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HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 1251

Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 168/24, Urteil v. 04.09.2024, HRRS 2024 Nr. 1251


BGH 6 StR 168/24 - Urteil vom 4. September 2024 (LG Hof)

Entscheidung bei Gesetzesänderung, Schuldspruchänderung; Meistbegünstigungsprinzip (milderes Gesetz); Konsumcannabisgesetz; Handeltreiben mit Cannabis; unmittelbarer Zeuge, Zeuge vom Hörensagen (Beweiswürdigung: Mitteilung der Angaben des Belastungszeugen im Einzelnen, Unerreichbarkeit, Glaubwürdigkeit).

§ 2 Abs. 3 StGB; § 354a StPO; § 354 StPO; § 34 Abs. 1 Nr. 4 KCanG; § 261 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

Die Unerreichbarkeit eines unmittelbaren Zeugen, der ein sogenannter Belastungszeuge ist, steht der Berücksichtigung der Bekundungen eines „Zeugen vom Hörensagen“ nicht stets entgegen.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hof vom 9. Januar 2024

a) dahin geändert, dass er des Handeltreibens mit Cannabis in acht Fällen schuldig ist,

b) im Strafausspruch aufgehoben, wobei die zugehörigen Feststellungen Bestand haben.

Die weitergehende Revision des Angeklagten wird verworfen.

2. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben, soweit der Angeklagte freigesprochen worden ist.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

- Von Rechts wegen -

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Abgabe von Betäubungsmitteln an Minderjährige in acht Fällen, jeweils in Tateinheit mit Handeltreiben mit Betäubungsmitteln, unter Einbeziehung anderweitig erkannter Strafen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten verurteilt, ihn im Übrigen freigesprochen und eine Einziehungsentscheidung getroffen. Die auf die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts gestützte Revision des Angeklagten hat den aus dem Urteilstenor ersichtlichen Erfolg und erweist sich im Übrigen als unbegründet. Das auf den Freispruch beschränkte, ebenfalls auf die Sachrüge gestützte und vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft ist begründet.

I.

Die Revision des Angeklagten führt zur Änderung des Schuldspruchs und zur Aufhebung des Strafausspruchs.

1. Nach den Feststellungen verkaufte der Angeklagte im Zeitraum von Januar bis Juni 2017 gewinnbringend an den anderweitig verurteilten und seinerzeit 14 beziehungsweise 15 Jahre alten A. in drei Fällen jeweils ein Gramm, in drei Fällen jeweils 20 Gramm und in zwei weiteren Fällen jeweils 50 Gramm Marihuana. Die Drogen hatten einen Wirkstoffgehalt von mindestens fünf Prozent THC.

2. Der Schuldspruch ist zu ändern, weil am 1. April 2024 das Gesetz zum Umgang mit Konsumcannabis (KCanG, BGBl. I Nr. 109) in Kraft getreten ist, das den Umgang mit Konsumcannabis abschließend regelt (vgl. BT-Drucks. 20/8704, S. 130) und nach § 354a StPO bei der Revisionsentscheidung zu berücksichtigen ist. Dieses erweist sich bei der nach § 2 Abs. 3 StGB gebotenen konkreten Betrachtungsweise (vgl. BGH, Urteil vom 9. Oktober 1964 - 3 StR 32/64, BGHSt 20, 74, 75 mwN) als das mildere Gesetz. Das gilt auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass die Strafkammer einen minder schweren Fall nach § 29a Abs. 2 BtMG angenommen hat. Der Senat schließt aus, dass das Tatgericht den Strafrahmen eines besonders schweren Falls nach § 34 Abs. 3 KCanG angewandt hätte, obgleich dem Umstand, dass es sich bei Cannabis um eine „weiche Droge“ handelt, unter dem KCanG keine strafmildernde Bedeutung beizumessen ist (vgl. BGH, Beschluss vom 30. April 2024 - 6 StR 536/23, Rn. 17). Denn die Strafkammer hat die Anwendung des Sonderstrafrahmens von § 29a Abs. 2 BtMG nicht vorrangig damit begründet, dass es sich bei Cannabis um eine Droge von geringerer Gefährlichkeit handelt (vgl. BGH, Urteil vom 15. Dezember 2022 - 3 StR 295/22, Rn. 30 mwN), sondern vor allem mit dem Zeitablauf von mehr als sechs Jahren seit den Taten, der teilgeständigen Einlassung des Angeklagten und dessen gezeigter Reue.

Danach hat sich der Angeklagte des Handeltreibens mit Cannabis in acht Fällen schuldig gemacht (§ 34 Abs. 1 Nr. 4 KCanG). Der Senat ändert den Schuldspruch in entsprechender Anwendung von § 354 Abs. 1 StPO. Die Vorschrift des § 265 StPO steht dem nicht entgegen; der geständige Angeklagte hätte sich nicht wirksamer als geschehen verteidigen können.

3. Die Schuldspruchänderung führt zur Aufhebung der verhängten Strafen. Denn der Senat kann nicht ausschließen, dass die Strafkammer aufgrund des milderen Strafrahmens (§ 34 Abs. 1 Nr. 4 KCanG) auf niedrigere Strafen erkannt hätte. Dies entzieht der Gesamtstrafe die Grundlage; insoweit bedarf die Sache neuer Verhandlung und Entscheidung. Die zugehörigen Feststellungen können bestehen bleiben (§ 353 Abs. 2 StPO) und um ihnen nicht widersprechende ergänzt werden.

4. Sollte das neue Tatgericht wiederum zur Verhängung kurzer Freiheitsstrafen kommen, wird es die Vorschrift des § 47 StGB zu beachten haben. Der Senat weist außerdem darauf hin, dass nach § 51 Abs. 4 Satz 2 StGB ein Anrechnungsmaßstab für die erlittene Auslieferungshaft im Urteil zu bestimmen ist.

II.

Die Revision der Staatsanwaltschaft hat Erfolg; der Teilfreispruch hat keinen Bestand.

1. Mit der Anklage legt die Staatsanwaltschaft dem Angeklagten insoweit zur Last, gemeinschaftlich mit dem anderweitig Verfolgten S. mit Betäubungsmitteln Handel getrieben zu haben. Dazu sollen beide am 10. Juni 2018 in ihrem gemeinsamen Zimmer in der Asylbewerberunterkunft insgesamt 392,78 Gramm Marihuana, 191,3 Gramm Haschisch und 84 Ecstasy-Pillen aufbewahrt haben. Mindestens 279,5 Gramm des Marihuanas habe der Angeklagte zuvor von einer unbekannt gebliebenen Person gegen Zahlung von mindestens 900 Euro erhalten.

Die Strafkammer hat den Angeklagten von diesem Vorwurf aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Sie ist den Angaben des gesondert Verurteilten B., der gegenüber dem als Zeugen gehörten Vernehmungsbeamten angegeben haben soll, kurz vor der Sicherstellung der Drogen ein Betäubungsmittelgeschäft für den Angeklagten angebahnt zu haben, allein deshalb nicht gefolgt, weil sie sich von der Glaubwürdigkeit des für sie unerreichbaren gesondert Verurteilten kein eigenes Bild habe machen können; es könne nicht ausgeschlossen werden, dass der gesondert Verurteilte den Angeklagten zu Unrecht belastet habe.

2. Die Beweiswürdigung des Landgerichts begegnet insoweit, auch eingedenk des eingeschränkten revisionsgerichtlichen Prüfungsmaßstabs (vgl. BGH, Urteil vom 14. Mai 2024 - 6 StR 458/23, Rn. 3 mwN), durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

a) Die Beweiswürdigung ist lückenhaft (vgl. BGH, Urteil vom 14. Mai 2024 - 6 StR 458/23, Rn. 6). Denn der Senat kann nicht überprüfen, ob das Landgericht rechtsfehlerfrei davon abgesehen hat, die Bekundungen des gesondert Verurteilten in die gebotene - hier überdies fehlende - Gesamtschau einzustellen (vgl. dazu BGH, Urteil vom 10. Januar 2024 - 6 StR 361/23, Rn. 8).

Aus den Urteilsgründen ergibt sich nicht, was der anderweitig Verurteilte B., dessen Angaben durch den Vernehmungsbeamten R. in die Hauptverhandlung eingeführt worden sind, in seinen - mindestens zwei - Vernehmungen im Einzelnen bekundet hat. Es bleibt auch unklar, vor welchem Hintergrund der gesondert Verurteilte Angaben gemacht hat, wie es zu seiner Vernehmung kam und was ihm vorgeworfen wurde.

b) Ein damit in Zusammenhang stehender weiterer sachlich-rechtlicher Mangel ist darin zu sehen, dass die Strafkammer ihre durchgreifenden Zweifel an der Glaubwürdigkeit des gesondert Verurteilten B. ganz maßgeblich mit dessen Unerreichbarkeit begründet und damit den Beweiswert eines „Zeugen vom Hörensagen” (vgl. BGH, Urteil vom 1. August 1962 - 3 StR 28/62, BGHSt 17, 382, 383) schon im Grundsatz verneint und sich den Blick auf eine freie Beweiswürdigung (§ 261 StPO) verstellt hat. Die Unerreichbarkeit des unmittelbaren Zeugen steht der Berücksichtigung der Bekundungen des „Zeugen vom Hörensagen“ indessen nicht stets entgegen.

Es sind insoweit allerdings besonders strenge Anforderungen an die Beweiswürdigung zu stellen (vgl. BGH, Urteil vom 16. Mai 2002 - 1 StR 40/02, BGHR StPO § 261 Beweiswürdigung 28; Beschluss vom 13. April 2023 ? 4 StR 413/22). Dabei sind die durch den Vernehmungsbeamten wiedergegebenen Angaben insbesondere mit Blick auf das Konfrontationsrecht (vgl. BGH, Beschluss vom 16. August 2023 - 5 StR 126/23 mwN) besonders kritisch und sorgfältig zu würdigen.

3. Vorsorglich weist der Senat auf das Folgende hin:

a) Die Urteilsgründe lassen besorgen, dass die Strafkammer überspannte Anforderungen an die für eine Verurteilung erforderliche Gewissheit gestellt hat. So hat sie den Freispruch damit begründet, dass die Einlassung des Angeklagten, er habe „damit“ nichts zu tun, vielmehr habe der gesondert Verfolgte S. - die Betäubungsmittel am Abend vor dem Tag ihrer Sicherstellung im Schrank verstaut, aufgrund des Ergebnisses der Beweisaufnahme „nicht zu widerlegen“ sei. Die Angaben eines Angeklagten müssen indessen auch mit Blick auf den Zweifelsgrundsatz nicht schon deshalb als „nicht zu widerlegen“ den Feststellungen zugrunde gelegt werden, weil es für ihre Richtigkeit oder Unrichtigkeit keine Beweise gibt. Vielmehr sind sie - ebenso wie andere Beweismittel - auf ihre Plausibilität und anhand des übrigen Beweisergebnisses auf ihren Wahrheitsgehalt zu prüfen (vgl. BGH, Urteil vom 24. November 2022 - 5 StR 309/22, Rn. 13 mwN).

b) Sollte sich der Angeklagte ebenso wie zu den abgeurteilten Taten über seinen Verteidiger erklären, kann seiner Einlassung unter Umständen ein verminderter Beweiswert zukommen (vgl. BGH, Urteil vom 7. September 2022 - 6 StR 225/22, Rn. 13; Beschluss vom 21. September 2021 - 3 StR 380/21, Rn. 10; jeweils mwN).

HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 1251

Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede