HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 728
Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 5/24, Beschluss v. 03.04.2024, HRRS 2024 Nr. 728
1. Auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 12. Juli 2023 wird
a) das Verfahren im Fall II.1.b der Urteilsgründe eingestellt; im Umfang der Einstellung fallen die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten der Staatskasse zur Last;
b) das Urteil aufgehoben
aa) im Fall II.1.a der Urteilsgründe mit den zugehörigen Feststellungen,
bb) im Ausspruch über die Gesamtstrafe.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die verbleibenden Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
2. Die weitergehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten unter Freispruch im Übrigen wegen Vergewaltigung in zwei Fällen (II.1.a und d der Urteilsgründe), wegen sexueller Belästigung (Fall II.1.b der Urteilsgründe), wegen sexueller Nötigung und wegen Unterschlagung in zwei Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren und sechs Monaten verurteilt. Zudem hat es eine Einziehungsentscheidung getroffen. Die gegen seine Verurteilung gerichtete und auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat den aus der Beschlussformel ersichtlichen Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO); im Übrigen ist sie unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Aus prozessökomischen Gründen stellt der Senat das Verfahren im Fall II.1.b) der Urteilsgründe gemäß § 154 Abs. 2 StPO ein.
2. Die Verurteilung des Angeklagten wegen Vergewaltigung nach § 177 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 4, Abs. 6 StGB im Fall II.1.a der Urteilsgründe hält der rechtlichen Prüfung nicht stand.
a) Nach den Feststellungen des Landgerichts trafen sich der Angeklagte und die an einer posttraumatischen Belastungsstörung leidende Nebenklägerin M. kurz nach ihrem Kennenlernen in deren Wohnung. Sie berichtete dem Angeklagten zwar von dissoziativen Zuständen, nicht feststellbar aber davon, dass diese insbesondere im Zusammenhang mit sexuellen Handlungen auftreten würden. Obwohl sie selbst nicht primär sexuelle Absichten verfolgte, ließ sie sich auf sexuelle Handlungen ein, weil sie davon ausging, den Angeklagten ansonsten zu verlieren.
Während des einvernehmlichen Geschlechtsverkehrs fiel die Nebenklägerin in einen dissoziativen Zustand. In diesem war sie nicht in der Lage, einen Willen hinsichtlich des sexuellen Geschehens zu bilden. Der Angeklagte erkannte den Zustand der Nebenklägerin und unterbrach den Geschlechtsverkehr. Nachdem die Nebenklägerin wieder zu sich gekommen war und ihren Zustand erklärt hatte, versicherte der Angeklagte ihr, dass sie bei ihm sicher sei und er ihr nichts tun werde. Sie sprachen nicht darüber, ob der Geschlechtsverkehr fortgesetzt werden soll. Sodann verfiel die Nebenklägerin erneut in einen dissoziativen Zustand, was der Angeklagte bemerkte. Gleichwohl übte er den vaginalen Geschlechtsverkehr bis zum Samenerguss aus.
Das Landgericht hat den Tatbestand des § 177 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 4, Abs. 6 StGB als erfüllt angesehen, weil der Angeklagte während des zweiten dissoziativen Zustands den Geschlechtsverkehr mit der Nebenklägerin fortführte, obwohl ihm aufgrund des unmittelbar vorausgegangenen dissoziativen Zustands bewusst war, dass sie nicht in der Lage war, einen entgegenstehenden Willen zu bilden. Die Beweisaufnahme habe keine vorherige Einwilligung der Nebenklägerin „erbracht“, die über den Eintritt des dissoziativen Zustands fortgewirkt hätte.
b) Diese Ausführungen tragen die Verurteilung nach § 177 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 4 StGB nicht, weil nicht rechtsfehlerfrei festgestellt ist, dass der Angeklagte den Zustand der Nebenklägerin ausgenutzt hat.
aa) Der Täter nutzt den Zustand des Opfers im Sinne des § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB aus, wenn ihm die sexuelle Handlung gerade erst aufgrund der besonderen Situation des Opfers gelingt. Die Unfähigkeit des Opfers, einen entgegenstehenden Willen zu bilden oder zu äußern, muss demnach die Vornahme der fraglichen Handlung ermöglichen oder zumindest begünstigen. An diesem - bereits vor der zum 10. November 2016 in Kraft getretenen Reform des Sexualstrafrechts geltenden - Begriffsverständnis des Ausnutzens (vgl. zu § 179 a.F. BGH, Urteil vom 28. März 2018 - 2 StR 311/17, Rn. 12, NStZ-RR 2018, 244; Beschlüsse vom 17. Juni 2008 - 3 StR 198/08 Rn. 4, NStZ 2009, 90; vom 28. Oktober 2008 - 3 StR 88/08 Rn. 5, NStZ 2009, 324; MüKo-StGB/Renzikowski, 2. Aufl., § 179 Rn. 35 mwN) ist im Rahmen des § 177 Abs. 2 StGB n.F. festzuhalten (vgl. BGH, Urteil vom 13. Februar 2019 - 2 StR 301/18, BGHSt 64, 55 Rn. 21 unter Hinweis auf die Gesetzesbegründung; ebenso: Schönke/Schröder/Eisele, StGB, 30. Aufl., § 177 Rn. 30; MüKo-StGB/Renzikowski, 4. Aufl., StGB § 177 Rn. 71; SSW-StGB/Wolters, 5. Aufl., § 177 StGB Rn. 47).
(1) Dem steht der Anlass zur Gesetzesreform nicht entgegen. Der Reformgesetzgeber wollte die Strafbarkeit in erster Linie auf solche Fälle erweitern, in denen der Täter sich ohne Einsatz von Nötigungsmitteln über einen erkennbaren entgegenstehenden Willen des Opfers hinwegsetzt („Nein heißt Nein“-Lösung, vgl. BT-Drucks. 18/9097, S. 21). § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB setzt jedoch die fehlende Möglichkeit des Opfers zur Willensbildung voraus. Auf einen - erkennbaren - entgegenstehenden Willen kann es in dieser Konstellation demnach nicht ankommen, so dass das vom Gesetzgeber verfolgte Ziel keine Erweiterung des bislang über § 179 StGB gegebenen strafrechtlichen Schutzes indiziert.
(2) Zudem wird nach dem Willen des Gesetzgebers der von § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB beschriebene Zustand nicht bereits dann ausgenutzt, wenn die geschützte Person im Vorfeld kein ausdrückliches Einverständnis mit sexuellen Handlungen während des ihre Fähigkeit zur Willensäußerung ausschließenden Zustands erklärt hat. Ein solches Erfordernis würde der in anderen europäischen Rechtsordnungen geltenden „Nur Ja heißt Ja“-Lösung entsprechen. Der deutsche Reformgesetzgeber hat diesen Ansatz ausweislich der Gesetzesbegründung indes nur dem § 177 Abs. 2 Nr. 2 StGB n.F. zugrunde gelegt (vgl. BT-Drucks. aaO S. 25). Diese bewusste gesetzgeberische Entscheidung spricht dagegen, ihn auch auf § 177 Abs. 2 Nr. 1 StGB zu erstrecken.
bb) Ausgehend von diesen Grundsätzen hat der Angeklagte den Zustand der Nebenklägerin jedenfalls dann nicht tatbestandsmäßig ausgenutzt, wenn es vor dem zweiten dissoziativen Zustand der Nebenklägerin erneut zu einvernehmlichen sexuellen Handlungen zwischen ihm und der Nebenklägerin kam, weil diese dann nicht erst durch ihren Zustand ermöglicht worden wären.
(1) Die hierzu vom Landgericht getroffenen Feststellungen sind unklar. Sie verhalten sich nicht dazu, aufgrund welcher Umstände die Nebenklägerin erneut in einen dissoziativen Zustand verfiel. Zudem ist nicht beweiswürdigend belegt, dass es zuvor zu keinen weiteren einvernehmlichen sexuellen Handlungen kam. Insoweit hätte sich das Landgericht damit auseinandersetzen müssen, dass die Nebenklägerin zum einen bekundet hat, „es müsse nach ihrer Erfahrung wieder körperlich geworden sein, so dass sie deswegen wieder weggetreten sei“ (UA S. 39 aE) und zum anderen gegenüber dem psychiatrischen Sachverständigen angegeben hat, dass der Angeklagte „dann weitergemacht habe und sie (…) wieder in den dissoziativen Zustand zurückgefallen“ sei (UA S. 46).
(2) Soweit das Landgericht ohne nähere Begründung ausgeführt hat, dass die Beweisaufnahme eine vorherige Einwilligung nicht „erbracht“ habe, hat es - von einem zu engen Maßstab ausgehend - nur darauf abgestellt, dass die Nebenklägerin nicht ausdrücklich in die weitere Durchführung des Geschlechtsverkehrs auch für den Fall eingewilligt hat, dass sie erneut in einen dissoziativen Zustand verfällt.
Demgegenüber lassen sich der angefochtenen Entscheidung keine tatsächlichen Anhaltspunkte für die Annahme entnehmen, dass die etwaige erneute Annäherung gegen den erkennbaren Willen der Nebenklägerin erfolgte. Ausweislich der Urteilsgründe wurde zwischen den beiden dissoziativen Zuständen der Nebenklägerin nicht thematisiert, ob der Geschlechtsverkehr fortgesetzt werden soll. Zwar hat sie bekundet, dass sie erwartet habe, dass der Angeklagte aufhöre und akzeptiere, dass es gerade nicht der richtige Zeitpunkt sei (UA S. 44 f.). Dass sie dies erkennbar zum Ausdruck brachte, liegt jedoch bereits vor dem Hintergrund ihrer Bekundung nicht nahe, sie sei davon ausgegangen, den Angeklagten zu verlieren, wenn sie nicht mit ihm schlafen würde und habe gemerkt, dass sie ohne ein Treffen bei ihr uninteressant für ihn werde. Ihr sei klar gewesen, dass er auf Sex aus gewesen sei. Für sie sei es die Hauptsache gewesen, ihn nicht zu verlieren. Er habe sie nicht verlassen sollen (UA S. 39). In ihrer polizeilichen Vernehmung hat sie ausdrücklich angegeben, dass sie nicht gesagt habe, sie wolle „es“ nicht. Sie habe gewusst, dass sie ihn nur dann halten könne, wenn sie „das“ jetzt tun würde. Auch im Nachgang hat sie sich über das Verhalten des Angeklagten in der Tatsituation nicht erbost oder schockiert gezeigt. Dass Geschlechtsverkehr für sie einfach immer eine Überwindung gewesen sei, könne sie dem Angeklagten nicht anlasten (UA S. 44).
(3) Die Feststellungen erweisen sich darüber hinaus als lückenhaft, weil es näherer Feststellungen zum Vorstellungsbild des Angeklagten hinsichtlich seines Ausnutzungsbewusstseins bedurft hätte (vgl. BGH, Urteil vom 28. März 2018 - 2 StR 311/17, Rn. 13; Beschluss vom 8. Januar 2014 - 3 StR 416/13 Rn. 2, jeweils zu § 179 StGB aF).
3. Im Übrigen hat die Nachprüfung des Urteils keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben. Dies gilt auch, soweit die Revision geltend macht, das Landgericht habe im Fall II.1.d der Urteilsgründe zu Unrecht strafschärfend berücksichtigt, dass der Angeklagte den Geschlechtsverkehr ungeschützt vollzogen habe.
a) Nach den Feststellungen des Landgerichts führte der Angeklagte im Jahr 2020 eine Beziehung mit der Geschädigten F. Am Tattag drang er während des einvernehmlichen, ungeschützt ausgeführten Geschlechtsverkehrs ohne vorherige Ankündigung anal in sie ein. Auf ihre Schmerzäußerung und Aufforderung damit aufzuhören, reagierte der Angeklagte nicht. Er stieß mit seinem Penis weiter zu, wobei er mehrmals zwischen Anal- und Vaginalverkehr wechselte.
b) Es begegnet keinen rechtlichen Bedenken, dass das Landgericht im Rahmen der Strafzumessung den ungeschützten Verkehr zu Lasten des Angeklagten gewertet hat, obwohl der Angeklagte und die Geschädigte beim einvernehmlichen Geschlechtsverkehr üblicherweise nicht verhüteten.
In der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist anerkannt, dass die strafschärfende Berücksichtigung des ungeschützt vollzogenen Geschlechtsverkehrs grundsätzlich aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden ist. Allerdings kann ausnahmsweise etwas anderes gelten, wenn die Tat unmittelbar aus einer länger dauernden intimen Beziehung heraus begangen und der frühere einvernehmliche Geschlechtsverkehr mit dem Opfer üblicherweise ungeschützt vollzogen wurde. Entscheidend sind indes stets die Umstände des Einzelfalls (vgl. BGH, Beschluss vom 18. Dezember 2018 - 3 StR 427/18 Rn. 10, NStZ 2019, 203).
Ausgehend hiervon hat das Landgericht zu Recht berücksichtigt, dass der ungeschützte Verkehr mit einem Wechsel zwischen Anal- und Vaginalverkehr einherging. Diese Vorgehensweise begründet ein erheblich erhöhtes Infektionsrisiko, dass sich im vorliegenden Fall auch verwirklichte. Hinzu kommt, dass es in der erst seit kurzer Zeit bestehenden Beziehung zwischen dem Angeklagten und der Geschädigten vor der Tat zu keinem einvernehmlichem Analverkehr gekommen war, weder geschützt noch ungeschützt. Unabhängig von den damit hier gegebenen, schon auf der Grundlage der bisherigen Rechtsprechung die Strafschärfung begründenden Umständen neigt der Senat dazu, den ungeschützten Verkehr, ungeachtet eines Samenergusses, auch dann als strafschärfend anzusehen, wenn einvernehmlicher Geschlechtsverkehr zwischen dem Täter und dem Opfer zuvor ungeschützt stattgefunden hat, weil die mit jeder Vergewaltigung verbundene Erniedrigung des Tatopfers durch die ungeschützte Ausübung des Geschlechtsverkehrs gesteigert wird.
4. Die Verfahrenseinstellung im Fall II.1.b und die Aufhebung der Verurteilung im Fall II.1.a der Urteilsgründe lassen die insoweit verhängten Strafen entfallen und ziehen die Aufhebung des Ausspruchs über die Gesamtstrafe nach sich. Der Senat hebt die zu Fall II.1.a getroffenen Feststellungen insgesamt auf, um dem neuen Tatgericht widerspruchsfreie Feststellungen zu ermöglichen (§ 353 Abs. 2 StPO).
HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 728
Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede