HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 6
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 148/21, Beschluss v. 30.06.2021, HRRS 2022 Nr. 6
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Baden-Baden vom 29. Dezember 2020 mit den Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Anstiftung zur Vergewaltigung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Die mit der Beanstandung der Verletzung formellen und materiellen Rechts geführte Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg.
Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
1. Der Angeklagte war ab Anfang der 1980er Jahre in leitender Funktion als Jugendbetreuer einer Pfadfinderschaft tätig. Die 1976 geborene Nebenklägerin kam etwa im Alter von sieben Jahren zu dem Pfadfinderstamm in B. An einem nicht mehr feststellbaren Tag im Zeitraum zwischen 1983 und 1986 wurde sie auf Anweisung des Angeklagten von einem oder mehreren Pfadfinderjungen von den Gruppenräumen in einen Raum im untersten Geschoss des Hauses geführt, in dem sich auch der Angeklagte aufhielt. Dort kam sie aus Furcht vor dem Angeklagten der Aufforderung nach, sich auszuziehen und auf einen streckbankähnlichen Tisch zu legen. Auf Anweisung des Angeklagten wurde die Nebenklägerin in der Weise auf den Tisch gefesselt, dass sie nur noch ihre Knie anheben, sich aber im Übrigen nicht bewegen konnte. Zudem hielt eine Person ihren Kopf fest. Auf Aufforderung des Angeklagten legten sich nun nacheinander mindestens zwei nicht ermittelbare Pfadfinderjungen unbekannten Alters auf die Nebenklägerin und führten gegen deren Willen ihre Penisse in die Scheide ein. Anschließend wurden der Nebenklägerin ihre Fesseln gelöst und ihr beim Anziehen geholfen. Der Angeklagte „belobigte“ sie als gute Pfadfinderin und nahm ihr den „Pfadfinderschwur“ ab, niemandem etwas zu erzählen. Als Folge dieser Tat sowie zweier weiterer Erfahrungen sexuellen Missbrauchs in der Kindheit entwickelte sich bei der Nebenklägerin eine schwere posttraumatische Belastungsstörung, deren Überwindung ihr trotz langjähriger Psychotherapie nicht vollständig gelungen ist.
2. Der Angeklagte hat sich lediglich im letzten Wort dahin eingelassen, dass er die Tat nicht begangen habe. Die Strafkammer ist - sachverständig beraten - den Angaben der Nebenklägerin gefolgt, die sie für glaubhaft befunden hat.
Die Verurteilung des Angeklagten hält bereits einer sachlichrechtlichen Nachprüfung nicht stand, so dass es eines Eingehens auf die Verfahrensrüge nicht bedarf.
1. Die Beweiswürdigung des Landgerichts ist rechtsfehlerhaft (§ 261 StPO), weil ein durchgreifender Erörterungsmangel bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Nebenklägerin vorliegt.
a) Allerdings ist die Beweiswürdigung Sache des Tatrichters, dem es obliegt, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen. Die revisionsgerichtliche Überprüfung ist darauf beschränkt, ob dem Tatgericht Rechtsfehler unterlaufen sind. Dies ist dann der Fall, wenn die Beweiswürdigung widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze verstößt. Es bestehen jedoch besondere Anforderungen an die Begründung und Darstellung der Überzeugungsbildung, wenn das Tatgericht - wie vorliegend - seine Feststellungen im Rahmen einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation zum eigentlichen Tatgeschehen allein auf die Angaben der Geschädigten stützt. In einer solchen Konstellation, in der die Entscheidung im Wesentlichen davon abhängt, ob das Tatgericht den Angaben der einzigen Belastungszeugin folgt, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass es alle Umstände, die seine Entscheidung beeinflussen können, erkannt und in seine Überlegung einbezogen hat (st. Rspr.; vgl. Beschlüsse vom 6. August 2020 - 1 StR 178/20 Rn. 8; vom 12. Februar 2020 - 1 StR 612/19 Rn. 4 und vom 18. März 2020 - 1 StR 67/20 Rn. 7).
b) Die Beweiswürdigung des Landgerichts ist durch Folgendes geprägt:
aa) Die Strafkammer hat bei der Prüfung der Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin diese zwar einer weitgehenden Analyse der Aussage im Rahmen einer Aussage-gegen-Aussage-Konstellation unterzogen. Hierbei hat sie insbesondere in den Blick genommen, dass die schwer persönlichkeitsbelastete Nebenklägerin die Ereignisse lange Jahre verdrängt und diese erstmals im Juni 2015 - also etwa 30 Jahre später - im Anschluss an einen stationären Klinikaufenthalt aufgrund traumatischer Erinnerungen gegenüber ihrem sie behandelnden Facharzt für Psychotherapeutische Medizin offenbart hat (vgl. zu den Anforderungen an eine sichere Verneinung von Pseudoerinnerungen BGH, Beschluss vom 16. Juni 2021 - 1 StR 109/21 Rn. 15; Urteil vom 20. Mai 2015 - 2 StR 455/14 Rn. 19). Die Nebenklägerin habe im Rahmen der bis Mai 2018 andauernden traumaorientierten Psychotherapie von sich aus wiederholt belastende Erinnerungsfragmente geschildert, die sie als „(innere) Bilder“ bezüglich des Tatgeschehens erlebt habe (UA S. 13).
bb) In der Hauptverhandlung hat die Nebenklägerin - wie bereits im Ermittlungsverfahren - noch weitere Vorfälle im Pfadfinderhaus unter Beteiligung des Angeklagten geschildert, wozu sie aber nur vereinzelte, undeutliche Bilder vor Augen habe. Ferner gab sie an - ohne jedoch Details mitzuteilen -, auch im privaten Bereich sexuellen Missbrauch erlitten zu haben (UA S. 12), wobei sie im Rahmen der nachfolgenden Exploration durch den Sachverständigen insoweit schilderte, dass ein drei bis vier Jahre älterer Junge namens L., der auch zu den Pfadfindern gehört habe, sie zeitlich vor den Geschehnissen im Pfadfinderhaus über einen Zeitraum von ein bis zwei Jahren sexuell missbraucht habe, indem er sie zunächst im Intimbereich berührt habe, später dazu auch aufgefordert habe, seinen Penis in den Mund zu nehmen, und zuletzt auch vaginal und anal penetriert habe (UA S. 15).
Das Landgericht jedoch hat - zudem nach Abschluss der Einvernahme der Nebenklägerin in der Hauptverhandlung - anhand eines erst dann bekannt gewordenen Attests des sie behandelnden Traumatherapeuten Bu. vom 7. November 2017 festgestellt, dass es einen Hinweis auf eine weitere Missbrauchserfahrung gebe, wonach die Nebenklägerin in der Kindheit auch Opfer sexueller Übergriffe durch nahe Angehörige geworden sei. Über ihre Vertreterin erklärte die Nebenklägerin, dass sie sich hierzu aus persönlichen und familiären Gründen nicht äußern und auch ihren Arzt nicht von seiner Schweigepflicht entbinden wolle (UA S. 40).
cc) Die Strafkammer hat insoweit zugrundegelegt, dass es tatsächlich einen Missbrauch durch einen nahen Angehörigen in der Kindheit gegeben habe, ohne jedoch dazu Einzelheiten feststellen zu können. Eine Kontamination der Aussage der Nebenklägerin durch Überblendung und Vermischung von Erlebnisinhalten bezüglich unterschiedlicher Missbrauchserlebnisse schloss das Landgericht allerdings aus. Ebenso wie bei dem Missbrauch der Nebenklägerin durch den älteren Jungen L., bezüglich dessen laut Sachverständigem aufgrund der eindeutigen zeitlichen Einordnung durch die Nebenklägerin und der grundlegend verschiedenen Tatmodalitäten sicher nicht von einer Kontamination ausgegangen werden könne, weiche auch der Missbrauch im familiären Umfeld im erheblichen Maß von der Situation des Tatgeschehens ab. Dass der Sachverständige den Missbrauch der Nebenklägerin durch einen nahen Familienangehörigen im Hinblick auf eine mögliche Vermischung von Erlebnisinhalten als „problematisch“ beurteilt habe, „falls es in den Angaben der Nebenklägerin im zeitlichen Verlauf eine Tendenz zur Ausweitung derselben auf neue, bisher unbekannte Geschehnisse geben sollte“, ändere hieran nach Auffassung des Landgerichts nichts. Vielmehr habe nach Auffassung des Landgerichts „ausweislich des Datums des Attests, das kurz nach der ersten polizeilichen Vernehmung der Nebenklägerin erstellt wurde, diese ihre Aussage gerade nicht ausgeweitet, sondern vielmehr - mutmaßlich aus den nun von ihr angeführten persönlichen und familiären Gründen - von vornherein beschränkt“ (UA S. 40).
c) Diese Erwägungen des Landgerichts erweisen sich als rechtlich durchgreifend bedenklich.
aa) Es ist bereits nicht nachvollziehbar, dass eine Kontamination der auf Erinnerungsbildern beruhenden Aussage der Nebenklägerin durch eine Überblendung und Vermischung von Erlebnisinhalten bezüglich unterschiedlicher Missbrauchserlebnisse - erst recht mit Blick auf den mit ca. 30 Jahren erheblichen Zeitraum - ausgeschlossen sein soll. Zu dem vom Landgericht angenommenen Missbrauch der Nebenklägerin durch einen nahen Familienangehörigen liegen keine Erkenntnisse vor. Es bleibt offen, durch wen, wann genau und unter welchen Umständen dieser stattgefunden haben soll. Damit kann aber nicht beurteilt werden, aufgrund welcher Kriterien eine Fehlprojektion oder das Vorliegen von Pseudoerinnerungen verneint werden kann. Eine hinreichende Begründung hierfür fehlt.
bb) Entscheidend ist aber, dass sich das Landgericht im Rahmen der Glaubhaftigkeitsanalyse der Aussagen der Nebenklägerin nicht damit auseinandersetzt, dass die Nebenklägerin einen wesentlichen Aspekt, nämlich den sexuellen Missbrauch durch einen nahen Familienangehörigen im maßgeblichen Tatzeitraum, verschwiegen hat. So ist die „ausgestanzte“ Aussage der Nebenklägerin unter Weglassen des Missbrauchs in der Familie im Tatzeitraum - gerade wenn ihre Erinnerung auf unspezifischen, wieder hervorgerufenen Erinnerungsbildern beruht - bedenklich und für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Angaben der Nebenklägerin von erheblicher Bedeutung. Das Landgericht wäre demnach gehalten gewesen, das Aussageverhalten der Nebenklägerin, ihre Erinnerungen lediglich „gefiltert“ zu schildern, in eine auch diesen Aspekt erfassende Glaubhaftigkeitsbeurteilung einzubeziehen.
2. Die Sache bedarf daher insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung.
HRRS-Nummer: HRRS 2022 Nr. 6
Externe Fundstellen: NStZ-RR 2022, 53
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede