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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 699

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 4 StR 457/22, Beschluss v. 28.03.2023, HRRS 2023 Nr. 699


BGH 4 StR 457/22 - Beschluss vom 28. März 2023 (LG Essen)

Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (Hang: physische Abhängigkeit, übermäßiger Genuss, Indizien, Fehlen ausgeprägter Entzugssyndrome, Intervalle der Abstinenz, Folgen der Neigung von Zeit zu Zeit oder bei passender Gelegenheit).

§ 64 StGB

Leitsatz des Bearbeiters

Für die Annahme eines Hangs i.S.d. § 64 StGB ist nach ständiger Rechtsprechung eine eingewurzelte, auf psychische Disposition zurückgehende oder durch Übung erworbene Neigung ausreichend, immer wieder Rauschmittel zu konsumieren, wobei diese Neigung noch nicht den Grad einer physischen Abhängigkeit erreicht haben muss. Ein übermäßiger Genuss von Rauschmitteln ist jedenfalls dann gegeben, wenn der Betreffende aufgrund seiner Neigung sozial gefährdet oder gefährlich erscheint. Wenngleich erhebliche Beeinträchtigungen der Gesundheit, Arbeits- und Leistungsfähigkeit des Betreffenden indizielle Bedeutung für das Vorliegen eines Hangs haben und in der Regel mit übermäßigem Rauschmittelkonsum einhergehen werden, schließt deren Fehlen jedoch nicht notwendigerweise die Annahme eines Hangs aus. Auch stehen das Fehlen ausgeprägter Entzugssyndrome sowie Intervalle der Abstinenz der Annahme eines Hangs nicht entgegen. Er setzt auch nicht voraus, dass die Rauschmittelgewöhnung auf täglichen oder häufig wiederholten Genuss zurückgeht; vielmehr kann es genügen, wenn der Täter von Zeit zu Zeit oder bei passender Gelegenheit seiner Neigung zum Rauschmittelkonsum folgt.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Essen vom 8. August 2022 aufgehoben,

a) soweit die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt unterblieben ist,

b) soweit eine den Betrag von 31.700,00 Euro übersteigende Einziehung des Wertes von Taterträgen angeordnet ist; diese Anordnung entfällt.

2. Im Umfang der Aufhebung zu a) wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

3. Die weiter gehende Revision wird verworfen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge, davon in einem Fall bewaffnet, in Tateinheit mit Besitz von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in siebzehn tateinheitlich zusammentreffenden Fällen zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Außerdem hat es die Einziehung des Wertes von Taterträgen in Höhe von 32.000,00 Euro angeordnet. Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit seiner auf die Verletzung materiellen Rechts gestützten Revision. Das Rechtsmittel hat den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Erfolg; im Übrigen ist es unbegründet, § 349 Abs. 2 StPO.

I.

Das Landgericht hat folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

Der in Vollzeit berufstätige, sozial integrierte und nicht vorbestrafte Angeklagte litt im gesamten Tatzeitraum an einer zum Urteilszeitpunkt fortbestehenden Cannabinoid- und Amphetaminabhängigkeit.

Im Zeitraum ab Anfang 2020 bis zum 18. Januar 2022 erwarb er von dem Zeugen H. bei jedenfalls siebzehn Gelegenheiten jeweils ein Kilogramm Amphetamin zum Preis von 2.000,00 Euro, wobei er die Betäubungsmittel stets auf Kommission bezog, „so dass er stets erst mit der vollständigen Zahlung der zuvor erhaltenen Betäubungsmittelmenge neue Betäubungsmittel erhielt“. Hiervon waren jeweils 800 Gramm zum gewinnbringenden Weiterverkauf vorgesehen. Die jeweils verbleibende Menge von 200 Gramm war für seinen Eigenkonsum bestimmt. Der Angeklagte verkaufte den zur gewinnbringenden Weiterveräußerung bestimmten Anteil der ersten sechzehn Lieferungen vollständig zu einem Preis von 250,00 Euro je 100 Gramm.

Am 18. April 2022 verkaufte der Angeklagte in einem zu seiner Wohnung gehörenden Kellerraum zwölf Gramm Marihuana zum Preis von 100 Euro an den Zeugen W. Das Marihuana hatte er in diesem Raum in einem nicht verschlossenen, über zwei Spannverschlüsse leicht zu öffnenden Metallkoffer in einem direkt neben einer Theke stehenden Regal gelagert, in dem sich außerdem ein funktionsfähiges Elektroimpulsgerät befand. Unmittelbar neben dem Regal unterhalb der Theke verwahrte er 1.195,01 Gramm Amphetamin mit einem Wirkstoffgehalt von 8,37 % Amphetaminbase. 795,01 Gramm hiervon stammten aus der letzten - der siebzehnten - Lieferung von dem Zeugen H. und waren zum gewinnbringenden Weiterverkauf bestimmt. Die verbleibenden 400 Gramm waren für den Eigenkonsum vorgesehen. In dem Kellerraum befanden sich zudem 400 Euro Bargeld, wovon 300 Euro aus dem Verkauf von Amphetamin aus der vorletzten - der sechzehnten - Lieferung und 100 Euro aus dem Verkauf der zwölf Gramm Marihuana an den Zeugen W. stammten. Der Angeklagte hat sich im Rahmen der Hauptverhandlung mit der außergerichtlichen Einziehung dieser im Rahmen einer Wohnungsdurchsuchung aufgefundenen 400 Euro einverstanden erklärt.

II.

Die Überprüfung des Schuld- und Strafausspruchs aufgrund der Revisionsrechtfertigung hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.

III.

Die Entscheidung, von der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt abzusehen, begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Die Ausführungen, mit denen die Strafkammer einen Hang i.S.d. § 64 StGB mangels sozialer Gefährdung des Angeklagten verneint hat, sind rechtsfehlerhaft.

1. Vom Vorliegen der Voraussetzungen eines Hanges i.S.d. § 64 StGB hat sich die sachverständig beratene Strafkammer nicht mit der für eine Verurteilung erforderlichen Sicherheit zu überzeugen vermocht, da der Angeklagte - ungeachtet seiner im Tatzeitraum vorhandenen und zum Urteilszeitpunkt fortbestehenden Cannabis- und Amphetaminabhängigkeit - nicht sozial gefährdet oder gefährlich sei. Bei dem Angeklagten sei ein gut erhaltenes Funktionsniveau und eine „völlig ungestörte Leistungsfähigkeit“ festzustellen. Er habe seinen Alltag zielstrebig und kontrolliert gemeistert, sei in der Lage gewesen, Beziehungen zu führen und seiner beruflichen Tätigkeit und seinen Hobbys nachzugehen. Der Angeklagte habe den Konsum steuern und begrenzen können und andere Belange dem Konsum vorziehen können. Zudem habe er über ein auskömmliches Einkommen verfügt und habe auch keine nennenswerten Schulden angehäuft, was gegen eine soziale Gefährdung des Angeklagten im Hinblick auf ein künftiges Handeltreiben mit Betäubungsmitteln zur Deckung des Eigenbedarfs spreche.

2. Für die Annahme eines Hangs i.S.d. § 64 StGB ist nach ständiger Rechtsprechung eine eingewurzelte, auf psychische Disposition zurückgehende oder durch Übung erworbene Neigung ausreichend, immer wieder Rauschmittel zu konsumieren, wobei diese Neigung noch nicht den Grad einer physischen Abhängigkeit erreicht haben muss. Ein übermäßiger Genuss von Rauschmitteln ist jedenfalls dann gegeben, wenn der Betreffende aufgrund seiner Neigung sozial gefährdet oder gefährlich erscheint (vgl. BGH, Beschluss vom 12. Januar 2017 ? 1 StR 587/16, juris Rn. 9; Beschluss vom 14. Oktober 2015 ? 1 StR 415/15, juris Rn. 7; Urteil vom 15. Mai 2014 ? 3 StR 386/13, juris Rn. 10; Urteil vom 10. November 2004 ? 2 StR 329/04, NStZ 2005, 210). Wenngleich erhebliche Beeinträchtigungen der Gesundheit, Arbeits- und Leistungsfähigkeit des Betreffenden indizielle Bedeutung für das Vorliegen eines Hangs haben und in der Regel mit übermäßigem Rauschmittelkonsum einhergehen werden, schließt deren Fehlen jedoch nicht notwendigerweise die Annahme eines Hangs aus (vgl. BGH, Beschluss vom vom 10. November 2015 ? 1 StR 482/15, NStZ-RR 2016, 113, 114; Beschluss vom 2. April 2015 ? 3 StR 103/15, juris Rn. 6; Beschluss vom 1. April 2008 ? 4 StR 56/08, NStZ-RR 2008, 198, 199). Auch stehen das Fehlen ausgeprägter Entzugssyndrome sowie Intervalle der Abstinenz der Annahme eines Hangs nicht entgegen (vgl. BGH, Beschluss vom 12. April 2012 ? 5 StR 87/12, NStZ-RR 2012, 271; Beschluss vom 30. März 2010 ? 3 StR 88/10, NStZ-RR 2010, 216). Er setzt auch nicht voraus, dass die Rauschmittelgewöhnung auf täglichen oder häufig wiederholten Genuss zurückgeht; vielmehr kann es genügen, wenn der Täter von Zeit zu Zeit oder bei passender Gelegenheit seiner Neigung zum Rauschmittelkonsum folgt (vgl. BGH, Beschluss vom 20. Februar 2018 ? 3 StR 645/17, juris Rn. 8; Beschluss vom 7. Januar 2009 ? 5 StR 586/08, NStZ-RR 2009, 137).

3. Nach diesen rechtlichen Maßstäben kommt ein Hang des Angeklagten zum übermäßigen Konsum von Rauschmitteln in Betracht. Soweit die Strafkammer eine soziale Gefährlichkeit bzw. eine soziale Gefährdung des Angeklagten verneint hat, hat sie nicht in den Blick genommen, dass der Angeklagte - ungeachtet seiner von der Kammer als „auskömmlich“ betrachteten Einnahmen aus beruflicher Tätigkeit - nach den getroffenen Feststellungen über einen erheblichen Zeitraum von zwei Jahren regelmäßig erhebliche Mengen Betäubungsmittel zum gewinnbringenden Weiterverkauf zur Finanzierung seines gleichermaßen nicht unerheblichen Eigenkonsums erworben hat. Zudem spricht der - ebenfalls festgestellte - durchgängige Erwerb der Betäubungsmittel auf Kommissionsbasis gerade gegen die von der Strafkammer angenommene Liquidität des Angeklagten aus legaler Erwerbstätigkeit.

4. Die Sache bedarf insoweit neuer Verhandlung und Entscheidung. Ergänzende Feststellungen können getroffen werden, soweit sie bestehenden nicht widersprechen.

IV.

Zudem bedurfte die Einziehungsentscheidung der Korrektur.

Die Kammer ist - insoweit rechtsfehlerfrei - von vereinnahmten Erlösen in Höhe von insgesamt 32.000 Euro aus der Veräußerung von jeweils 800 Gramm Amphetamin aus sechzehn festgestellten Erwerbsvorgängen ausgegangen. Von diesem Betrag waren 300 Euro in Abzug zu bringen, die nach den Feststellungen aus der Veräußerung dieses Amphetamins stammten und mit deren außergerichtlicher Einziehung der Angeklagte sich einverstanden erklärt hat. Durch den in dieser Erklärung liegenden Verzicht ist der staatliche Zahlungsanspruch nach § 73c StGB erloschen (vgl. BGH, Beschluss vom 24. November 2021 - 4 StR 358/21; Beschluss vom 11. Dezember 2018 - 5 StR 198/18, BGHSt 63, 305).

Das weiter gehende Rechtsmittel des Angeklagten ist unbegründet i.S.d § 349 Abs. 2 StPO, weil die Nachprüfung des angefochtenen Urteils im Übrigen keinen Rechtsfehler zu seinem Nachteil ergeben hat.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 699

Bearbeiter: Julia Heß/Karsten Gaede