hrr-strafrecht.de - Rechtsprechungsübersicht


HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 603

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 481/14, Urteil v. 03.02.2016, HRRS 2016 Nr. 603


BGH 2 StR 481/14 - Urteil vom 3. Februar 2016 (LG Aachen)

Sachliche Zuständigkeit (Recht auf den gesetzlichen Richter; grundsätzliche Zuständigkeit eines Gerichts höherer Ordnung bei dortiger Rechtshängigkeit: Übernahme des Verfahrens durch das Landgericht auch noch in der Berufungsinstanz, eingeschränkte revisionsrechtliche Willkürkontrolle); tatrichterliche Beweiswürdigung (revisionsrechtliche Überprüfbarkeit).

Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; § 6 StPO; § 269 StPO; § 225a StPO; § 261 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Gemäß § 6 StPO ist die sachliche Zuständigkeit des zur Urteilsfindung berufenen Strafgerichts von Amts wegen zu prüfen. Nach § 269 StPO bleibt es aber im Hauptverfahren bei der Zuständigkeit eines Gerichts höherer Ordnung, nachdem die Sache dort rechtshängig geworden ist. Die Zuständigkeit des Gerichts höherer Ordnung schließt nämlich diejenige eines Gerichts niederer Ordnung ein. Eine Ausnahme hiervon nimmt die Rechtsprechung nur dann an, wenn eine die Rechtshängigkeit begründende Gerichtsentscheidung objektiv willkürlich ergangen ist und dadurch Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verletzt wurde (vgl. BGHSt 43, 53, 55 f.).

2. Eine Entscheidung des Landgerichts, wonach auch im Berufungsverfahren entsprechend § 225a StPO verfahren werden kann, orientiert sich an der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sowie der herrschenden Lehre und ist deshalb nicht objektiv willkürlich.

Entscheidungstenor

Die Revision des Nebenklägers gegen das Urteil des Landgerichts Aachen vom 5. Juni 2014 wird verworfen.

Der Nebenkläger hat die Kosten seines Rechtsmittels und die dem Angeklagten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten vom Vorwurf einer zum Nachteil des Nebenklägers begangenen gefährlichen Körperverletzung aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Die hiergegen gerichtete, auf die Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Nebenklägers hat keinen Erfolg.

I.

Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Dem Angeklagten lag zur Last, dem Nebenkläger B. am 29. Juli 2011 im Verlaufe eines Streits mit einem Messer oder einem vergleichbaren spitzen Gegenstand in den Hals gestochen zu haben, wodurch der Nebenkläger eine etwa zwei bis drei Zentimeter tiefe Stichwunde im Bereich der linken Halsseite erlitt.

2. Zwischen dem Angeklagten und dem im selben Haus wohnhaften Nebenkläger bestanden „Spannungen“, weil der langjährig betäubungsmittelabhängige und regelmäßig neben Methadon weitere Suchtstoffe konsumierende Nebenkläger den Angeklagten verdächtigte, seinen Fotoapparat an sich genommen und veräußert zu haben. Der Nebenkläger begab sich am Tattag, dem 29. Juli 2011, zu einem nicht näher bestimmbaren Zeitpunkt, jedenfalls aber vor 16.00 Uhr, in die Wohnung des Angeklagten, in der dieser gemeinsam mit dem Zeugen M. Wodka konsumierte.

Gegen 15.50 Uhr versuchte der im 5. Obergeschoss des Anwesens wohnhafte Nebenkläger, der eine rund zwei Zentimeter lange, eher oberflächliche Messerstichverletzung am Hals links aufwies und desorientiert war, mit seinem Hausschlüssel in die in der 3. Etage des Hauses gelegene Wohnung der Zeugin Br. zu gelangen. Nachdem die Zeugin den Nebenkläger aufgefordert hatte, sich zu seiner eigenen Wohnung zu begeben, fand sie ihn wenig später zusammengesunken im Flur der zweiten Etage vor. Sie verständigte Polizei und Rettungsdienst; der Nebenkläger wurde in ein Krankenhaus transportiert und dort behandelt. Die Polizei verschaffte sich unter Hinzuziehung eines Schlüsseldienstes Zutritt zur Wohnung des Angeklagten und traf ihn dort erheblich alkoholisiert und mit einer Unterblutung an der linken Halsseite an; eine ihm um 18.00 Uhr entnommene Blutprobe ergab eine Blutalkoholkonzentration von 4,39 Promille.

3. Das Landgericht vermochte zu dem weiteren Geschehen in der Wohnung des Angeklagten keine Feststellungen zu treffen und sich insbesondere nicht davon zu überzeugen, dass es der Angeklagte war, der dem Nebenkläger mit einem Messer oder einem ähnlichen Gegenstand die Schnittverletzung am Hals beigebracht hatte.

II.

Die auf die Revision des Nebenklägers veranlasste Überprüfung des angegriffenen Urteils zeigt keinen Rechtsfehler auf.

1. Ein Verfahrenshindernis liegt nicht vor. Das Landgericht hat seine sachliche Zuständigkeit zu Recht angenommen.

a) Insoweit ist folgendes Prozessgeschehen zu berücksichtigen:

Der Angeklagte war in dieser Sache erstinstanzlich mit Urteil des Amtsgerichts Düren vom 3. August 2012 - 17 Ds 690/11 - wegen gefährlicher Körperverletzung u.a. zu Freiheitsstrafe verurteilt worden, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Gegen dieses Urteil hat er form- und fristgerecht Berufung eingelegt. Die mit dem Rechtsmittel des Angeklagten befasste kleine Strafkammer des Landgerichts Aachen hat in der Berufungshauptverhandlung am 12. April 2013 die Aussetzung der Hauptverhandlung und die Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens beschlossen, nachdem der in der Berufungshauptverhandlung informatorisch angehörte rechtsmedizinische Sachverständige ausgeführt hatte, dass für den Fall des Tatnachweises die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) in Betracht zu ziehen sei. Nach Eingang des vorläufigen schriftlichen Gutachtens eines psychiatrischen Sachverständigen, der zu demselben vorläufigen Ergebnis gelangt war, hat die Berufungskammer das Verfahren mit Beschluss vom 21. August 2013 in entsprechender Anwendung des § 225a StPO der 6. Großen Strafkammer des Landgerichts Aachen mit der Bitte vorgelegt, die Übernahme des Verfahrens zu prüfen. Mit Beschluss vom 26. März 2014 hat die Strafkammer das Verfahren übernommen.

b) Die sachliche Zuständigkeit des Landgerichts ist gegeben.

aa) Der Senat kann offen lassen, ob ein Beschwerdeführer, der die Abgabe des Verfahrens durch die Berufungskammer und dessen Übernahme durch eine erstinstanzlich tätige Strafkammer des Landgerichts als rechtsfehlerhaft rügen will, verpflichtet ist, den behaupteten Verfahrensverstoß mit einer den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügenden Verfahrensrüge geltend zu machen (vgl. BGH, Beschluss vom 30. Juli 1996 - 5 StR 288/95, BGHSt 42, 205, 211 ff.; Urteil vom 22. April 1997 - 1 StR 701/96, BGHSt 43, 53, 56) oder ob eine Überprüfung von Amts wegen zu erfolgen hat, weil die sachliche Zuständigkeit des Landgerichts und damit zugleich die sachliche Zuständigkeit des Revisionsgerichts in Frage steht (BGH, Beschluss vom 12. Dezember 1991 - 4 StR 506/91, BGHSt 38, 172, 176; Urteil vom 27. Februar 1992 - 4 StR 23/92, BGHSt 38, 212).

Gemäß § 6 StPO ist die sachliche Zuständigkeit des zur Urteilsfindung berufenen Gerichts in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen. Nach § 269 StPO bleibt es im Hauptverfahren aus Gründen der Verfahrensbeschleunigung und der Prozessökonomie auch dann bei der Zuständigkeit des Gerichts höherer Ordnung, wenn seine Zuständigkeit tatsächlich nicht gegeben ist. Die weitergehende Zuständigkeit des Gerichts höherer Ordnung schließt diejenige eines Gerichts niederer Ordnung ein. Dieser Grundsatz erfährt eine Einschränkung nur in Fällen, in denen das Gericht höherer Ordnung seine Zuständigkeit mit sachfremden oder anderen, offensichtlich unhaltbaren Erwägungen begründet hat, sich seine Entscheidung mithin als (objektiv) willkürlich erweist (vgl. BGH, Urteil vom 22. April 1997 - 1 StR 701/96, BGHSt 43, 53, 55 f.).

bb) Jedenfalls zeigt die von Amts wegen veranlasste Überprüfung der Annahme der sachlichen Zuständigkeit durch das Landgericht keine Anhaltspunkte für das Vorliegen (objektiver) Willkür und damit kein Verfahrenshindernis auf.

Die sachliche Zuständigkeit des Landgerichts war gegeben, weil im Falle des Tatnachweises die Frage im Raume stand, ob die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus (§ 63 StGB) anzuordnen ist. Eine solche Anordnung kann nur vom Landgericht getroffen werden (§ 74 Abs. 1 Satz 2 GVG).

Der Annahme sachlicher Zuständigkeit steht nicht entgegen, dass zunächst ein erstinstanzliches Urteil des Amtsgerichts ergangen ist und das Verfahren in der Berufungsinstanz bei der kleinen Strafkammer als Berufungskammer (§ 74 Abs. 3 GVG) anhängig gewesen ist. Ob die Übernahme des Verfahrens durch das Landgericht auf Vorlage des Vorsitzenden der Berufungskammer in entsprechender Anwendung des § 225a StPO im Interesse der Verfahrensbeschleunigung und der Prozessökonomie zulässig ist (BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2002 - 1 StR 306/02, NStZ 2003, 320; Britz in: Radtke/ Hohmann, StPO 2011, § 225a Rn. 1; SK/StPO-Deiters/Albrecht, 5. Aufl., § 225a Rn. 3; KK-Gmel, StPO, 7. Aufl., § 225a Rn. 4; SSW/Grube, StPO, 2. Aufl., § 225a Rn. 4; LR-Jäger, StPO, 26. Aufl., § 225a Rn. 6; Hegmann NStZ 2000, 574, 575) oder ob eine entsprechende Anwendung der genannten Vorschrift in Ermangelung einer gesetzlichen Regelungslücke ausscheidet (KMR-Eschelbach, Stand: Dezember 2001 § 225a Rn. 7; KMR-Brunner, Stand: Mai 2012 § 328 Rn. 25; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 58. Aufl., § 225a Rn. 2; Meyer-Goßner NStZ 1981, 168, 170, bedarf vorliegend keiner Entscheidung. Das Landgericht konnte sich für seine Rechtsauffassung, dass eine Übernahme des Verfahrens in entsprechender Anwendung des § 225a StPO zulässig ist, auf die Entscheidung des 1. Strafsenats des Bundesgerichtshofs (BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2002 - 1 StR 306/02, NStZ 2003, 320) und auf die herrschende Lehre stützen. Bei dieser Sachlage ist die Verfahrensbehandlung durch das Landgericht nicht willkürlich.

2. Soweit die Revision mit einer Verfahrensrüge beanstandet, dass das Landgericht das erstinstanzliche Urteil des Amtsgerichts nicht förmlich aufgehoben habe, bleibt die Rüge ohne Erfolg. Mit dem Übernahmebeschluss des Landgerichts vom 26. März 2014 war das erstinstanzliche Urteil prozessual überholt. Einer förmlichen Aufhebung der Entscheidung bedurfte es bei dieser Sachlage nicht (BGH, Beschluss vom 19. Dezember 2002 - 1 StR 306/02, NStZ 2003, 320).

3. Die Überprüfung des Urteils aufgrund der Sachrüge zeigt keinen durchgreifenden Rechtsfehler auf.

Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts. Die revisionsgerichtliche Prüfung ist darauf beschränkt, ob ihm dabei Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist in sachlich-rechtlicher Hinsicht der Fall, wenn die Beweiswürdigung lückenhaft, in sich widersprüchlich oder unklar ist, gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt oder wenn an die zur Verurteilung erforderliche Gewissheit überspannte Anforderungen gestellt werden (st. Rspr.; vgl. Senat, Urteil vom 6. November 1998 - 2 StR 636/97, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 16).

Nach diesen Maßstäben hält die Beweiswürdigung des Landgerichts rechtlicher Überprüfung stand. Ausgehend von der Einlassung des Angeklagten, der eine Verletzung des Nebenklägers in Abrede gestellt hat, und unter Berücksichtigung der die Einlassung des Angeklagten stützenden Bekundungen des Zeugen M. hat das Landgericht die den Angeklagten belastenden Angaben des Nebenklägers einer sorgfältigen Glaubhaftigkeitsprüfung unterzogen. Dass es vor dem Hintergrund der wechselnden Angaben des Nebenklägers, des mit seinen Angaben nicht in Einklang stehenden objektiven Spurenbilds am Tatort und der problematischen Persönlichkeit des langjährig drogenabhängigen und zum Tatzeitpunkt unter dem Einfluss berauschender Mittel stehenden Nebenklägers Zweifel an der Glaubhaftigkeit seiner Angaben nicht zu überwinden vermochte, ist von Rechts wegen nicht zu beanstanden.

III.

Der Nebenkläger trägt die Kosten seines Rechtsmittels und die dem Angeklagten insoweit entstandenen notwendigen Auslagen (§ 473 Abs. 1 StPO).

HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 603

Externe Fundstellen: NStZ 2017, 240; StV 2016, 621

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede