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HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 926

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 452/16, Beschluss v. 06.06.2017, HRRS 2017 Nr. 926


BGH 2 StR 452/16 - Beschluss vom 6. Juni 2017 (LG Bonn)

Begriff der sexuellen Handlung (Sexualbezug; Erheblichkeit; gewaltsames Entkleiden als sexuelle Handlung).

§ 184h Nr. 1 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Das gewaltsame Entkleiden des Tatopfers ist jedoch nur dann als eine sexuelle Handlung im Sinne des § 184h Nr. 1 StGB anzusehen, wenn der Täter „sich schon durch diese Handlung geschlechtliche Erregung oder Befriedigung verschaffen“ will (vgl. BGH NStZ 1993, 78, 79).

2. Eine sexuelle Handlung von einiger Erheblichkeit im Sinne des § 184h Nr. 1 StGB erfordert zunächst eine Handlung mit Sexualbezug. Dies ist nach ständiger Rechtsprechung bei solchen Handlungen der Fall, die bereits objektiv, also allein gemessen an ihrem äußeren Erscheinungsbild die Sexualbezogenheit erkennen lassen. Darüber hinaus können auch sog. ambivalente Handlungen, die für sich betrachtet nicht ohne Weiteres einen sexuellen Charakter aufweisen, tatbestandsmäßig sein; insoweit ist auf das Urteil eines objektiven Betrachters abzustellen, der alle Umstände des Einzelfalles kennt (vgl. BGH NJW 2016, 2049 mwN). Dabei ist auch zu berücksichtigen, ob der Angeklagte von sexuellen Absichten geleitet war (vgl. BGH NStZ-RR 2008, 339, 340).

3. Darüber hinaus muss die sexuelle Handlung auch die Erheblichkeitsschwelle des § 184h Nr. 1 StGB überschreiten. Als erheblich in diesem Sinne sind solche sexualbezogenen Handlungen zu werten, die nach Art, Intensität und Dauer eine sozial nicht mehr hinnehmbare Beeinträchtigung des im jeweiligen Tatbestand geschützten Rechtsguts besorgen lassen (st. Rspr). Dazu bedarf es einer Gesamtbetrachtung aller Umstände im Hinblick auf die Gefährlichkeit der Handlung für das jeweils betroffene Rechtsgut; unter diesem Gesichtspunkt belanglose Handlungen scheiden aus (vgl. BGH NStZ 2012, 269, 270).

Entscheidungstenor

Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bonn vom 13. Mai 2016 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexueller Nötigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer „Einheitsjugendstrafe“ von einem Jahr und neun Monaten mit Bewährung sowie zu einem vierwöchigen Dauerarrest verurteilt. Die dagegen gerichtete und auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat Erfolg.

I.

1. Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

Der Angeklagte lernte am Abend des 5. Dezember 2015 in einer Gaststätte in der Altstadt von B. die spätere Geschädigte, die 41 Jahre alte Zeugin K., kennen. Beide tranken im Verlaufe des Abends nicht unerhebliche Mengen Alkohol, tanzten miteinander, tauschten einvernehmlich Zungenküsse aus und begaben sich gemeinsam auf die Damentoilette, wo die Zeugin dem Angeklagten ihre Tattoos zeigte. Die Geschädigte wurde schließlich ihres „anzüglichen Verhaltens“ wegen der Gaststätte verwiesen und verließ diese gemeinsam mit dem Angeklagten. Am frühen Morgen des folgenden Tages bat die ortsunkundige Geschädigte, die nicht mehr über die für ein Taxi erforderlichen Geldmittel verfügte und den rund vier Kilometer langen Weg zu ihrer Wohnung zu Fuß zurücklegen wollte, den Angeklagten, sie durch die Innenstadt von B. zu begleiten. Sie bereute inzwischen ihr früheres anzügliches Verhalten und wies die wiederholten Versuche des Angeklagten, sie erneut zu küssen, zurück. Der Angeklagte führte die Angeklagte schließlich mit der wahrheitswidrigen Behauptung, seinen Hausschlüssel verloren zu haben und deshalb Verwandte aufsuchen zu müssen, in den Innenhof des Frauenmuseums und stieg eine metallene Außentreppe an dem Gebäude hoch. Die Geschädigte folgte ihm zunächst, wurde jedoch misstrauisch, kehrte schließlich um und erklärte dem Angeklagten erneut, dass sie nach Hause wolle. Auf seine weiteren Versuche, sie zu küssen, reagierte sie abweisend.

Der über diese Zurückweisung erboste Angeklagte folgte der Geschädigten und schlug ihr mehrfach mit der Hand ins Gesicht, um „das nachfolgende Herunterreißen ihrer Kleidungsstücke gegen ihren Willen zu ermöglichen“. Die Geschädigte stürzte infolge dieser Schläge zu Boden und blieb auf dem Rücken liegen. Der Angeklagte schlug weiter auf die am Boden liegende Geschädigte ein und „zerrte ihr gegen ihren Willen die Schuhe, die Jeans sowie den Slip vom Körper, um sich hieran sexuell zu erregen“. Die verängstigte Geschädigte gab jegliche Gegenwehr auf. Nunmehr entblößte der Angeklagte seinen Penis, „hockte sich in unmittelbarer Nähe zu der Zeugin auf den Boden und begann an seinem Glied zu manipulieren, um sich selbst zu befriedigen“. Dass der Angeklagte „in sie eindrang oder dies auch nur vorhatte“, vermochte die Kammer nicht festzustellen. Anschließend trat der Angeklagte mit dem beschuhten Fuß mehrfach heftig und in Verletzungsabsicht in das Gesicht und gegen den Oberkörper der Geschädigten, die zahlreiche blutende Verletzungen und großflächig über den gesamten Körper verteilte Hämatome erlitt, und ging davon.

2. Das Landgericht hat das Geschehen als vollendete sexuelle Nötigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung im Sinne der §§ 177 Abs. 1 Nr. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB gewürdigt und dabei in dem „Herunterreißen der Kleidungsstücke von dem Körper der Zeugin“ eine sexuelle Handlung an der Geschädigten gesehen.

II.

Die Feststellungen und Beweiserwägungen tragen die Verurteilung wegen vollendeter sexuellen Nötigung im Sinne des § 177 Abs. 1 StGB a.F. bzw. § 177 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 5 StGB n.F. nicht.

Als Tatbestandsvariante des § 177 Abs. 1 StGB kommt nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen allein die Vornahme einer sexuellen Handlung an der Geschädigten in Betracht. Die Feststellungen und die sie tragenden Beweiserwägungen belegen jedoch nicht, dass der Angeklagte durch das gewaltsame Entkleiden eine sexuelle Handlung von einiger Erheblichkeit im Sinne des § 184h StGB „an“ der Geschädigten vorgenommen hat.

1. Eine sexuelle Handlung von einiger Erheblichkeit im Sinne des § 184h Nr. 1 StGB - zur Tatzeit noch § 184g Nr. 1 StGB - erfordert zunächst eine Handlung mit Sexualbezug. Dies ist nach ständiger Rechtsprechung bei solchen Handlungen der Fall, die bereits objektiv, also allein gemessen an ihrem äußeren Erscheinungsbild die Sexualbezogenheit erkennen lassen (vgl. BGH, Urteil vom 10. März 2016 - 3 StR 437/15, NJW 2016, 2049 mwN). Darüber hinaus können auch sog. ambivalente Handlungen, die für sich betrachtet nicht ohne Weiteres einen sexuellen Charakter aufweisen, tatbestandsmäßig sein; insoweit ist auf das Urteil eines objektiven Betrachters abzustellen, der alle Umstände des Einzelfalles kennt (Senat, Urteil vom 21. September 2016 - 2 StR 558/15, NStZ-RR 2017, 43; Urteil vom 14. März 2012 - 2 StR 561/11, NStZ-RR 2013, 10, 12; BGH, Urteil vom 10. März 2016 - 3 StR 437/15, NJW 2016, 2049 mwN). Dabei ist auch zu berücksichtigen, ob der Angeklagte von sexuellen Absichten geleitet war (BGH, Beschluss vom 5. Oktober 2004 - 3 StR 256/04, NStZ-RR 2005, 361, 367 bei Pfister; Urteil vom 20. Dezember 2007 - 4 StR 459/07, NStZ-RR 2008, 339, 340; MüKo-StGB/Hörnle, 3. Aufl., § 184h Rn. 3 f.; Eisele in: Schönke/Schröder, StGB, 29. Aufl., § 184g Rn. 9 mwN zur Gegenansicht).

Darüber hinaus muss die sexuelle Handlung auch die Erheblichkeitsschwelle des § 184h Nr. 1 StGB (vormals: § 184g Nr. 1 StGB) überschreiten. Als erheblich in diesem Sinne sind solche sexualbezogenen Handlungen zu werten, die nach Art, Intensität und Dauer eine sozial nicht mehr hinnehmbare Beeinträchtigung des im jeweiligen Tatbestand geschützten Rechtsguts besorgen lassen (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteile vom 24. September 1980 - 3 StR 255/80, BGHSt 29, 336, 338; vom 24. September 1991 - 5 StR 364/91, NJW 1992, 324; vom 1. Dezember 2011 - 5 StR 417/11, NStZ 2012, 269, 270; Beschluss vom 16. Mai 2017 - 3 StR 122/17). Dazu bedarf es einer Gesamtbetrachtung aller Umstände im Hinblick auf die Gefährlichkeit der Handlung für das jeweils betroffene Rechtsgut; unter diesem Gesichtspunkt belanglose Handlungen scheiden aus (Senat, Urteil vom 26. April 2017 - 2 StR 580/16; BGH, Urteile vom 1. Dezember 2011 - 5 StR 417/11, NStZ 2012, 269, 270; Lackner/Kühl/Heger, 28. Aufl., § 184g Rn. 5; vgl. Matt/Renzikowski/Eschelbach, StGB, § 184g Rn. 7; differenzierend SSW-StGB/Wolters, 3. Aufl., § 184h Rn. 8 ff.).

2. Das Landgericht ist im rechtlichen Ausgangspunkt zutreffend davon ausgegangen, dass das gewaltsame Entkleiden eines Tatopfers als eine „sexuelle Handlung“ von einiger Erheblichkeit in diesem Sinne angesehen werden kann.

a) Der Senat kann insoweit offen lassen, ob der Ansicht zu folgen ist, dass dies nur für Fälle gilt, in denen das Entfernen der Bekleidung mit einer sexuellen Handlung an dem Körper des Tatopfers verbunden ist (vgl. BGH, Beschluss vom 23. Februar 2017 - 1 StR 627/16 zu § 176 Abs. 1 StGB, NStZ-RR 2017, 140, 141; Beschluss vom 19. April 1990 - 3 StR 87/90, NStZ 1990, 490; Beschluss vom 17. September 1992 - 4 StR 416/92, NStZ 1993, 78) oder das Entfernen der Kleidung vom Körper des Tatopfers jedenfalls mit einem nicht nur flüchtigen körperlichen Kontakt verbunden ist (vgl. BGH, Beschluss vom 14. Juni 2016 - 3 StR 72/16, StV 2017, 39 f.; Urteil vom 17. August 1988 - 2 StR 346/88, BGHR StGB § 178 Abs. 1 sexuelle Handlung 2; Beschlüsse vom 19. April 1990 - 3 StR 87/90, NStZ 1990, 490 und vom 17. Juli 1991 - 5 StR 279/91, juris Rn. 3; Urteil vom 24. November 1993 - 3 StR 517/93, juris Rn. 17; siehe auch BGH, Urteil vom 4. August 2011 - 3 StR 120/11, NStZ 2012, 49 f.; BGH, Urteil vom 5. Mai 1970 - 1 StR 580/69, NJW 1970, 1465, 1466; differenzierend auch MüKo StGB/Hörnle, 3. Aufl., § 184h Rn. 21 a.E.). Angesichts des vorliegend festgestellten gewaltsamen „Herunterreißens“ unter anderem von Jeanshose und Slip des Tatopfers entnimmt der Senat dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe, dass die Tathandlung zu einem nicht nur ganz flüchtigen Körperkontakt mit dem Tatopfer geführt hat.

b) Das gewaltsame Entkleiden des Tatopfers ist jedoch nur dann als eine sexuelle Handlung anzusehen, wenn der Täter „sich schon durch diese Handlung geschlechtliche Erregung oder Befriedigung verschaffen“ will (Senat, Urteile vom 31. Oktober 1984 - 2 StR 392/84 und vom 17. August 1988 - 2 StR 346/88, BGHR StGB § 184c Nr. 1 Erheblichkeit 2; BGH, Beschluss vom 17. September 1992 - 2 StR 416/92, NStZ 1993, 78, 79). Die Feststellung des Landgerichts, dass der Angeklagte sich schon durch das gewaltsame Entkleiden der Geschädigten sexuell habe erregen wollen, ist nicht tragfähig belegt.

aa) Zwar muss das Revisionsgericht die Überzeugung des Tatgerichts vom Vorliegen eines Sachverhalts grundsätzlich hinnehmen. Ebenso ist es ihm verwehrt, seine eigene Überzeugung an die Stelle derjenigen des Tatrichters zu setzen. Zu prüfen ist aber, ob die tatrichterliche Überzeugung in den Feststellungen und den sie tragenden Beweiserwägungen eine ausreichende Grundlage findet. Feststellungen und Beweiserwägungen müssen den Schluss erlauben, dass das festgestellte Geschehen mit hoher Wahrscheinlichkeit mit der Wirklichkeit übereinstimmt. Deshalb müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass die Beweiswürdigung auf einer tragfähigen, verstandesmäßig einsehbaren Tatsachengrundlage beruht und die vom Tatrichter gezogenen Schlussfolgerungen nicht nur eine Vermutung darstellen (st. Rspr., vgl. Senat, Beschluss vom 16. Juni 2015 - 2 StR 29/15, StV 2015, 740; BGH, Beschluss vom 22. August 2013 - 1 StR 378/13, StV 2014, 610).

bb) Gemessen hieran sind die Wertungen des Landgerichts nicht tragfähig begründet.

(1) Das Landgericht hat seine Überzeugung, dass der Angeklagte die Geschädigte gewaltsam entkleidete, um sich „hieran sexuell zu erregen“, nicht näher begründet. Eine solche Motivation versteht sich - ungeachtet der spezifischen Tatvorgeschichte und des Umstands, dass der Angeklagte sich ausweislich der Feststellungen „in unmittelbarer Nähe der Zeugin auf den Boden hockte“ und damit begann, an seinem Glied zu manipulieren - nicht von selbst. Näherer Erörterung hätte dies schon deshalb bedurft, weil das Landgericht sich nicht davon zu überzeugen vermochte, dass das Handeln des Angeklagten nicht auf die Erzwingung des vaginalen Geschlechtsverkehrs abzielte. Auch diese Überzeugung ist nicht näher begründet.

(2) Darüber hinaus hätte auch das weitere Verhalten des Angeklagten in die Beweiswürdigung einbezogen werden müssen. Nach den Feststellungen sprang der Angeklagte nach der Tat plötzlich auf und trat mehrfach auf die am Boden liegende Geschädigte ein. Dieses Nachtatverhalten deutet auf eine Verärgerung des Angeklagten hin, die sich jedenfalls ohne eine nähere Erläuterung nicht mit der Annahme des Landgerichts vereinbaren lässt, dass die Durchführung der Tat den Plänen und Zielen des Angeklagten entsprach.

Der Schuldspruch wegen sexueller Nötigung kann daher nicht bestehen bleiben. Dies führt zur Aufhebung des für sich genommen rechtsfehlerfreien Schuldspruchs wegen tateinheitlicher gefährlicher Körperverletzung.

Der neu zur Entscheidung berufene Tatrichter wird - eingehender als bisher geschehen - zu prüfen haben, ob ein (fehlgeschlagener) Versuch der Vergewaltigung vorliegen könnte. Das Verbot der reformatio in peius (§ 358 Abs. 2 Satz 1 StPO) stünde einer Schuldspruchänderung nicht entgegen.

HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 926

Externe Fundstellen: StV 2018, 231

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede