HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 874
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 120/16, Beschluss v. 28.06.2016, HRRS 2016 Nr. 874
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Duisburg vom 2. Dezember 2015
im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte des versuchten Mordes in zwei tateinheitlich zusammentreffenden Fällen in Tateinheit mit versuchtem Totschlag schuldig ist;
im Strafausspruch aufgehoben, jedoch bleiben die zugehörigen Feststellungen aufrechterhalten.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Die weitergehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Mordes in drei tateinheitlich zusammentreffenden Fällen zu einer Freiheitsstrafe von zehn Jahren verurteilt und die näher bezeichnete Tatwaffe eingezogen. Dagegen wendet sich der Beschwerdeführer mit seinen in allgemeiner Form erhobenen Rügen der Verletzung formellen und materiellen Rechts.
I. Die Rüge der Verletzung formellen Rechts ist nicht ausgeführt und deshalb unzulässig (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO).
II. Die auf die allgemeine Sachrüge veranlasste umfassende Überprüfung des Urteils führt zu der aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Änderung des Schuldspruchs und zur Aufhebung des Strafausspruchs; im Übrigen hat sie keine weiteren Rechtsfehler zu Ungunsten des Angeklagten ergeben. Im Einzelnen:
1. Der Schuldspruch wegen versuchten Mordes in drei tateinheitlich zusammentreffenden Fällen kann keinen Bestand haben.
a) Nach den rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen des Landgerichts eröffnete der Angeklagte, der erkannt hatte, dass Polizisten seine Wohnung durchsuchen wollten und der sich mit seiner halbautomatischen Selbstladepistole im beidhändigen Anschlag so im Flur seiner Wohnung positioniert hatte, dass er beim Öffnen der Tür den Hausflur einsehen konnte, unmittelbar nachdem der hinzugezogene Schlüsseldienst die Wohnungstür einen Spalt weit geöffnet hatte, aus dem im Dunklen liegenden Flur das Feuer. Er hatte zuvor den Plan gefasst, auf alle Personen zu schießen, die sich ihm nach der Türöffnung im Treppenhaus zeigen würden, um seine „Ehre“ zu verteidigen. Innerhalb weniger Sekunden gab der Angeklagte fünf gezielte Schüsse auf den Schlüsseldienstinhaber und den vor der Tür positionierten Polizisten KHK A. ab. Nachdem ein anderer Polizist - KHK W. - seinerseits in Richtung der Wohnung des Angeklagten geschossen und dieser das erkannt hatte, gab der Angeklagte - wiederum nur Sekunden später - einen sechsten Schuss in Richtung der bereits fliehenden Polizisten KHK W. und KHK T. ab, die sich indes - wie auch die beiden anderen Polizisten und der Schlüsseldienstinhaber - aus dem Sicht- und Schussfeld des Angeklagten entfernen konnten.
b) Auf der Grundlage dieser Feststellungen begegnet der Schuldspruch wegen versuchten Mordes in zwei tateinheitlich zusammentreffen Fällen (zum Nachteil des Schlüsseldienstinhabers und von KHK A.) keinen Bedenken. Indes hält die Annahme, der Angeklagte habe auch bei der Schussabgabe auf KHK W. bzw. KHK T. heimtückisch gehandelt, sachlichrechtlicher Prüfung nicht stand.
Heimtückisch handelt, wer eine zur Tatzeit beim Opfer bestehende Arg- und Wehrlosigkeit bewusst zur Tat ausnutzt. Arglos ist, wer sich eines Angriffs nicht versieht; wehrlos ist derjenige, dessen Verteidigungsfähigkeit aufgehoben oder erheblich eingeschränkt ist. Die Wehrlosigkeit muss sich als Folge der Arglosigkeit darstellen (st. Rspr.; siehe etwa BGH, Urteil vom 3. September 2015 - 3 StR 242/15, juris Rn. 10 mwN).
Das Landgericht hat zu dem Merkmal der Arglosigkeit ausgeführt, dass sich die Polizisten und der Schlüsseldienstinhaber - trotz der routinemäßigen Vorsichtsmaßnahmen, die sie wie bei jeder Türöffnung ergriffen - in der konkreten Situation keines Angriffs auf ihre körperliche Unversehrtheit versehen hätten, vielmehr aufgrund des ihnen bekannten Vorlebens des polizeilich zu keiner Zeit in Erscheinung getretenen Angeklagten davon ausgegangen seien, dass er die ehemals legal besessenen Waffen ordnungsgemäß in einem Waffenschrank gelagert habe und lediglich versuche, deren Beschlagnahme hinauszuzögern. Trotz des Umstandes, dass KHK A. und KHK W. routinemäßig ihre Dienstwaffen gezogen hätten, seien sie wehrlos gewesen, weil sie in der Kürze der ihnen verbleibenden Reaktionszeit wirksame Gegenmaßnahmen nicht hätten ergreifen können und weitere Schutzmaßnahmen wie etwa den Einsatz schusssicherer Schutzschilde aufgrund der von ihnen vorgenommenen Gefährdungseinschätzung nicht getroffen hätten.
aa) Diese Begründung erweist sich nur mit Blick auf die ersten fünf - nach den revisionsrechtlich nicht zu beanstandenden Feststellungen und Wertungen der Strafkammer mit Tötungsvorsatz und dem erforderlichen Ausnutzungsbewusstsein auf KHK A. und den Schlüsseldienstinhaber - abgegebenen Schüsse als rechtsfehlerfrei. Insoweit ist anerkannt, dass heimtückisches Handeln kein „heimliches“ Vorgehen erfordert. Vielmehr kann das Opfer auch dann arg- und infolgedessen wehrlos sein, wenn der Täter ihm zwar offen feindselig entgegentritt, die Zeitspanne zwischen dem Erkennen der Gefahr und dem unmittelbaren Angriff aber so kurz ist, dass keine Möglichkeit bleibt, dem Angriff etwas Wirkungsvolles entgegen zu setzen. Maßgebend für die Beurteilung ist die Lage bei Beginn des ersten mit Tötungsvorsatz geführten Angriffs (BGH aaO mwN; MüKoStGB/Schneider, 2. Aufl., § 211 Rn. 174 f. mwN).
Hier bestand für KHK A. und den Schlüsseldienstinhaber aufgrund des unerwarteten Angriffs keine Möglichkeit, den ersten Schuss abzuwenden oder sich anderweit dagegen zu verteidigen. Aufgrund der Kürze der Zeit zwischen dem ersten und den vier folgenden Schüssen war KHK A. - der unbewaffnete Schlüsseldienstinhaber hatte ohnehin keine Verteidigungsmöglichkeit - auch nicht in der Lage, diese abzuwehren. Dass beide im Folgenden fliehen konnten, weil der Angeklagte sie jedenfalls nicht so traf, dass sie in ihrer Fluchtmöglichkeit eingeschränkt wurden, steht der Annahme eines jeweils zu ihrem Nachteil versuchten Heimtückemords nicht entgegen, weil sie sich jedenfalls den ersten Schüssen nicht hatten entziehen können und es nur einen glücklichen Zufall darstellte, dass sie jedenfalls nicht schwerwiegend verletzt wurden. Als zutreffend erweist sich auch die rechtliche Bewertung des Landgerichts, das davon ausgegangen ist, dass der Angeklagte jedenfalls nicht freiwillig von dem Versuch des Mordes zum Nachteil dieser Personen zurückgetreten ist.
bb) Anders stellt sich die Situation betreffend den sechsten auf KHK W. bzw. KHK T. abgegebenen Schuss dar. KHK W. hatte, nachdem er den Angriff des Angeklagten auf KHK A. und den Schlüsseldienstinhaber erkannt hatte, seinerseits zunächst „in Richtung der Wohnung des Angeklagten“ geschossen und war unmittelbar im Anschluss daran mit KHK T. in dem Treppenhaus aufwärts in Richtung des zweiten Obergeschosses geflohen. Damit waren diese Beamten, bevor der Angeklagte auf sie schoss, erkennbar nicht mehr arglos.
Entgegen der Auffassung der Strafkammer waren sie auch nicht in dem Sinne wehrlos, dass sie dem Angriff nicht sinnvoll begegnen konnten: Der von KHK W. abgegebene Schuss - mag er auch „reflexartig“ abgefeuert worden sein - schlug in der Wohnung des Angeklagten in der Zarge seiner Schlafzimmertür ein. Der Angeklagte nahm ihn wahr und richtete erst deshalb seine Aufmerksamkeit auf die fliehenden Beamten W. und T., in deren Richtung er nun schoss. Dies verschaffte zugleich KHK A. und dem Schlüsseldienstinhaber weitere Zeit, sich aus der Schusslinie zu entfernen. Es kann mithin keine Rede davon sein, dass KHK W. seine Waffe nicht sinnvoll zur Verteidigung - auch der Rechtsgüter der anderen unter Beschuss geratenen Beteiligten - nutzen konnte. Die Strafkammer hat zudem nicht in den Blick genommen, dass die Wehrlosigkeit auch dadurch entfallen kann, dass sich das Opfer dem Angriff durch Flucht entzieht (MüKoStGB/Schneider, aaO, Rn. 176 mwN). Bei Abgabe des sechsten Schusses waren KHK W. und KHK T. bereits auf dem Weg zu dem nächsten Treppenpodest, das sie unverletzt erreichten und sich damit außerhalb des Sicht- und Schussfelds des Angeklagten befanden. Mag es auch weitere Schutzmaßnahmen gegeben haben, die die Beamten nicht ergriffen, so stellt sich ihre Flucht jedenfalls als eine - letztlich erfolgreiche - Möglichkeit dar, sich dem Angriff wirkungsvoll zu entziehen.
c) Der Senat schließt aus, dass eine erneute Hauptverhandlung zu Feststellungen führen würde, die eine Verurteilung wegen versuchten Mordes insoweit rechtfertigen könnten, und ändert den Schuldspruch dahin, dass der Angeklagte sich wegen versuchten Mordes in zwei tateinheitlich zusammentreffenden Fällen in Tateinheit mit versuchtem Totschlag schuldig gemacht hat. Das Fehlen eines Mordmerkmals lässt es unberührt, dass der Angeklagte auch bei dem sechsten Schuss mit Tötungsvorsatz gegen die fliehenden Polizisten vorging. Insoweit ist nach den rechtsbedenkenfreien Feststellungen und Würdigungen des Landgerichts von einem fehlgeschlagenen Versuch auszugehen, von dem der Angeklagte nicht zurücktreten konnte.
2. Die Änderung des Schuldspruchs entzieht dem Strafausspruch die Grundlage, zumal die Strafkammer strafschärfend das Vorliegen mehrerer tateinheitlicher Mordversuche angenommen hat. Auch wenn zwei tateinheitlich zusammentreffende Mordversuche in Tateinheit mit versuchtem Totschlag verbleiben, kann der Senat nicht ausschließen, dass das Landgericht bei zutreffender Würdigung auf eine niedrigere Freiheitsstrafe erkannt hätte.
HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 874
Externe Fundstellen: NJW 2016, 2899; NStZ-RR 2017, 78 ; StV 2017, 515
Bearbeiter: Christian Becker