die Verurteilung wegen versuchten Mordes ein wesentlicher Grund der Anordnung der Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung nach dem Ermessen des Gerichts gemäß § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB war.

2. Der zugunsten der Zeugin B. ergangene Ausspruch im Adhäsionsverfahren bleibt unberührt. Über ihre Anträge hat wiederum der neue Tatrichter zu entscheiden (vgl. Senat, Urteil vom 28. November 2007 - 2 StR 477/07, BGHSt 52, 96, 98).

3. Für die neue Verhandlung und Entscheidung weist der Senat auf Folgendes hin:

a) Bedenken bestehen gegen die Annahme des Landgerichts, dass die Voraussetzungen des § 21 StGB nicht vorliegen.

Das Landgericht hat - dem psychiatrischen Sachverständigen folgend - eine dissoziale Persönlichkeitsstörung festgestellt, aber angemerkt, dass diese „trotz ihrer starken Ausprägung keinen Krankheitswert“ habe. Die durch die Persönlichkeitsstörung hervorgerufenen psychosozialen Leistungseinbußen seien nicht mit den Defiziten vergleichbar, die als Folge krankhafter seelischer Störungen auftreten. Der Angeklagte habe in der Haft eine Umschulung absolviert, bereits während der Inhaftierung eine partnerschaftliche Beziehung unterhalten, aus der eine Tochter hervorgegangen sei, und er habe „unter den strukturierten Haftbedingungen weitgehend gut funktioniert, nach der Entlassung mit seiner Partnerin eine gemeinsame Wohnung bezogen, von Sozialleistungen gelebt und die fünfjährige Führungsaufsichtszeit durchgestanden.“ Zuletzt habe er sich um eine neue Wohnung und einen Arbeitsplatz bemüht und dadurch seine Fähigkeit zur sozialen Kommunikation unter Beweis gestellt.

Diese Wertung lässt die Feststellung außer Betracht, dass der Angeklagte zwar schon in der Haftzeit Partnerschaften hatte, „die jedoch äußerst konflikthaft verlaufen seien und in letzter Konsequenz zu delinquentem Verhalten geführt hätten.“ Die letzte Beziehung zu einer Partnerin „verlief seit 2012 konflikthaft und führte im März 2014 zu einer Körperverletzung zum Nachteil seiner Partnerin, aufgrund derer sie sich im Sommer 2014 von ihm trennte und ins Frauenhaus zog, bevor sie anschließend eine eigene Wohnung in H. fand. Nachdem man sich zwischenzeitlich versöhnt hatte, plante der Angeklagte zuletzt ebenfalls nach H. in eine eigene Wohnung zu ziehen. Er bemühte sich dort bereits um eine Wohnung und einen Arbeitsplatz.“ Daraus ist nicht in nachvollziehbarer Weise abzuleiten, dass der Angeklagte „sein dissoziales Verhalten beherrschen und vermeiden könne, wenn er dies nur wolle.“ Geringe Frustrationstoleranz, die Unfähigkeit zu einem Schuldbewusstsein und das anhaltende Verleugnen oder Bagatellisieren früherer Straftaten hat das Landgericht festgestellt, aber nicht erkennbar in die Bewertung der Schwere der anderen seelischen Abartigkeit einbezogen. Frühere Anpassungen des Angeklagten an die strukturierten Bedingungen in der Haft und das Leben von Sozialleistungen nach der bedingten Entlassung sind von geringer Aussagekraft für seine psychosoziale Leistungsfähigkeit. Die vom Landgericht übernommene abweichende Aussage des psychiatrischen Sachverständigen lässt besorgen, dass ein fehlerhafter Beurteilungsmaßstab zugrunde gelegt wurde.

Ist eine „ausgeprägte“ dissoziale Persönlichkeitsstörung diagnostiziert, kommt eine Bewertung des Zustandsbildes als schwere andere seelische Abartigkeit in Betracht. Die Annahme, eine dissoziale Persönlichkeitsstörung sei niemals eine seelische Abartigkeit im Sinne der §§ 20, 21 StGB, wäre ebenso fehlerhaft, wie die Behauptung, derartige Persönlichkeitsstörungen erfüllten stets die Voraussetzungen eines Eingangsmerkmals (vgl. BGH, Urteil vom 4. Juni 1991 - 5 StR 122/91, BGHSt 37, 397, 400 f.). Die Fragen, ob eine festgestellte seelische Abartigkeit in Form einer „ausgeprägten“ dissozialen Persönlichkeitsstörung schwer gewesen ist und ob sie bei der Begehung der Tat die Fähigkeit des Angeklagten, sich entsprechend einer vorhandenen Einsicht in das Unrecht der Tat zu steuern, erheblich vermindert hat, sind durch Gesamtwürdigung der Persönlichkeit, ihrer Entwicklung, der Vorgeschichte und des unmittelbaren Anlasses sowie der Ausführung der Tat und des Nachtatverhaltens zu prüfen. Der Vergleich mit den Auswirkungen krankhafter seelischer Störungen hat sich auch entgegen der Akzentsetzung des Sachverständigen, die das Landgericht akzeptiert hat, nicht notwendig an solchen Krankheitsbildern zu orientieren, die zu einem Ausschluss der Schuldfähigkeit führen. Der Vergleich mit schwächeren Formen kann genügen (BGH aaO, BGHSt 37, 397, 401 f.). Die festgestellte Ausgeprägtheit der festgestellten dissozialen Persönlichkeitsstörung des Angeklagten spricht für deren rechtliche Einordnung als schwere andere seelische Abartigkeit.

Maßgeblich wäre danach gegebenenfalls die weitere Frage, ob die Steuerungsfähigkeit des Täters bei der Begehung der Tat infolge dieser Störung erheblich eingeschränkt war. Im Allgemeinen führen Persönlichkeitsstörungen nämlich zwar nicht zur Aufhebung der Unrechtseinsicht oder der Steuerungsfähigkeit; sie können aber eine erhebliche Verminderung des Hemmungsvermögens zur Folge haben (vgl. BGH, Urteil vom 21. Januar 2004 - 1 StR 346/03, BGHSt 49, 45, 54). Dafür hat der Tatrichter auch die Entwicklung des Tatgeschehens in den Blick zu nehmen, die sich - unbeschadet des begrenzten Verfahrensgegenstands im engeren Sinn - hier von dem sexuellen Übergriff des Angeklagten auf die Zeugin Z. über die kurz darauf erfolgte gefährliche Körperverletzung zum Nachteil der Zeugin Be. bis zu dem Versuch der Tötung der Zeugin B. im Beisein der Zeugin Be. erstreckte. Die Urteilsgründe lassen besorgen, dass die motivationalen Zusammenhänge dieses komplexen Geschehens vom Landgericht nicht erschöpfend im Hinblick auf die Fragen gewürdigt wurden, ob die darin auch zum Ausdruck kommende seelische Abartigkeit des Angeklagten schwer und die hierdurch bedingte Verminderung seines Hemmungsvermögens erheblich gewesen ist.

b) Der neue Tatrichter wird gegebenenfalls auch das Vorliegen der Voraussetzungen der Maßregel gemäß § 66 Abs. 3 Satz 2 StGB dahin zu prüfen haben, dass für eine Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung neben der Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe - gegebenenfalls - kein Bedarf besteht.

Zwar hat der Bundesgerichtshof für die Fälle der zwingenden Maßregelanordnung nach § 66 Abs. 1 StGB angenommen, dass diese neben der Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe in Betracht kommt. Damit soll dem Sicherungsrisiko für den Fall des Wegfalls der lebenslangen Freiheitsstrafe aufgrund einer Revision oder eines Wiederaufnahmeantrags des Angeklagten entgegengewirkt werden, gegen den eine zunächst nicht verhängte Maßregel gemäß § 66 StGB wegen des Verschlechterungsverbots gemäß § 358 Abs. 2 Satz 1 oder § 373 Abs. 2 Satz 1 StPO neben einer verbleibenden zeitigen Freiheitsstrafe nicht mehr angeordnet werden könnte (BGH, Urteil vom 24. Oktober 2013 - 4 StR 124/13, BGHSt 59, 56, 61 ff. mit Anm. Kemme, HRRS 2014, 174 ff.; s.a. Kett-Straub, Die lebenslange Freiheitsstrafe, 2011, S. 321 f.). Dies enthebt aber die Gerichte im Erkenntnisverfahren jedenfalls im Fall einer Ermessensentscheidung gemäß § 66 Abs. 2 oder Abs. 3 StGB nicht von der Berücksichtigung der Tatsache, dass es voraussichtlich nie zur Vollziehung der Maßregel kommen kann, wenn der Angeklagte auch zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wird.

Der Bundesgerichtshof hat deshalb für Maßregelanordnungen nach § 66 Abs. 2 und Abs. 3 StGB ausgeführt, dass eine solche regelmäßig nicht erforderlich ist, wenn auch eine lebenslange Freiheitsstrafe verhängt wird (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Dezember 2012 - 2 StR 325/12; Urteil vom 25. Juli 2012 - 2 StR 111/12, BGHR StGB § 66 Abs. 2 Ermessensentscheidung 8; Urteil vom 10. Januar 2013 - 3 StR 330/12; Urteil vom 12. Juni 2013 - 5 StR 129/13, NStZ 2013, 524; Beschluss vom 17. April 2014 - 3 StR 355/13, NStZ-RR 2014, 207; s.a. Dessecker in Festschrift für Ostendorf, 2015, 197, 201 ff.; Kett-Straub, aaO S. 334; Kreuzer, NK 2016, 307, 317 f.). Es ist nämlich nahezu ausgeschlossen, dass es dann jemals zur Vollstreckung der Unterbringung des Angeklagten in der Sicherungsverwahrung kommt, weil der Angeklagte nach Vollstreckung der Mindestverbüßungsdauer der lebenslangen Freiheitsstrafe nur bedingt entlassen werden kann, sofern er nicht mehr als gefährlich angesehen werden kann; fällt dagegen die Legalprognose negativ aus, bleibt es bei der Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe.

HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 242

Externe Fundstellen: StV 2020, 22

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede