HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 328
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 427/18, Beschluss v. 18.12.2018, HRRS 2019 Nr. 328
Auf die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Lüneburg vom 17. Mai 2018 wird
das Verfahren im Fall II. 3. der Urteilsgründe auf den Vorwurf der besonders schweren Vergewaltigung in Tateinheit mit Nötigung beschränkt,
das vorgenannte Urteil im Schuldspruch dahin geändert, dass der Angeklagte der schweren Vergewaltigung, der Freiheitsberaubung und der besonders schweren Vergewaltigung in Tateinheit mit Nötigung schuldig ist.
Die weitergehende Revision wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin dadurch entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schwerer Vergewaltigung, wegen Freiheitsberaubung und wegen besonders schwerer Vergewaltigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern und Nötigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt. Dagegen richtet sich die auf die allgemeine Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel führt zur teilweisen Beschränkung der Strafverfolgung und hat insoweit zum Schuldspruch den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Teilerfolg; im Übrigen ist es unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
1. Soweit der Angeklagte im Fall II. 1. der Urteilsgründe wegen schwerer Vergewaltigung und im Fall II. 2. der Urteilsgründe wegen Freiheitsberaubung schuldig gesprochen worden ist, hat die Überprüfung des Urteils keinen Rechtsfehler zu seinem Nachteil ergeben. Im Hinblick auf die Verurteilung des Angeklagten wegen besonders schwerer Vergewaltigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern und Nötigung im Fall II. 3. der Urteilsgründe gilt Folgendes:
a) Nach den insoweit vom Landgericht getroffenen Feststellungen hatte sich der Angeklagte unbemerkt Zutritt zu dem ehemals gemeinsam mit seiner Ehefrau bewohnten Haus verschafft, um sie mit Gewalt zum Geschlechtsverkehr zu zwingen. Als er mit einem Messer bewaffnet versuchte, sie in der Küche zu überwältigen und zu knebeln, wurde ihr gemeinsamer elfjähriger Sohn Pierre auf das Geschehen aufmerksam, der daraufhin die Polizei verständigen wollte. Dem Angeklagten gelang es indes, ihn daran zu hindern. Anschließend veranlasste er seine Ehefrau und seinen Sohn unter fortwährender Bedrohung mit dem Messer dazu, mit ihm in einen im Keller befindlichen Wohnraum zu gehen. Dort bedrohte er seine Ehefrau weiterhin mit dem Messer und erzwang dadurch wiederholten Vaginal-, Anal- sowie Oralverkehr mit ihr, bis er schließlich in ihren Mund ejakulierte. Seinen Sohn bedrohte er währenddessen ebenfalls weiter mit dem Messer und hielt ihn dadurch davon ab, den Raum zu verlassen. Ihm war bewusst, dass sein Sohn infolgedessen gezwungen war, die sexuellen Handlungen, die er an seiner Ehefrau vornahm, wahrzunehmen; dies nahm er jedoch billigend in Kauf, weil er weder auf den Geschlechtsverkehr mit seiner Frau verzichten noch das Risiko eingehen wollte, dass sein Sohn nach dem Verlassen des Zimmers die Polizei verständigen würde.
b) Die Feststellungen tragen den Schuldspruch wegen besonders schwerer Vergewaltigung in Tateinheit mit Nötigung. Demgegenüber könnten der Verurteilung des Angeklagten auch wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern durch Vornahme sexueller Handlungen vor einem Kind (§ 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB) nach der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs rechtliche Bedenken entgegenstehen. Danach reicht zur Erfüllung des Tatbestands nicht aus, dass das Kind die sexuelle Handlung wahrnimmt und der Täter dies erkennt. Erforderlich soll vielmehr sein, „dass der Täter das Kind in der Weise in das sexuelle Geschehen einbezieht, dass für ihn gerade die Wahrnehmung der sexuellen Handlung durch das Kind von Bedeutung ist“ (BGH, Urteile vom 14. Dezember 2004 - 4 StR 255/04, BGHSt 49, 376, 381; vom 12. Mai 2011 4 StR 699/10, NStZ 2011, 633; vom 9. Dezember 2015 2 StR 261/15, NStZ 2016, 467; Beschluss vom 21. November 2013 2 StR 459/13, juris Rn. 4). Diese Einschränkung des Tatbestands durch eine einengende Auslegung des nunmehr in § 184h Nr. 2 StGB normierten Merkmals „wahrnehmen“ in subjektiver Hinsicht soll einer Ausdehnung der Strafbarkeit entgegenwirken, die dadurch entstanden ist, dass der Gesetzgeber bei der Neufassung der Strafvorschrift durch das 6. Strafrechtsreformgesetz auf das Erfordernis der Tatmotivation einer sexuellen Erregung verzichtet hat (vgl. BGH, Urteil vom 14. Dezember 2004 4 StR 255/04, BGHSt 49, 376, 380).
Der Senat hält daran fest, dass eine derartige Einschränkung des Tatbestands unter Rückgriff auf subjektive Kriterien in bestimmten Situationen (z.B. bei sexuellen Handlungen von Eltern in Anwesenheit des Kindes bei beengten Wohnverhältnissen) geboten sein mag, dass es indes zweifelhaft erscheint, ob dem auch für eine Konstellation zu folgen wäre, in der das Kind - wie hier - Zeuge einer Vergewaltigung der Mutter wird (Senatsbeschluss vom 13. November 2012 - 3 StR 370/12, NStZ 2013, 278; anders jedoch BGH, Urteile vom 14. Dezember 2004 - 4 StR 255/04, BGHSt 49, 4 5 376, 381; vom 9. Dezember 2015 - 2 StR 261/15, NStZ 2016, 467 f.). Denn in solchen Fällen erscheint es fraglich, ob die einschränkende Auslegung des Tatbestandes mit dem Schutzzweck des § 176 StGB vereinbar ist (so auch LK/Hörnle, StGB, 12. Aufl., § 176 Rn. 77). Die Vorschrift schützt als abstraktes Gefährdungsdelikt die ungestörte sexuelle Entwicklung von Kindern (BGH, Urteil vom 24. September 1991 5 StR 364/91, BGHSt 38, 68, 69; Beschluss vom 19. Dezember 2008 2 StR 383/08, BGHSt 53, 118, 119). Zu diesem Zweck sollen Kinder von vorzeitigen sexuellen Erlebnissen freigehalten werden (BGH, Beschluss vom 21. September 2000 3 StR 323/00, NJW 2000, 3726). Gerade im Falle einer ungewollten Wahrnehmung von gewaltsam erzwungenen, eingriffsintensiven Sexualkontakten ist indes eine gravierende Beeinträchtigung der sexuellen Entwicklung eines Kindes zu besorgen, und zwar unabhängig davon, ob es dem Täter darauf ankommt, dass das Kind die erzwungenen sexuellen Handlungen wahrnimmt oder nicht (vgl. LK/Hörnle aaO).
Der Senat braucht erneut nicht darüber zu entscheiden, ob eine einschränkende Anwendung des § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB in solchen Fällen geboten ist, nachdem der Generalbundesanwalt einer Beschränkung der Strafverfolgung im Fall II. 3. der Urteilsgründe auf den Vorwurf der besonders schweren Vergewaltigung in Tateinheit mit Nötigung gemäß § 154a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 2 StPO zugestimmt hat.
2. Die dadurch bedingte Änderung des Schuldspruchs lässt die vom Landgericht im Fall II. 3. der Urteilsgründe verhängte Einzelstrafe unberührt.
a) Dem steht nicht entgegen, dass die Strafkammer insoweit die „tateinheitliche“ Verwirklichung des Straftatbestandes gemäß § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB zuungunsten des Angeklagten gewertet hat. Der Senat schließt aus, dass das Landgericht ohne die tateinheitliche Verurteilung des Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern eine geringere Einzelstrafe verhängt hätte. Den Urteilsgründen ist zu entnehmen, dass die Strafkammer der Sache nach auf den erhöhten Unrechtsgehalt der dem Angeklagten zur Last fallenden Tat abgestellt hat, der sich daraus ergibt, dass er die besonders schwere Vergewaltigung seiner Ehefrau vor den Augen seines elfjährigen Sohnes beging, auch wenn es ihm nicht darauf ankam, dass sein Sohn die sexuellen Handlungen wahrnahm. Gegen die strafschärfende Berücksichtigung dieses Umstandes ist von Rechts wegen nichts zu erinnern.
b) Schließlich gefährdet es den Bestand der in den Fällen II. 1. und 3. der Urteilsgründe verhängten Einzelstrafen nicht, dass das Landgericht insoweit jeweils die Durchführung des ungeschützten Geschlechtsverkehrs bis zum Samenerguss zu Lasten des Angeklagten gewertet hat.
Die strafschärfende Berücksichtigung dieses Umstandes ist, insbesondere im Hinblick auf das damit verbundene Risiko einer Infektion sowie einer ungewollten Schwangerschaft, grundsätzlich aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden (BGH, Urteile vom 3. August 1990 1 StR 62/90, BGHSt 37, 153, 155 f.; vom 6. Juli 1999 1 StR 216/99, NStZ 1999, 505 f.). Sie kann jedoch ausnahmsweise auf rechtliche Bedenken stoßen, wenn die Tat unmittelbar aus einer länger dauernden intimen Beziehung heraus begangen und der frühere einverständliche Geschlechtsverkehr mit dem Opfer üblicherweise ungeschützt vollzogen wurde, weil dem Täter in solchen Konstellationen unter dem Gesichtspunkt der Gefahr einer unerwünschten Schwangerschaft bzw. einer Infektion möglicherweise kein erhöhter Schuldvorwurf gemacht werden kann (BGH, Beschlüsse vom 2. Oktober 1991 - 3 StR 382/91, BGHR StGB § 177 Abs. 1 Strafzumessung 10; vom 17. Januar 1997 - 2 StR 276/96, NStZ-RR 1997, 195, 196; vom 23. Mai 2000 - 4 StR 146/00, BGHR StGB § 177 Abs. 2 Strafrahmenwahl 14; Urteil vom 25. Mai 2011 - 2 StR 66/11, juris Rn. 10). Letztlich kommt es indes auf die Umstände des Einzelfalls an (BGH, Beschluss vom 2. Oktober 1991 3 StR 382/91, BGHR StGB § 177 Abs. 1 Strafzumessung 10), wobei in der Regel auch von Bedeutung ist, dass der ungeschützte Geschlechtsverkehr bis zum Samenerguss regelmäßig als eine das Opfer in besonderem Maße erniedrigende Art und Weise der Tatausführung anzusehen ist.
Danach erweist sich in Anbetracht der Umstände des Falles die vom Landgericht vorgenommene Bewertung als rechtsfehlerfrei. Den Urteilsgründen zufolge waren der Angeklagte und die Geschädigte zwar verheiratet und hatten lange Zeit zusammengelebt. Die Geschädigte hatte sich aber schon vor der ersten zu ihrem Nachteil begangenen Tat von dem Angeklagten getrennt, dem zu diesem Zeitpunkt bereits wegen eines vorangegangenen sexuellen Übergriffs seitens der Polizei ein Hausverbot erteilt worden war.
3. Angesichts des geringen Erfolges der Revision ist es nicht unbillig, den Angeklagten mit den gesamten Kosten seines Rechtsmittels zu belasten (§ 473 Abs. 4 StPO).
HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 328
Externe Fundstellen: NStZ 2019, 203
Bearbeiter: Christian Becker