HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 255
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 331/21, Beschluss v. 16.11.2021, HRRS 2022 Nr. 255
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts München I vom 19. April 2021 mit den Feststellungen aufgehoben.
2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Jugendschutzkammer zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in 15 Fällen, davon in zehn Fällen in Tateinheit mit schwerem sexuellen Missbrauch von Kindern, in einem weiteren Fall in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern, in drei weiteren Fällen in Tateinheit mit sexueller Nötigung und in einem weiteren Fall in Tateinheit mit sexuellem Übergriff, sowie wegen Vergewaltigung, wegen besonders schwerer sexueller Nötigung und wegen sexueller Nötigung unter Einbeziehung der Einzelstrafen aus zwei amtsgerichtlichen Urteilen und Aufrechterhaltung der dort angeordneten Nebenfolgen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und zu einer weiteren Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt, ohne dass aus der 1 Urteilsformel ersichtlich wäre, welche Fälle zu welcher Gesamtfreiheitsstrafe gehören. Die hiergegen gerichtete, auf die Rüge einer Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat Erfolg.
1. Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen verübte der Angeklagte an seinen Töchtern M. (geboren am 25. Mai 2000), S. (geboren am 31. Januar 2002) und A. B. (geboren am 7. Dezember 2005) in der Zeit zwischen Oktober 2013 und Pfingsten 2019 verschiedene Sexualstraftaten.
a) So begab sich der Angeklagte an einem nicht näher bestimmbaren Tag im Zeitraum zwischen dem 25. Oktober und dem 30. November 2013 nachts in das Kinderschlafzimmmer, streichelte M. unter anderem an den Brüsten und manipulierte sodann mindestens zehn Minuten lang an deren Scheide (Fall B.I.1. der Urteilsgründe). Auch in der Nacht vom 20. auf den 21. Februar 2015 suchte er M. in ihrem Bett im Kinderschlafzimmer auf, massierte ihre Brüste und manipulierte dann mindestens zehn Minuten an ihrer Scheide, wobei er sie auf das Bett drückte, als sie sich wehrte und versuchte, ihn wegzustoßen (Fall B.I.2. der Urteilsgründe). An einem nicht näher bestimmbaren Tag im Zeitraum November/Dezember 2018 suchte der Angeklagte M. wiederum nachts auf, legte sich auf sie und rieb seinen entblößten Penis an ihrem zuvor entkleideten Intimbereich, bis er zum Samenerguss kam (Fall B.I.3. der Urteilsgründe). Am 1. Januar 2019 streichelte der Angeklagte M. zunächst über das Gesäß, zog ihr dann die Hose herunter und führte unter Überwindung ihres hiergegen verübten Widerstands seinen Finger in ihre Scheide ein, wobei er mehrere Minuten lang Stoßbewegungen mit dem Finger vollzog. Anschließend rieb er seinen Penis bis zum Samenerguss an der nackten Scheide der Geschädigten (Fall B.I.4. der Urteilsgründe). In der Zeit zwischen dem 1. Dezember 2017 und dem 24. Mai 2018 legte der Angeklagte sich zweimal auf die Geschädigte und rieb jeweils seinen entblößten Penis an ihrer Scheide, wobei er versuchte, vaginal in diese einzudringen. Da die Geschädigte jeweils aufschrie und ihn wegschubste, zog er seinen Penis zurück und rieb diesen weiter an der Scheide der Geschädigten, bis er zum Samenerguss kam (Fälle B.I.5. der Urteilsgründe). Schließlich setzte sich der Angeklagte an einem nicht genau bestimmbaren Tag nach dem 25. Mai 2018 neben die inzwischen volljährige Geschädigte auf die Couch und entkleidete sie. Da die Geschädigte sich wehrte, gab er ihr eine Ohrfeige und schubste sie so, dass sie rücklings zum Liegen kam. Als sich die Geschädigte dem Angeklagten weiterhin verweigerte, nahm dieser ein kleines Obstmesser vom Wohnzimmertisch, stach dieses ein „kleines Stück“ in den rechten Oberschenkel der Geschädigten und drückte sodann ein Tuch auf die blutende Wunde. Anschließend zog er sich Hose und Unterhose herunter und rieb seinen Penis bis zum Samenerguss an der Scheide der Geschädigten (Fall B.I.6. der Urteilsgründe).
b) An einem nicht näher bestimmbaren Tag im Zeitraum Oktober/November 2018 streichelte und knetete der Angeklagte das Gesäß seiner damals 16-jährigen Tochter S. B., als diese schlief, wobei er erkannte, dass diese ihm wegen ihres Schlafes keine Gegenwehr entgegensetzen konnte. Als S. erwachte und ihn anschrie, ließ er von ihr ab (Fall B.II. der Urteilsgründe).
c) Mit seiner Tochter A. vollzog der Angeklagte in der Zeit zwischen Ostern und Pfingsten 2019 mindestens zehnmal den vaginalen Geschlechtsverkehr, gegen den diese sich aus Angst nicht zur Wehr setzte (Fälle B.III. der Urteilsgründe).
1. Der Schuldspruch hat keinen Bestand, weil er nicht von einer rechtsfehlerfreien Beweiswürdigung getragen ist.
a) Das Landgericht hat seine Überzeugung vom Tatgeschehen im Wesentlichen auf die Aussagen der drei Geschädigten gestützt, wobei es erkannt hat, dass es sich jeweils um Aussage-gegen-Aussage-Konstellationen handelt und daher an die Beweiswürdigung besonders hohe Anforderungen zu stellen sind. Es hat bei seiner Beweiswürdigung in Rechnung gestellt, dass sowohl die Geschädigte M. B. als auch die Geschädigte S. B. - anders als A. B. - eine hohe „Lügenkompetenz“ aufweisen und dass die wiederholten Aussagen aller drei Geschädigter nicht frei von Widersprüchen waren. Dennoch hat es die Aussagen der Geschädigten als glaubhaft erachtet, wobei es die Aussagen der Geschädigten M. und S. B. - nicht aber die der Geschädigten A. B. - trotz der Widersprüche noch für ausreichend konstant hielt. Hinsichtlich der Geschädigten M. und S. B. hat es insbesondere auf die hohe inhaltliche Aussagequalität und hinsichtlich aller Geschädigten auf die Genese der Aussagen und das Fehlen von Motiven für eine Falschbelastung oder eine Fremd- oder Autosuggestion abgestellt. Zudem hat die Strafkammer darauf abgehoben, dass die Aussagen aller drei Geschädigter in einer Gesamtschau - auch vor dem Hintergrund der verschiedenen Rollen der Geschädigten in der Familie - ein plausibles einheitliches Bild im Sinne des festgestellten Tatgeschehens ergäben (UA S. 105).
b) Diese Beweiswürdigung hält revisionsrechtlicher Überprüfung auch eingedenk des eingeschränkten revisionsrechtlichen Prüfungsmaßstabs nicht stand.
aa) Die Beweiswürdigung ist allerdings Sache des Tatgerichts. Diesem obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Die revisionsgerichtliche Überprüfung ist darauf beschränkt, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist dann der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, sie gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt. Besondere Anforderungen sind an die Begründung und Darstellung der tatrichterlichen Überzeugungsbildung zu stellen, wenn das Tatgericht - wie hier - seine Feststellungen im Rahmen einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation zum eigentlichen Tatgeschehen allein auf die Angaben der Geschädigten stützt. In einer solchen Konstellation, in der die Entscheidung im Wesentlichen davon abhängt, ob das Tatgericht den Angaben der einzigen Belastungszeugin folgt, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass es alle Umstände, die seine Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegung einbezogen hat (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 22. September 2021 - 1 StR 284/21 Rn. 7; vom 6. August 2020 - 1 StR 178/20 Rn. 8 und vom 12. Februar 2020 - 1 StR 612/19 Rn. 4).
bb) An diesen Maßstäben gemessen erweist sich die Beweiswürdigung des Landgerichts im Fall B.I.6. der Urteilsgründe als nicht tragfähig. Sie ist widersprüchlich, weil das Landgericht mit dem von ihm zu Rate gezogenen rechtsmedizinischen Sachverständigen davon ausgegangen ist, dass die Narbe am rechten Bein der Geschädigten M. B. nicht von dem Messereinsatz des Angeklagten im Zusammenhang mit der behaupteten Vergewaltigung im Sommer 2018 stammen könne, es aber gleichwohl die Aussage der Geschädigten für glaubhaft gehalten hat, wonach die vom Sachverständigen begutachtete Narbe von dem Vorfall mit dem Messer (Fall B.I.6. der Urteilsgründe) herrühre. Die Erwägung des Landgerichts, der Stich mit dem Messer habe je nach Tiefe nicht notwendig eine bleibende Narbe verursachen müssen, zumal die Geschädigte angegeben habe, das Messer sei nicht „tief im Fleisch“ gewesen (UA S. 32), vermag diesen Widerspruch nicht aufzulösen. Denn das Landgericht hat sich insoweit nicht damit auseinandergesetzt, dass die Geschädigte M. B. ausgesagt hat, die Hautauffälligkeit („Narbe“) an ihrem Bein sei Folge des von ihr geschilderten Messereinsatzes des Angeklagten im Zusammenhang mit der behaupteten Vergewaltigung, und sie auch nach Vorhalt der Einschätzung des Sachverständigen daran festgehalten hat, dass sie sich „eigentlich sicher sei“, dass die „Narbe“ von dem Messereinsatz stamme (UA S. 41).
Auch den Widerspruch in den Aussagen der Geschädigten M. B., wonach der Angeklagte die durch den Messereinsatz verursachte Wunde nach der Tat mit einem Pflaster versorgt (UA S. 34 f.) beziehungsweise sie selbst ein Pflaster auf die Wunde geklebt habe, das sie aus der Arztpraxis, in der sie gearbeitet habe, mitgebracht habe (UA S. 41), hat die Strafkammer in ihrer Würdigung nicht aufgelöst. Schließlich hat das Landgericht lediglich mitgeteilt, dass die Geschädigte die Reinigung der mit dem Messer verursachten Wunde durch den Angeklagten mit Wodka erstmals in der Hauptverhandlung geschildert habe, ohne sich damit auseinanderzusetzen, ob und gegebenenfalls wie diese Aussageentwicklung unter Berücksichtigung des Umstands zu erklären sein könnte, dass die Geschädigte das Geschehen bereits in vorangegangenen Vernehmungen detailliert geschildert hatte, ohne dieses bemerkenswerte Detail zu erwähnen.
Einer besonders sorgfältigen Gesamtwürdigung unter Einbeziehung der vorgenannten Umstände hätte es nicht nur wegen der gegebenen Aussage-gegen-Aussage-Konstellation und der „überdurchschnittlichen Lügenkompetenz“ (UA S. 85 und 105) der Geschädigten M. B. bedurft, sondern insbesondere auch deshalb, weil die Geschädigte das Tatgeschehen im Fall B.I.6. der Urteilsgründe, obwohl es den schwersten Tatvorwurf betrifft und die Geschädigte diesbezüglich angab, selbst „schockiert gewesen“ zu sein (UA S. 34, vgl. auch UA S. 41), nicht bereits in der ersten polizeilichen Vernehmungen schilderte, sondern erstmals im Rahmen ihrer Vernehmung durch die Ermittlungsrichterin auf deren Nachfrage nach Narben. Ob die Angaben der Geschädigten M. B. zu dem Messereinsatz und dem Entstehen der Narbe glaubhaft sind, ist auch dafür von Bedeutung, ob der Aussage dieser Geschädigten - so das Landgericht - insgesamt gefolgt werden kann. Ist dies nicht der Fall, ist zu beachten, dass es regelmäßig einer besonderen Begründung bedarf, wenn das Tatgericht nur einem Teil der Aussage des einzigen Belastungszeugen glaubt, ihm aber im Hinblick auf andere wesentliche Teile nicht folgt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 31. August 2021 - 5 StR 223/21 Rn. 4 und vom 28. Juli 2015 - 4 StR 132/15 Rn. 6).
cc) Die Rechtsfehler bei Würdigung der Aussage der Geschädigten M. B. im Fall B.I.6. der Urteilsgründe strahlen auf die Beweiswürdigung im Übrigen aus, weshalb die Beweiswürdigung insgesamt keinen Bestand haben kann. Denn eine maßgebliche Erwägung des Landgerichts im Rahmen seiner Gesamtwürdigung liegt darin, dass die Angaben der drei Geschädigten in der Gesamtschau ein stimmiges und plausibles einheitliches Bild ergäben (UA S. 105). Diese Überlegung des Landgerichts - und damit auch die hierauf gestützte Gesamtwürdigung - ist mit Wegfall der Aussage einer der Geschädigten insgesamt nicht mehr tragfähig.
Der Wegfall der Aussage der Geschädigten M. B. wiegt gerade mit Blick auf die Beweiswürdigung zu den Taten zum Nachteil der A. B. (Fälle B.III. der Urteilsgründe) besonders schwer, weil die Aussagen dieser Geschädigten - dies hat die Strafkammer nicht verkannt - nicht nur hinsichtlich des Tatzeitraums und anderen Details erhebliche Widersprüche aufweisen und wenig konstant sind, sondern diese insgesamt sehr pauschal und detailarm geblieben sind, weshalb das Landgericht von einer schlechten Aussagequalität ausgegangen ist.
2. Auch die Feststellungen haben keinen Bestand, weil sie von dem zur Aufhebung führenden Rechtsfehler betroffen sind (§ 353 Abs. 2 StPO). Das neue Tatgericht wird mit Blick auf die besonders schwierige Beweislage, insbesondere die „Lügenkompetenz“ der Geschädigten M. und S. B. einerseits und die Verschlossenheit der Geschädigten A. B. andererseits, sowie die erheblichen familiären Verflechtungen und Besonderheiten in Betracht zu ziehen haben, einen aussagepsychologischen Sachverständigen zur Schaffung einer bestmöglichen Grundlage für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Geschädigten und der Glaubhaftigkeit ihrer Angaben hinzuzuziehen.
HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 255
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede