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HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 636

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 615/19, Beschluss v. 01.04.2020, HRRS 2020 Nr. 636


BGH 1 StR 615/19 - Beschluss vom 1. April 2020 (LG Waldshut-Tiengen)

Nachträgliche Gesamtstrafenbildung (abzuurteilende Taten wurden zwischen zwei Vorverurteilungen begangen).

§ 54 StGB: § 55 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Wurden die neu abzuurteilenden Taten zwischen zwei Vorverurteilungen begangen, die untereinander nach § 55 StGB gesamtstrafenfähig sind, darf aus den Strafen für die neu abgeurteilten Taten und der Strafe aus der letzten Vorverurteilung keine Gesamtstrafe gebildet werden. Der letzten Vorverurteilung kommt, da die Taten aus beiden Vorverurteilungen bereits in dem früheren Erkenntnis hätten geahndet werden können, gesamtstrafenrechtlich keine eigenständige Bedeutung zu.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Waldshut-Tiengen vom 8. August 2019 im Gesamtstrafenausspruch sowie im Ausspruch über die Anrechnung erbrachter Arbeitsleistungen aufgehoben.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

I.

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge und wegen versuchter Sachbeschädigung unter Einbeziehung der Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichts L. vom 23. August 2017 zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten sowie wegen Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten verurteilt. Im Übrigen hat es den Angeklagten freigesprochen. Darüber hinaus hat das Landgericht Arbeitsleistungen, durch die der Angeklagte eine Auflage für die Aussetzung der Vollstreckung der einbezogenen achtmonatigen Freiheitsstrafe erfüllt hatte, mit zwei Wochen auf die gebildete Gesamtfreiheitsstrafe angerechnet. Zudem hat es sichergestelltes Bargeld eingezogen.

Gegen seine Verurteilung richtet sich die auf die Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.

II.

Der Gesamtstrafenausspruch des angefochtenen Urteils kann keinen Bestand haben, weil die Strafkammer dem Urteil des Amtsgerichts L. vom 23. August 2017 zu Unrecht Zäsurwirkung beigemessen hat.

1. Wurden die neu abzuurteilenden Taten zwischen zwei Vorverurteilungen begangen, die untereinander nach § 55 StGB gesamtstrafenfähig sind, darf aus den Strafen für die neu abgeurteilten Taten und der Strafe aus der letzten Vorverurteilung keine Gesamtstrafe gebildet werden. Der letzten Vorverurteilung kommt, da die Taten aus beiden Vorverurteilungen bereits in dem früheren Erkenntnis hätten geahndet werden können, gesamtstrafenrechtlich keine eigenständige Bedeutung zu. Dies gilt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs unabhängig davon, ob eine nachträgliche Gesamtstrafe tatsächlich gebildet wurde (vgl. BGH, Beschluss vom 17. November 2015 ? 4 StR 276/15 Rn. 5; Urteil vom 12. August 1998 ? 3 StR 537/97, BGHSt 44, 179, 180 f.) oder im Verfahren nach § 460 StPO noch nachgeholt werden kann (vgl. BGH, Beschluss vom 26. Februar 2020 - 4 StR 420/19 Rn. 3 mwN). Eine gegebene Gesamtstrafenlage wird auch nicht dadurch beseitigt, dass nach § 55 Abs. 1 StGB i.V.m. § 53 Abs. 2 Satz 2 StGB von der Einbeziehung einer Geldstrafe in eine Gesamtfreiheitsstrafe abgesehen worden ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 18. Dezember 2013 - 4 StR 356/13 Rn. 5 mwN und vom 15. September 2010 - 5 StR 325/10 Rn. 1).

2. Nach diesen Grundsätzen hätte die Strafkammer bereits dem früheren Urteil des Amtsgerichts L. vom 27. Juni 2016, mit dem der Angeklagte zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen zu je 15 € verurteilt wurde, Zäsurwirkung beimessen und aus allen von ihr selbst verhängten Strafen eine Gesamtstrafe bilden müssen. Denn die mit dem späteren Urteil des Amtsgerichts L. vom 23. August 2017 geahndete Tat hatte der Angeklagte noch vor der früheren Entscheidung begangen. Die beiden Vorverurteilungen sind daher untereinander gesamtstrafenfähig. Davon ging zutreffend auch der nachträgliche Gesamtstrafenbeschluss vom 15. März 2018 aus, mit welchem das Amtsgericht die Geldstrafe aus dem Urteil des Amtsgerichts L. vom 27. Juni 2016 gemäß § 55 Abs. 1 StGB i.V.m. § 53 Abs. 2 Satz 2 StGB gesondert bestehen ließ.

Die Gesamtstrafenbildung in dem angefochtenen Urteil erweist sich auch nicht deshalb als richtig, weil die Geldstrafe „mittlerweile ohnehin vollständig vollstreckt“ (UA S. 73) ist. Für die Gesamtstrafenfähigkeit zwischen den Vorverurteilungen ist jedenfalls in der hier gegebenen Fallkonstellation der Vollstreckungsstand der Geldstrafe zum Zeitpunkt des (zweiten) Urteils vom 23. August 2017 maßgebend. Damals war sie noch nicht vollständig vollstreckt (vgl. UA S. 14). Ihre spätere Erledigung ist für die gesamtstrafenrechtliche Beurteilung ohne Belang (vgl. BGH, Beschlüsse vom 18. Dezember 2013 - 4 StR 356/13 Rn. 6 mwN und vom 15. September 2010 - 5 StR 325/10 Rn. 1; vgl. auch BGH, Urteil vom 17. Mai 2017 - 2 StR 342/16 Rn. 21 f.; Beschluss vom 26. Juni 2013 - 3 StR 161/13 Rn. 2 f., BGHR StPO § 460 Anwendung 1).

3. Durch die fehlerhafte Verhängung von zwei (Gesamt-)Freiheitsstrafen unter Einbeziehung der zur Bewährung ausgesetzten Freiheitsstrafe von acht Monaten aus dem Urteil des Amtsgerichts L. vom 23. August 2017 ist der Angeklagte beschwert (vgl. etwa BGH, Beschlüsse vom 29. Mai 2019 - 2 StR 157/19 Rn. 5 und vom 18. Dezember 2013 - 4 StR 356/13 Rn. 7). Der Senat hebt daher - wobei die Feststellungen unberührt bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO) - den Gesamtstrafenausspruch auf. Zugleich ist wegen des selbständigen Fortbestands der fehlerhaft einbezogenen Bewährungsstrafe die auf § 58 Abs. 2 Satz 2, § 56f Abs. 3 Satz 2 StGB gestützte Anrechnungsentscheidung aufzuheben (vgl. BGH, Beschluss vom 29. Mai 2019 - 2 StR 157/19 Rn. 6 [zu § 55 Abs. 2 StGB]). Eine solche Anrechnung wird ggf. das mit einem Widerruf der Strafaussetzung befasste Gericht gemäß § 56f Abs. 3 Satz 2 StGB zu prüfen haben.

4. Der Senat, der von der Möglichkeit des § 354 Abs. 1b Satz 1 StPO keinen Gebrauch macht, weist für die neue Hauptverhandlung auf Folgendes hin: Die aus den rechtskräftigen Einzelstrafen zu bildende neue Gesamtstrafe darf wegen des Verschlechterungsverbots des § 358 Abs. 2 Satz 1 StPO nur so hoch bemessen werden, dass sie zusammen mit der bestehenbleibenden Strafe von acht Monaten aus dem Urteil des Amtsgerichts L. vom 23. August 2017 die Summe aus der im angefochtenen Urteil verhängten Gesamtfreiheitsstrafe und der Freiheitsstrafe wegen Körperverletzung nicht übersteigt (vgl. hierzu BGH, Beschlüsse vom 8. Oktober 2019 - 1 StR 563/18 Rn. 4 und vom 18. Dezember 2013 - 4 StR 356/13 Rn. 8, jeweils mwN). Das neue Tatgericht kann weitere Feststellungen treffen, sofern sie den bisherigen nicht widersprechen.

HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 636

Externe Fundstellen: NStZ 2021, 36; StV 2021, 430

Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede