HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 761
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 580/16, Urteil v. 26.04.2017, HRRS 2017 Nr. 761
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Aachen vom 29. September 2016 mit den zugehörigen Feststellungen im Rechtsfolgenausspruch aufgehoben.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin hierdurch entstandenen notwendigen Auslagen, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weiter gehende Revision des Angeklagten wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexueller Nötigung in Tateinheit mit vorsätzlicher Körperverletzung sowie wegen exhibitionistischer Handlungen in 22 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt und Führungsaufsicht angeordnet. Von acht weiteren Fällen der exhibitionistischen Handlungen hat es den Angeklagten freigesprochen. Mit seiner auf die Sachrüge gestützten Revision wendet sich der Angeklagte gegen seine Verurteilung. Das Rechtsmittel hat den aus der Urteilsformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegründet.
Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
Spätestens seit Karneval 2015 hielt sich der Angeklagte wiederholt in der Wohnung der Zeugin N., seiner damaligen Freundin, auf. Mitte August 2016 (richtig: 2015) zog er vollständig bei der Zeugin ein. In dem Haushalt der Zeugin N. lebte auch deren am 10. Juli 1988 (richtig: 1998) geborene Tochter, die Nebenklägerin G. .
1. Von März 2015 bis 11. April 2016 entblößte der Angeklagte in insgesamt 22 Fällen vor der Geschädigten sein Geschlechtsteil in der Absicht, sich hierdurch oder durch deren Reaktion sexuell zu erregen. Die Vorfälle trugen sich jeweils im Wohnzimmer oder der Küche der Wohnung der Zeugin N. zu. Die Nebenklägerin nahm das Geschlechtsteil des Angeklagten - wie von diesem beabsichtigt - jeweils wahr und war von dessen Verhaltensweise angeekelt.
2. Im September 2016 (richtig: 2015) hielten sich der Angeklagte, die Zeugin N. und die Geschädigte gemeinsam in der Wohnung der Zeugin N. auf. Als der Angeklagte - wie bereits bei früheren Gelegenheiten - ankündigte, sie „packen“ zu wollen, scherzte die Nebenklägerin entgegen früheren Gelegenheiten nicht zurück, sondern erklärte dem Angeklagten, als dieser auf sie zuging, dass er sie nicht anfassen solle. Obwohl er den entgegenstehenden Willen der Geschädigten erkannte, fasste der Angeklagte sie an den Hüften, woraufhin die Geschädigte ihn nochmals aufforderte, sie loszulassen und gleichzeitig versuchte, sich aus dem Griff zu befreien. Um dies zu verhindern, packte er noch fester zu, wobei die Geschädigte nicht unerhebliche Schmerzen im Hüftbereich erlitt und zu weinen begann. Der Angeklagte ließ dennoch nicht los. Schließlich geriet die Geschädigte in dem Bemühen, in eine Schutzhaltung zu kommen, unter dem Druck des Angeklagten zu Boden. Auch auf die Intervention der Zeugin N., ihr Kind loszulassen, ließ der Angeklagte nicht ab. Er führte vielmehr in sexuell motivierter Absicht seine Hände Richtung Oberkörper der Geschädigten, wobei er mit einer Hand ihr T-Shirt von unten unter ihren Büstenhalter schob, so dass sich dieses nunmehr zwischen ihrer linken Brust und seiner Hand, welche unter den Büstenhalter geglitten war und auf ihrer linken Brust lag, befand. In dieser Position hielt der Angeklagte die linke Brust der Geschädigten für einige Augenblicke fest. Erst auf Drohung der Geschädigten, Anzeige zu erstatten, ließ er von dieser ab.
3. Im Rahmen der Strafzumessung hat das Landgericht hinsichtlich aller dem Angeklagten zur Last gelegten Taten unter anderem straferschwerend berücksichtigt, dass dieser eine Vielzahl von Taten über einen langen Zeitraum hinweg begangen und hierdurch ein Klima „sexueller Übergriffigkeit“ geschaffen habe, in dem sich die Nebenklägerin zunehmend unwohl gefühlt habe.
Die Revision des Angeklagten ist zum Teil begründet.
1. Die Nachprüfung des Urteils zum Schuldspruch hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.
Der näheren Erörterung bedarf lediglich der Schuldspruch wegen sexueller Nötigung.
a) Es begegnet keinen rechtlichen Bedenken, dass das Landgericht das Verhalten des Angeklagten als sexuelle Handlung von einiger Erheblichkeit im Sinne von § 184h Nr. 1 StGB gewertet hat, ohne dies näher in der rechtlichen Würdigung zu erörtern. Die im Rahmen der Rangelei mit der Nebenklägerin erfolgte Berührung ihrer Brust ist ohne Zweifel eine sexuelle Handlung, die auch die Erheblichkeitsschwelle des § 184h Nr. 1 StGB überschritten hat.
Als erheblich in diesem Sinne sind solche sexualbezogenen Handlungen zu werten, die nach Art, Intensität und Dauer eine sozial nicht mehr hinnehmbare Beeinträchtigung des im jeweiligen Tatbestand geschützten Rechtsguts besorgen lassen (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteile vom 24. September 1980 - 3 StR 255/80, BGHSt 29, 336, 338; vom 24. September 1991 - 5 StR 364/91, NJW 1992, 324 f., insoweit nicht abgedruckt in BGHSt 38, 68; vom 1. Dezember 2011 - 5 StR 417/11, NStZ 2012, 269, 270; Senat, Urteil vom 21. September 2016 - 2 StR 558/15, NStZ-RR 2017, 43, 44). Dazu bedarf es einer Gesamtbetrachtung aller Umstände im Hinblick auf die Gefährlichkeit der Handlung für das jeweils betroffene Rechtsgut; unter diesem Gesichtspunkt belanglose Handlungen scheiden aus (BGH, Urteile vom 24. September 1980 - 3 StR 255/80, BGHSt 29, 336, 338; Senat, Urteil vom 3. April 1991 - 2 StR 582/90, BGHR StGB § 184c Nr. 1 Erheblichkeit 4; BGH, Urteil vom 24. September 1991 - 5 StR 364/91, NJW 1992, 324, 325; Senat, Urteil vom 6. Mai 1992 - 2 StR 490/91, BGHR § 184c Nr. 1 StGB; Erheblichkeit 6; BGH, Urteil vom 1. Dezember 2011 - 5 StR 417/11, NStZ 2012, 269, 270; Senat, Urteil vom 21. September 2016 - 2 StR 558/15, NStZ-RR 2017, 43, 44; Lackner/Kühl/Heger, 28. Aufl., § 184g Rn. 5; Matt/Renzikowski/Eschelbach, StGB, § 184g Rn. 7; differenzierend SSW-StGB/Wolters, 2. Aufl., § 184g Rn. 9 f.).
Aus den Feststellungen des Landgerichts ergibt sich, dass die an der Geschädigten vorgenommene Handlung nicht nur in einer flüchtigen oder „zufälligen“ Berührung bekleideter Körperregionen, sondern in einem sexuell motivierten Übergriff bestand, bei dem der Angeklagte eine Hand mit dem T-Shirt unter ihren Büstenhalter schob und ihre Brust für einige Augenblicke festhielt.
Einer Erörterung der Überschreitung der Erheblichkeitsschwelle durch die Strafkammer bedurfte es bei dieser Sachlage nicht.
b) Die Gesetzesänderungen durch das 50. Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches - Verbesserung des Schutzes der sexuellen Selbstbestimmung - vom 4. November 2016 (BGBl. I S. 2460) geben keinen Anlass zu einer für den Angeklagten günstigeren Bewertung als milderes Recht im Sinne von § 2 Abs. 3 StGB.
Die Einführung eines Auffangtatbestands für belästigend wirkende körperliche Berührungen in sexuell bestimmter Weise in § 184i Abs. 1 StGB wirkt sich nicht auf die Auslegung des Begriffs der Erheblichkeit in § 184h Nr. 1 StGB aus (anders aber El-Ghazi, ZIS 2017, 157, 160 f.; Lederer, AnwBl. 2017, 514, 517 f.). Der Gesetzgeber bezweckte mit der Einführung des § 184i StGB nicht, bisher von § 184h Nr. 1 StGB aF erfasste Verhaltensweisen aus dem Schutzbereich herauszulösen und diese nunmehr nur noch unter den dort genannten Voraussetzungen in § 184i StGB unter Strafe zu stellen (vgl. BGH, Urteil vom 26. April 2017 - 2 StR 574/16). Ziel der Neuregelung war es vielmehr, bisher strafrechtlich nicht erfasstes Verhalten auch unterhalb der Schwelle des § 184h Nr. 1 StGB zu pönalisieren (BT-Drucks. 18/9097 S. 30).
2. Hingegen hält der Rechtsfolgenausspruch rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
Rechtsfehlerhaft hat das Landgericht im Rahmen der Erörterung der straferschwerenden Gesichtspunkte keine tatbezogene individuelle Strafzumessung vorgenommen, sondern betreffend aller Taten zu Lasten des Angeklagten gewertet, dass er eine Vielzahl von Taten über einen langen Zeitraum hinweg begangen und hierdurch ein Klima sexueller Übergriffigkeit geschaffen habe, in dem sich die Nebenklägerin zunehmend unwohl gefühlt habe. Aus den bisherigen Feststellungen ergibt sich nicht, dass das durch das Landgericht bemühte „Klima sexueller Übergriffigkeit“ bereits bei Begehung der ersten Tat vorgelegen hat. Die Strafkammer geht vielmehr davon aus, dass der Angeklagte dieses erst durch sein Verhalten im Laufe der Zeit geschaffen hat. Ist das Klima sexueller Übergriffigkeit Folge aller oder einiger Taten, so kann dieses dem Angeklagten nur im Rahmen der Gesamtstrafenbildung oder nur in diesen Fällen, für die es festgestellt wurde, angelastet werden (vgl. Senat, Urteil vom 9. Juli 2014 - 2 StR 574/13, NStZ 2014, 701; Beschluss vom 12. April 2016 - 2 StR 483/15).
Auch dass die Taten sich über einen langen Zeitraum erstreckten, durfte nicht bei der Zumessung der Einzelstrafen zu Ungunsten des Angeklagten berücksichtigt werden. Dass einer ersten oder zweiten Tat weitere nachgefolgt sind, ist regelmäßig für deren Unrechtsgehalt ohne strafzumessungsrelevante Bedeutung. Dies mag anders sein, wenn von vornherein eine Mehrzahl von Taten geplant ist und darin die nach § 46 Abs. 2 StGB berücksichtigungsfähige „rechtsfeindliche Gesinnung“ des Täters zum Ausdruck kommt (Senat, Beschluss vom 12. April 2016 - 2 StR 483/15, BGHR StGB § 46 Abs. 2 Tatumstände 23, mwN; Fischer, StGB, 64. Aufl., § 46 Rn. 34a). Entsprechende Feststellungen hat das Landgericht jedoch nicht getroffen.
Dies führt zur Aufhebung aller Einzelstrafen und bedingt den Wegfall des Gesamtstrafenausspruchs. Es ist nicht auszuschließen, dass die Strafzumessung auf diesem Rechtsfehler beruht. Mit der Aufhebung des Strafausspruchs konnte auch die Anordnung der Führungsaufsicht gemäß § 68 Abs. 1 StGB keinen Bestand haben.
HRRS-Nummer: HRRS 2017 Nr. 761
Externe Fundstellen: NStZ 2018, 91; StV 2018, 238
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede