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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 812

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 473/22, Beschluss v. 27.04.2023, HRRS 2023 Nr. 812


BGH 4 StR 473/22 - Beschluss vom 27. April 2023 (LG Münster)

Schwerer sexueller Missbrauch von Kindern (alte Fassung; von dem Kind Vornehmenlassen des Eindringens: kein echtes Unterlassungsdelikt, passives Dulden, vorheriges aktives Einwirken auf das Kind, Ausgehen der Initiative zum Sexualkontakt vom Kind, Gewähren-Lassen, Bestärkung der vom Kind ausgehenden Initiative; Tateinheit: mehrere Taten, natürliche Handlungseinheit).

§ 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB aF; § 52 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die 2. Alternative des § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB in der ab 27. Januar 2015 gültigen Fassung ist erfüllt, wenn der Täter sexuelle Handlungen an sich von dem Kind vornehmen lässt, die mit einem Eindringen in den Körper verbunden sind. Es handelt sich aber dabei nicht um ein echtes Unterlassungsdelikt, weshalb das rein passive Dulden zur Tatbestandsverwirklichung nicht ausreicht. Erforderlich ist vielmehr, dass der beim eigentlichen Sexualkontakt sich passiv verhaltende Täter zuvor aktiv auf das Kind eingewirkt hat, etwa durch Befehlen oder Überreden. Der Tatbestand kann darüber hinaus zwar auch erfüllt sein, wenn die Initiative zum Sexualkontakt vom Kind ausgeht. Ein Gewähren-Lassen des Täters ist aber auch in diesem Fall nur dann tatbestandlich erfasst, wenn es über die rein passive Duldung hinausgeht und zum Beispiel eine Bestärkung der vom Kind ausgehenden Initiative enthält.

2. Eine natürliche Handlungseinheit und damit eine Tat im materiellrechtlichen Sinn ist dann gegeben, wenn bei einer Mehrheit strafrechtlich relevanter Verhaltensweisen die einzelnen Betätigungakte durch ein gemeinsames subjektives Element verbunden sind und zwischen ihnen ein derart unmittelbarer räumlicher und zeitlicher Zusammenhang besteht, dass das gesamte Handeln des Täters objektiv auch für einen Dritten als einheitliches zusammengehöriges Tun erscheint.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Münster vom 11. Juli 2022

a) im Schuldspruch dahingehend geändert, dass der Angeklagte im Fall II.2.b der Urteilsgründe des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen schuldig ist;

b) mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben

aa) hinsichtlich der Tat zu II.2.a der Urteilsgründe

bb) im Ausspruch über die Gesamtstrafe.

2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei Fällen, jeweils in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen, davon in einem Fall „mit zwei weiteren tateinheitlichen Fällen“ des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt. Hiergegen wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat in dem aus der Beschlussformel ersichtlichen Umfang Erfolg. Im Übrigen ist es unbegründet (§ 349 Abs. 2 StPO).

I.

Nach den Feststellungen des Landgerichts lebte der Angeklagte gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin, der Zeugin R., und der am 8. März 2010 geborenen Geschädigten E. in einem Haushalt. E. ist die leibliche Tochter der Adoptivtochter der Lebensgefährtin des Angeklagten. An einem nicht näher bestimmbaren Tag nach Februar 2019 lag die Geschädigte gemeinsam mit dem Angeklagten in dessen Bett, als die Geschädigte ankündigte, „ein Zelt bauen zu wollen“. Der Angeklagte konnte mit dieser Ankündigung nichts anfangen und ließ sie gewähren. E. begab sich vollständig unter die Bettdecke, zog dann die Pyjamahose des Angeklagten herunter, nahm dessen Penis in den Mund und versuchte anschließend vergeblich, den Penis des Angeklagten, der durchgehend während des Geschehens ohne Erektion blieb, in ihre Scheide einzuführen, was misslang. Der Angeklagte war vom Vorgehen der Geschädigten überrascht und empfand es als angenehm. Dies erkannte die Geschädigte, da der Angeklagte sie gewähren ließ, das Geschehene nicht thematisierte und danach im Bett mit ihr kuschelte.

Am nächsten Tag kam die Geschädigte zum Angeklagten ins Bett und kündigte erneut an, ein Zelt bauen zu wollen. Der Angeklagte wusste aufgrund der Erfahrung vom Vortag, was dies bedeutete. „Er signalisierte durch seine Körperhaltung, dass er das Vorgehen billigte und ihm dieses Vorgehen willkommen war. Er blieb liegen und ließ E. gewähren, da ihn das Vorgehen erregte. Er drehte sich weder von ihr weg noch hielt er seine Bettdecke fest, um das geplante Vorgehen zu verhindern. Nachdem der Angeklagte auch am Vortag noch nach dem Vorfall weiter mit E. im Bett gekuschelt und ihr damit seine Zuneigung ausgedrückt hatte, die sie suchte, ging E. zu Recht davon aus, dass der Angeklagte eine Wiederholung ihres Vorgehens guthieß und wertete sein insoweit gezeigtes Verhalten zu Recht als Bestärkung“. Sie begab sich erneut vollständig unter die Bettdecke, zog die Hose des Angeklagten herunter und nahm seinen Penis in den Mund. Dann legte sie sich auf ihn und versuchte, sich seinen Penis in die Scheide zu drücken, was erneut nicht gelang. Der Angeklagte handelte hinsichtlich des Oralverkehrs vorsätzlich, da er jedenfalls in dem Zeitpunkt, als die Geschädigte ihm erneut die Pyjamahose herunterzog, wusste, dass die Geschädigte diesen nun ausführen würde, was er auch wollte (Tat II.2.a der Urteilsgründe).

An einem nicht mehr näher bestimmbaren Tag in der Folgezeit legte sich die Geschädigte in das Bett des Angeklagten, der seinen Mittelfinger in ihre Scheide einführte, um sich sexuell zu erregen. Als die Geschädigte Schmerzen äußerte, zog er den Finger heraus, führte ihn aber kurz danach wieder ein. Auf eine erneute Schmerzäußerung der Geschädigten zog er den Finger abermals aus der Scheide und führte ihn sodann erneut ein. Nun „bewegte der Angeklagte den Finger in der Scheide und versuchte, die Klitoris oder den G-Punkt der Geschädigten zu finden“, um sie und sich selbst zu erregen (Tat II.2.b der Urteilsgründe).

Nach den Urteilsgründen beruhen die Feststellungen zum Tatgeschehen vollumfänglich auf der durch die Strafkammer als glaubhaft bewerteten geständigen Einlassung des Angeklagten. Auf die Angaben der Geschädigten konnte die Kammer aufgrund von gravierenden Inkonstanzen im Kerngeschehen zwischen ihren Angaben in der polizeilichen Vernehmung im Ermittlungsverfahren und ihren Angaben in der Hauptverhandlung keine Feststellungen stützen.

Das Landgericht hat das Geschehen im Fall II.2.a der Urteilsgründe als schweren sexuellen Missbrauch von Kindern nach § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB aF in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen gemäß § 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB bewertet.

Im Fall II.2.b der Urteilsgründe hat es den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern nach § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB aF in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen und darüber hinaus mit zwei weiteren tateinheitlichen Fällen des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern schuldig gesprochen.

II.

1. Die Verurteilung im Fall II.2.a der Urteilsgründe kann nicht bestehen bleiben, weil die Voraussetzungen des Tatbestandes des § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB aF nicht festgestellt sind.

a) Die 2. Alternative des § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB in der ab 27. Januar 2015 gültigen Fassung ist erfüllt, wenn der Täter sexuelle Handlungen an sich von dem Kind vornehmen lässt, die mit einem Eindringen in den Körper verbunden sind. Es handelt sich aber dabei nicht um ein echtes Unterlassungsdelikt, weshalb das rein passive Dulden zur Tatbestandsverwirklichung nicht ausreicht (vgl. BGH, Urteil vom 9. Juli 2014 - 2 StR 13/14 Rn. 10). Erforderlich ist vielmehr, dass der beim eigentlichen Sexualkontakt sich passiv verhaltende Täter zuvor aktiv auf das Kind eingewirkt hat, etwa durch Befehlen oder Überreden. Der Tatbestand kann darüber hinaus zwar auch erfüllt sein, wenn die Initiative zum Sexualkontakt vom Kind ausgeht. Ein Gewähren-Lassen des Täters ist aber auch in diesem Fall nur dann tatbestandlich erfasst, wenn es über die rein passive Duldung hinausgeht und zum Beispiel eine Bestärkung der vom Kind ausgehenden Initiative enthält (vgl. BGH aaO; Beschluss vom 16. September 2015 - 1 StR 362/15 Rn. 12; Eisele in Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl., § 176 Rn. 4; BeckOK-StGB/Ziegler, 56. Ed., § 176 Rn. 8; MüKo-StGB/Renzikowski, 4. Aufl., § 176 Rn. 32).

b) Daran fehlt es hier. Die Feststellungen belegen während des Geschehens kein über eine rein passive Duldung hinausgehendes Verhalten des Angeklagten. Insbesondere ist auch eine phänomengebundene Bestärkungshandlung in Form eines verbalen oder nonverbalen kommunikativen Aktes weder im Vorfeld noch im Rahmen der Tatausführung festgestellt. Zudem ist auch der nach den Feststellungen bei der Geschädigten eingetretene Bestärkungserfolg nicht hinreichend beweiswürdigend unterlegt. Belastbare Angaben der Geschädigten fehlen. Entsprechende Schilderungen des Angeklagten, auf dessen Angaben die Feststellungen zum Kerngeschehen allein beruhen, ergeben sich aus den Urteilsgründen nicht. Eine Kommunikation zwischen ihm und der Geschädigten in der Tatsituation ist nicht festgestellt. Die Vornahme der sexuellen Handlung durch die Geschädigte als solche sagt über das Vorliegen einer Bestärkung durch den Angeklagten nichts aus.

c) Die Aufhebung der Verurteilung im Fall II.2.a der Urteilsgründe entzieht auch dem Gesamtstrafenausspruch die Grundlage.

2. Im Fall II.2.b der Urteilsgründe war der Schuldspruch - wie aus der Beschlussformel ersichtlich - zu berichtigen, weil die Strafkammer zu Unrecht von drei tateinheitlich zusammentreffenden Fällen des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern ausgegangen ist. Tatsächlich liegt nur eine Tat des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern vor, denn die festgestellten mehrfachen Penetrationen bilden eine natürliche Handlungseinheit.

a) Eine natürliche Handlungseinheit und damit eine Tat im materiellrechtlichen Sinn ist dann gegeben, wenn bei einer Mehrheit strafrechtlich relevanter Verhaltensweisen die einzelnen Betätigungakte durch ein gemeinsames subjektives Element verbunden sind und zwischen ihnen ein derart unmittelbarer räumlicher und zeitlicher Zusammenhang besteht, dass das gesamte Handeln des Täters objektiv auch für einen Dritten als einheitliches zusammengehöriges Tun erscheint (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Dezember 2021 - 4 StR 347/21 Rn. 4; Urteil vom 1. September 1994 - 4 StR 259/94, NStZ 1995, 46, 47).

b) So liegt der Fall hier. Die festgestellte am selben Tatopfer in unmittelbarem räumlichen und zeitlichen Zusammenhang vorgenommene dreimalige vaginale Penetration stellt sich hier als einheitliches zusammengehöriges Tun und damit als eine Tat dar.

c) Der Senat ändert den Schuldspruch in entsprechender Anwendung des § 354 Abs. 1 StPO ab. § 265 StPO steht nicht entgegen, da sich der geständige Angeklagte nicht wirksamer als geschehen hätte verteidigen können.

d) Der Strafausspruch zur Tat II.2.b der Urteilsgründe bleibt von der Schuldspruchänderung unberührt und kann bestehen bleiben, da der Schuld- und Unrechtsgehalt durch die veränderte konkurrenzrechtliche Bewertung nicht berührt wird. Der Senat schließt aus, dass die Strafkammer bei zutreffender konkurrenzrechtlicher Bewertung zu einer milderen Einzelstrafe gekommen wäre.

3. Im Übrigen hat die Nachprüfung des Urteils auf Grund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben (§ 349 Abs. 2 StPO).

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 812

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede