HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 248
Bearbeiter: Christoph Henckel
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 311/22, Urteil v. 14.12.2022, HRRS 2023 Nr. 248
1. Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts München I vom 24. Februar 2022 wird verworfen; jedoch wird der Schuldspruch dahin neu gefasst, dass der Angeklagte des unerlaubten Besitzes einer halbautomatischen Kurzwaffe schuldig ist.
Der Angeklagte hat die Kosten seines Rechtsmittels zu tragen.
2. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das vorbezeichnete Urteil mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Schwurgerichtskammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen „unerlaubten Besitzes einer Schusswaffe“ zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt.
Der Angeklagte wendet sich mit seiner auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision gegen seine Verurteilung. Seinem Rechtsmittel bleibt der Erfolg versagt; es führt jedoch zu der aus dem Tenor ersichtlichen Änderung des Schuldspruchs. Die Staatsanwaltschaft erstrebt mit ihrer vom Generalbundesanwalt vertretenen Revision die Verurteilung des Angeklagten wegen Mordes; sie erhebt Verfahrensbeanstandungen und rügt die Verletzung materiellen Rechts. Das Rechtsmittel ist begründet.
1. Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
Der Angeklagte war mit der Geschädigten O. verheiratet. Im Juni 2015 trennte sich diese von ihm und zog mit einer gemeinsamen Tochter nach A. Beim Familiengericht reichte sie einen Antrag auf Aufenthaltsbestimmung für die weiteren vier gemeinsamen Kinder ein.
In der Nacht vom 3. auf den 4. August 2015 besuchte der Angeklagte zunächst die Geschädigte in A. Später fuhr das Ehepaar zusammen mit der bei der Geschädigten lebenden Tochter zur Wohnung des Angeklagten. Nachdem sich das Mädchen gegen 4.00 Uhr schlafen gelegt hatte, vollzogen der Angeklagte und die Geschädigte einvernehmlich den Geschlechtsverkehr. In diesem Zusammenhang wurde eine halbautomatische Selbstladepistole, Fabrikat Cz, Modell 75, Kaliber 9 mm Luger, „verwendet“, die der Angeklagte, der über keine waffenrechtliche Erlaubnis verfügte, nebst passender Munition im Schlafzimmer aufbewahrte. Nachdem die Geschädigte um 5.37 Uhr auf ihrem Mobiltelefon einen WhatsApp-Chat, in dem sie ein Bild von sich in Dessous verschickt hatte, aufgerufen hatte, wurde sie wenige Minuten später, zu einem unbekannten Zeitpunkt zwischen 5.42 Uhr und 5.59 Uhr, durch eine Kugel aus der Waffe des Angeklagten getötet, die im Bereich der linken Schläfe in ihren Schädel eindrang.
2. Das Landgericht hat den Angeklagten abweichend von der unverändert zur Hauptverhandlung zugelassenen Anklage, mit der ihm tateinheitlich zu einem Waffendelikt die heimtückische Tötung seiner Ehefrau aus niedrigen Beweggründen zur Last gelegt worden war, wegen „unerlaubten Besitzes einer Schusswaffe“ nach § 52 Abs. 1 Nr. 2b i.V.m. Anlage 2 Abschnitt 2 Unterabschnitt 1 Satz 1 WaffG zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt. Die Strafkammer hat sich keine Überzeugung davon bilden können, auf welche Weise es zu der Schussabgabe kam, und daher nicht auszuschließen vermocht, dass der Angeklagte hierzu weder vorsätzlich noch fahrlässig beigetragen hat.
1. Die Revision des Angeklagten ist unbegründet.
a) Die Überprüfung des Urteils aufgrund der Sachrüge hat aus den durch den Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift zutreffend ausgeführten Gründen keinen den Angeklagten benachteiligenden Rechtsfehler ergeben. Soweit der Revisionsführer einen Verstoß gegen das aus § 46 Abs. 3 StGB folgende Doppelverwertungsverbot rügt, weil die Strafkammer zu Lasten des Angeklagten berücksichtigt hat, dass dieser mit direktem Vorsatz handelte, ist mit Blick auf die übrigen Strafzumessungserwägungen - insbesondere den Umstand, dass die Geschädigte infolge des Waffenbesitzes des Angeklagten zu Tode kam - jedenfalls auszuschließen, dass das Urteil hierauf beruht (§ 354 Abs. 1 StPO entsprechend).
b) Der Senat hat jedoch den Schuldspruch wie aus dem Tenor ersichtlich neu gefasst, da es zur Kennzeichnung des begangenen Unrechts, in Abgrenzung zu einer Strafbarkeit nach § 52 Abs. 3 Nr. 2a WaffG, der konkreten rechtlichen Bezeichnung der Tat bedarf (§ 260 Abs. 4 Satz 1 StPO).
2. Die zuungunsten des Angeklagten eingelegte Revision der Staatsanwaltschaft hat bereits mit der Sachrüge Erfolg. Auf die erhobenen Verfahrensbeanstandungen kommt es deshalb nicht an.
a) Die Anklage vom 28. Juli 2020 hat dem Angeklagten zur Last gelegt, die Geschädigte heimtückisch und aus niedrigen Beweggründen getötet und zugleich eine Schusswaffe besessen zu haben.
Der Angeklagte, der sich mit der Trennungsabsicht seiner Ehefrau nicht habe abfinden wollen, habe in der Nacht vom 3. auf den 4. August 2015 den Entschluss gefasst, diese zu töten, sofern sie nicht zu ihm zurückkehre. Er habe die Geschädigte deshalb besucht und überredet, mit der bei ihr lebenden Tochter zu ihm zu fahren, um am nächsten Tag einen Familienausflug mit den fünf gemeinsamen Kindern zu machen. Obwohl es in der Wohnung des Angeklagten zum einvernehmlichen Geschlechtsverkehr gekommen sei, habe die Geschädigte weiterhin an ihrer Trennungsabsicht festgehalten. Nachdem es dem Angeklagten gelungen sei, das Mobiltelefon seiner Ehefrau zu ergreifen, und er dort Dessous-Bilder der Geschädigten in zwei Chats mit anderen Männern entdeckt habe, habe er - von Eifersucht getrieben - beschlossen, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Er habe die von ihm bereits zuvor geladene halbautomatische Selbstladepistole, Fabrikat Cz, Modell 75, Kaliber 9 mm Luger, für die er keine waffenrechtliche Erlaubnis besessen habe, genommen und die sich keines Angriffs auf ihr Leben versehende Geschädigte gezwungen, sich vor ihn zu knien. Sodann habe er die Waffe an ihre linke Schläfe angesetzt und diese entsprechend seiner zuvor gefassten Absicht abgefeuert. Durch den Kopfschuss sei die Geschädigte sofort verstorben.
b) Nach der Einlassung des Angeklagten habe die Geschädigte während einer kurzen Abwesenheit desselben dessen ursprünglich ungeladene Waffe ergriffen. Als der Angeklagte zurückgekehrt sei, habe sich seine Ehefrau die Pistole vor die Brust gehalten. Er habe ihr die Waffe abnehmen wollen. Dabei habe sich im Gerangel der Schuss gelöst. Die Strafkammer hat diese Erklärung anhand der erhobenen Beweise überprüft. Dabei hat sie für jedes einzelne Indiz, das gegen die Einlassung des Angeklagten sprach, dargelegt, dass dieses unter bestimmten Voraussetzungen mit seiner Erklärung vereinbar wäre, und dabei jeweils den für diesen günstigsten Geschehensablauf unterstellt. „Insgesamt“ lasse sich die Einlassung des Angeklagten deshalb ungeachtet der Aspekte, die „die Schilderung des Angeklagten als unwahrscheinlich erscheinen“ ließen, „ohne vernünftige Zweifel“ nicht widerlegen. „In dubio pro reo“ müsse „von der für den Angeklagten günstigsten möglichen Sachverhaltsvariante“ ausgegangen werden.
c) Die Beweiswürdigung begegnet - auch eingedenk des nur eingeschränkten revisionsgerichtlichen Überprüfungsmaßstabes (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 10. November 2021 - 5 StR 127/21 Rn. 11 mwN) - durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Denn die Urteilsgründe lassen nicht erkennen, dass das Landgericht die Einlassung des Angeklagten der gebotenen kritischen Gesamtwürdigung unterzogen hat. Im Einzelnen:
aa) Ist eine Vielzahl einzelner Erkenntnisse angefallen, so ist eine Gesamtwürdigung vorzunehmen (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteil vom 6. Februar 2002 - 1 StR 513/01 Rn. 27). Erst sie entscheidet letztlich darüber, ob das Tatgericht die Überzeugung von der Schuld des Angeklagten und den sie tragenden Feststellungen gewinnt. Auch wenn keine der Indiztatsachen für sich allein zum Nachweis der Täterschaft des Angeklagten ausreichen würde, besteht die Möglichkeit, dass sie in ihrer Gesamtschau dem Tatgericht die entsprechende Überzeugung vermitteln. Denn Beweisanzeichen können in einer Gesamtschau wegen ihrer Häufung und gegenseitigen Durchdringung die Überzeugung von der Richtigkeit eines Vorwurfs begründen (vgl. BGH, Urteil vom 2. Dezember 2015 - 1 StR 292/15 Rn. 9). Der Beweiswert einzelner Indizien ergibt sich zudem regelmäßig erst aus dem Zusammenhang mit anderen Beweisanzeichen, weshalb der Inbezugsetzung derselben zueinander im Rahmen der Gesamtwürdigung besonderes Gewicht zukommt. Dabei dürfen einzelne Beweisergebnisse nicht mit der isolierten Anwendung des Zweifelssatzes entwertet werden; denn der Grundsatz in dubio pro reo ist keine Beweis-, sondern eine Entscheidungsregel (st. Rspr.; vgl. etwa BGH, Urteil vom 28. April 2022 - 5 StR 511/21 Rn. 19).
bb) Diesen Anforderungen wird die Beweiswürdigung des Landgerichts nicht gerecht.
Statt die Indizien mit ihrem jeweiligen Beweiswert in die Gesamtwürdigung einzustellen, würdigt die Strafkammer isoliert die einzelnen Umstände im Lichte der Einlassung des Angeklagten und spricht ihnen einen belastenden Beweiswert ab. Hierbei unterstellt es jeweils den für den Angeklagten günstigsten Geschehensablauf, wonach die zunächst gegen seine Einlassung sprechenden Aspekte mit dieser in Einklang zu bringen sind. Richtigerweise hätten die zahlreichen belastenden Hilfstatsachen, vor allem die geringen Schmauchspuren an den Händen der Geschädigten, aber auch die übrigen Beweisanzeichen (unverletzte rechte Hand der Geschädigten, obwohl diese nach der Einlassung des Angeklagten bei Schussabgabe am Lauf der Waffe gewesen sein soll; Sicherstellung einer Patrone in der rechten Hand der Geschädigten; Lage des Schusskanals; keine typische Kampfverletzung bei dem Angeklagten und der Geschädigten; keine nachgewiesene Selbstmordabsicht der Geschädigten; Gewalttätigkeit des Angeklagten in früheren Beziehungen), die das Landgericht in den Blick genommen hat, zunächst mit vollem Gewicht in die Gesamtwürdigung eingestellt werden müssen. Erst im Anschluss daran hätte der Zweifelssatz angewendet werden dürfen.
Soweit die Strafkammer ausgeführt hat, der Umstand, dass es sich bei dem todesursächlichen Geschehen um einen aufgesetzten Schuss handelte, spreche dafür, dass die Waffe - der Einlassung des Angeklagten folgend - in einem „Gerangel“ abgefeuert worden sei, ist dies - auch unter Berücksichtigung des Gesamtzusammenhangs der Urteilsgründe - nicht schlüssig. Denn in einem „Gerangel“ ist die Abgabe eines aufgesetzten Schusses eher nicht zu erwarten. Warum es vorliegend anders gewesen sein soll, wird nicht erörtert.
cc) Das Urteil beruht auch auf dem Rechtsfehler (§ 337 Abs. 1 StPO). Der Senat kann nicht ausschließen, dass das Landgericht zu einem anderen, für den Angeklagten ungünstigen Beweisergebnis gelangt wäre, wenn es auf der Grundlage einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung entschieden hätte. Die Sache bedarf deshalb neuer Verhandlung und Entscheidung.
3. Für die neue Verhandlung weist der Senat darauf hin, dass das Tatgericht, um dem Revisionsgericht eine Überprüfung der Aussagekonstanz des Angeklagten zu ermöglichen, dessen frühere Einlassungen ausführlicher als bislang geschehen in den Urteilsgründen zu dokumentieren und auch den Zeitpunkt der Einlassung des Angeklagten in der Hauptverhandlung näher in den Blick zu nehmen haben wird (vgl. BGH, Urteil vom 1. Februar 2017 - 2 StR 78/16 Rn. 23; Beschlüsse vom 23. März 2021 - 3 StR 68/21 Rn. 8-12 mwN und vom 22. Februar 2001 - 3 StR 580/00, BGHR StPO § 261 Aussageverhalten 21).
HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 248
Bearbeiter: Christoph Henckel