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HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 109

Bearbeiter: Christoph Henckel

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 340/23, Beschluss v. 13.12.2023, HRRS 2024 Nr. 109


BGH 1 StR 340/23 - Beschluss vom 13. Dezember 2023 (LG Ingolstadt)

Ablehnung eines Beweisantrags wegen Bedeutungslosigkeit der unter Beweis gestellten Tatsache (Anforderungen an die Begründung).

§ 244 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2, Abs. 6 Satz 1 StPO

Leitsatz des Bearbeiters

1. Das Tatgericht darf Indiz- oder Hilfstatsachen als für die Entscheidung tatsächlich bedeutungslos erachten (§ 244 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 StPO), wenn es aus diesen eine mögliche Schlussfolgerung, die der Antragsteller erstrebt, nicht ziehen will. Das Tatgericht hat die unter Beweis gestellte Tatsache so, als sei sie erwiesen, in das aufgrund der bisherigen Beweisaufnahme erlangte Beweisergebnis einzustellen und im Wege einer prognostischen Betrachtung zu prüfen, ob hierdurch seine bisherige Überzeugung - gegebenenfalls in Anwendung des Zweifelsatzes - in einer für den Schuld- oder Rechtsfolgenausspruch bedeutsamen Weise erschüttert würde.

2. Diese antizipierende Würdigung ist in dem den Antrag ablehnenden Beschluss (§ 244 Abs. 6 Satz 1 StPO) näher darzulegen. Denn dieser hat insbesondere den Antragsteller, aber auch die anderen Verfahrensbeteiligten, über die Auffassung des Tatgerichts zu unterrichten, sodass er sich auf die neue Verfahrenslage einstellen und das Gericht doch noch von der Erheblichkeit der Beweistatsache überzeugen oder aber neue Anträge mit demselben Beweisziel stellen kann („formalisierter Dialog“). Zudem muss der Ablehnungsbeschluss dem Revisionsgericht die Prüfung ermöglichen, ob der Beweisantrag rechtsfehlerfrei zurückgewiesen worden ist sowie ob seine Feststellungen und Schlussfolgerungen mit denjenigen des Urteils übereinstimmen.

3. Faktisch hat das Tatgericht damit den betreffenden Ausschnitt aus der Beweiswürdigung, die es an sich erst im Urteil darzulegen hat, bereits in der Hauptverhandlung offenzulegen; freilich kann und muss die Beschlussbegründung in laufender Hauptverhandlung angesichts der Vorläufigkeit der Einschätzung in der Regel weder die Ausführlichkeit noch die Tiefe der Beweiswürdigung der späteren Urteilsgründe aufweisen; die wesentlichen Hilfstatsachen sind jedenfalls in Grundzügen mitzuteilen.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Ingolstadt vom 17. April 2023 mit den Feststellungen aufgehoben.

2. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendschutzkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hatte den Angeklagten im ersten Rechtsgang wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in neun Fällen, davon in drei Fällen in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern und mit versuchtem sexuellen Übergriff sowie in den sechs weiteren Fällen in Tateinheit mit schwerem sexuellen Missbrauch von Kindern, davon in einem Fall in weiterer Tateinheit mit Vergewaltigung und in den anderen fünf Fällen in Tateinheit mit versuchter Vergewaltigung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt und Entscheidungen im Adhäsionsverfahren getroffen. Diese Verurteilung hatte der Senat auf die Revision des Angeklagten aufgrund von Beweiswürdigungsfehlern mit den Feststellungen aufgehoben; insbesondere hatte das Tatgericht eine Fremdsuggestion durch die Mutter der Nebenklägerin nicht rechtsfehlerfrei ausgeschlossen (Urteil vom 14. Dezember 2021 - 1 StR 234/21).

Im zweiten Rechtsgang hat das Landgericht, das bezüglich des Verurteilungsteils im Wesentlichen die gleichen Sachverhalte festgestellt hat, gegen den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in sieben Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Kindern und mit versuchtem sexuellen Übergriff sowie in den sechs weiteren Fällen in Tateinheit mit schwerem sexuellen Missbrauch von Kindern, davon in einem Fall in weiterer Tateinheit mit Vergewaltigung und in den anderen fünf Fällen mit versuchter Vergewaltigung, eine Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und sechs Monaten verhängt und wiederum Schmerzensgeld mit Annexentscheidungen im Adhäsionsverfahren zugesprochen; von zwei weiteren vormals ausgeurteilten Tatvorwürfen des sexuellen Missbrauchs von Kindern u.a. hat es ihn aus tatsächlichen Gründen freigesprochen. Die gegen seine Verurteilung gerichtete Revision des Angeklagten, mit der er die Verletzung formellen und materiellen Rechts beanstandet, hat mit einer Verfahrensrüge wiederum Erfolg.

Der Rüge, mit welcher der Angeklagte die rechtsfehlerhafte Ablehnung eines Beweisantrags beanstandet (§ 244 Abs. 6 Satz 1, Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 StPO), liegt folgendes prozessuales Geschehen zugrunde:

a) Der Angeklagte hat in der Hauptverhandlung beantragt, das Gutachten eines Sachverständigen zum Beweis der Tatsache einzuholen, auch Scheinerinnerungen könnten - generell - zu ‚Trauma im Sinne einer posttraumatischen Belastungsstörung‘ bzw. zu Nacherinnerungen („Flashbacks“) führen. Das Landgericht hat diesen Antrag mit der Begründung abgelehnt, die Beweistatsache sei aus tatsächlichen Gründen für die Entscheidung ohne Bedeutung: Wenn die Nebenklägerin die Missbrauchsvorwürfe nur aus Einbildungen heraus „erinnere“, also nicht von tatsächlich Erlebtem berichtet habe, folge bereits daraus, dass der Angeklagte die Taten nicht begangen habe und freizusprechen sei; dann komme es auf den Zusammenhang zwischen Scheinerinnerung und posttraumatischer Belastungsstörung bzw. Nacherinnerung nicht mehr an.

b) Diese Erwägung enthält tatsächlich keine Begründung.

aa) Das Tatgericht darf Indiz- oder Hilfstatsachen als für die Entscheidung tatsächlich bedeutungslos erachten (§ 244 Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 StPO), wenn es aus diesen eine mögliche Schlussfolgerung, die der Antragsteller erstrebt, nicht ziehen will. Das Tatgericht hat die unter Beweis gestellte Tatsache so, als sei sie erwiesen, in das aufgrund der bisherigen Beweisaufnahme erlangte Beweisergebnis einzustellen und im Wege einer prognostischen Betrachtung zu prüfen, ob hierdurch seine bisherige Überzeugung - gegebenenfalls in Anwendung des Zweifelsatzes - in einer für den Schuld- oder Rechtsfolgenausspruch bedeutsamen Weise erschüttert würde.

Diese antizipierende Würdigung ist in dem den Antrag ablehnenden Beschluss (§ 244 Abs. 6 Satz 1 StPO) näher darzulegen. Denn dieser hat insbesondere den Antragsteller, aber auch die anderen Verfahrensbeteiligten, über die Auffassung des Tatgerichts zu unterrichten, sodass er sich auf die neue Verfahrenslage einstellen und das Gericht doch noch von der Erheblichkeit der Beweistatsache überzeugen oder aber neue Anträge mit demselben Beweisziel stellen kann („formalisierter Dialog“). Zudem muss der Ablehnungsbeschluss dem Revisionsgericht die Prüfung ermöglichen, ob der Beweisantrag rechtsfehlerfrei zurückgewiesen worden ist sowie ob seine Feststellungen und Schlussfolgerungen mit denjenigen des Urteils übereinstimmen. Faktisch hat das Tatgericht damit den betreffenden Ausschnitt aus der Beweiswürdigung, die es an sich erst im Urteil darzulegen hat, bereits in der Hauptverhandlung offenzulegen; freilich kann und muss die Beschlussbegründung in laufender Hauptverhandlung angesichts der Vorläufigkeit der Einschätzung in der Regel weder die Ausführlichkeit noch die Tiefe der Beweiswürdigung der späteren Urteilsgründe aufweisen; die wesentlichen Hilfstatsachen sind jedenfalls in Grundzügen mitzuteilen (zum Ganzen BGH, Beschlüsse vom 7. November 2023 - 2 StR 284/23 Rn. 19; vom 7. August 2023 - 5 StR 550/22 Rn. 11 und vom 19. Dezember 2018 - 3 StR 516/18 Rn. 7; Urteil vom 25. August 2022 - 3 StR 359/21 Rn. 75; Becker in Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl., § 244 Rn. 220 f.; jeweils mwN).

bb) Der Angeklagte wollte erkennbar den Beweiswert des Umstandes, dass die Nebenklägerin unter einer posttraumatischen Belastungsstörung bzw. Nacherinnerungen leide, was für die Missbrauchstaten spreche, abschwächen; er wollte bewiesen haben, dass aus diesem aktuellen psychischen Zustand der Nebenklägerin nicht zwingend auf den Wahrheitsgehalt ihrer belastenden Zeugenaussage zu schließen sei. Damit wollte der Angeklagte zugleich für den Fall, dass das Landgericht kein Sachverständigengutachten einholt, wissen, aufgrund welcher anderen Hilfstatsachen es die Aussage der Nebenklägerin dennoch für glaubhaft und die Zeugin insgesamt für glaubwürdig hielt, mit anderen Worten, warum es von Erinnerungen von tatsächlich Erlebtem und nicht von „Scheinerinnerungen“ ausging. Diese Antwort hat das Tatgericht nicht gegeben. Es hat vielmehr den vom Angeklagten begehrten - wissenschaftlich zu begründenden - Erfahrungssatz, posttraumatische Belastungsstörungen und Nacherinnerungen können auch auf Einbildungen zurückzuführen sein, nicht in seine Beweiswürdigung eingestellt, sondern den Beweisantrag sinnwidrig verkürzt.

cc) Das Urteil beruht auf dem Verfahrensfehler (§ 337 Abs. 1 StPO). Es ist nicht auszuschließen, dass der Angeklagte auf eine den Anforderungen des § 244 Abs. 6 Satz 1, Abs. 3 Satz 3 Nr. 2 StPO genügende Begründung des Ablehnungsbeschlusses in einer für den Schuldspruch erheblichen Weise hätte reagieren können, naheliegend mit weiteren Beweisanträgen, um die anderen Begründungsansätze des Landgerichts „angreifen“ zu können. In seiner - für sich genommen rechtsfehlerfreien - Beweiswürdigung hat das Landgericht die „Langzeittherapie“, der sich die Nebenklägerin zur Behandlung ihrer Traumata unterzieht, miteinbezogen und dabei Scheinerinnerungen als Ursache ausgeschlossen (insbesondere UA S. 84 f.); damit hat es seine Überzeugungsbildung u.a. genau auf die Hilfstatsache (traumatische Belastungsstörung, die durch Erinnerungen an tatsächlich Erlebtes ausgelöst sei) gestützt, die der Angeklagte durch seinen Beweisantrag entkräftet wissen wollte.

HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 109

Bearbeiter: Christoph Henckel