HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 49
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 415/15, Beschluss v. 14.10.2015, HRRS 2016 Nr. 49
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Passau vom 9. Juni 2015 mit den Feststellungen aufgehoben, soweit die Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt abgelehnt worden ist.
2. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
3. Die weitergehende Revision wird verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen unerlaubter Einfuhr von Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit Beihilfe zum unerlaubten Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge sowie wegen unerlaubten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit unerlaubtem Erwerb von Betäubungsmitteln zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt sowie einen Geldbetrag von 2.000 € für verfallen erklärt.
Hiergegen richtet sich die auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten. Sein Rechtsmittel hat Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO), soweit eine Unterbringung in der Entziehungsanstalt unterblieben ist; im Übrigen ist es, wie der Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift vom 20. August 2015 ausgeführt hat, unbegründet im Sinne von § 349 Abs. 2 StPO.
Die Ablehnung einer Maßregelanordnung nach § 64 StGB kann nicht bestehen bleiben. Das Landgericht hat ausgeführt, dass zwar ein polyvalenter Suchtmittelmissbrauch des Angeklagten in Bezug auf Alkohol, Cannabis, Kokain und Amphetamin bzw. Metamphetamin vorliege, von einem Hang des Angeklagten, alkoholische Getränke oder andere berauschende Mittel im Übermaß zu sich zu nehmen, könne jedoch nicht ausgegangen werden.
Allerdings hat das Landgericht selbst festgestellt, dass der Angeklagte vor 3-4 Jahren begann, auf Partys Ecstasy zu konsumieren. Schon als Jugendlicher hatte er mit Marihuana Kontakt und begann dann auch, dieses selbst zu kaufen, was er ein- bis zweimal werktags, am Wochenende mit Gästen oder abends beim Fernsehen konsumierte. Außerdem konsumierte der Angeklagte Kokain, um den Schlafmangel auszugleichen oder sich nach Stresssituationen Entspannung zu verschaffen. Crystal und Speed konsumierte er ebenfalls, allerdings nicht täglich und nicht intravenös. Zusätzlich trank der Angeklagte täglich zwischen ein und fünf Flaschen Bier, nachdem er den vormals erheblich umfangreicheren Alkoholkonsum auf Drängen seiner Ehefrau reduziert hatte.
1. Das Landgericht hat in Übereinstimmung mit dem Sachverständigen einen Hang des Angeklagten, berauschende Mittel, nämlich Alkohol und Drogen, im Übermaß zu sich zu nehmen, nicht anzunehmen vermocht. Zwar liege beim Angeklagten ein problematischer Umgang mit Suchtmitteln vor; Anhaltspunkte für eine Depravation oder eine drogenbedingte Persönlichkeitsstörung seien aber nicht zu Tage getreten. Desgleichen fehlten Anzeichen für eine auf den Drogenkonsum zurückzuführende erhebliche Einschränkung der Arbeits- und Leistungsfähigkeit des Angeklagten oder relevante Entzugserscheinungen.
2. Diese Begründung lässt besorgen, dass das Landgericht von einem zu engen Verständnis eines Hanges im Sinne des § 64 StGB ausgegangen ist.
Für einen Hang ist nach ständiger Rechtsprechung ausreichend eine eingewurzelte, auf psychische Disposition zurückgehende oder durch Übung erworbene Neigung, immer wieder Rauschmittel zu konsumieren, wobei diese Neigung noch nicht den Grad einer physischen Abhängigkeit erreicht haben muss. Ein übermäßiger Genuss von Rauschmitteln im Sinne des § 64 StGB ist jedenfalls dann gegeben, wenn der Betreffende auf Grund seiner psychischen Abhängigkeit sozial gefährdet oder gefährlich erscheint (vgl. BGH, Urteil vom 10. November 2004 - 2 StR 329/04, NStZ 2005, 210; Urteil vom 15. Mai 2014 - 3 StR 386/13). Insoweit kann dem Umstand, dass durch den Rauschmittelkonsum bereits die Gesundheit, Arbeits- und Leistungsfähigkeit des Betreffenden erheblich beeinträchtigt ist, zwar indizielle Bedeutung für das Vorliegen eines Hanges zukommen (vgl. BGH, Beschluss vom 1. April 2008 - 4 StR 56/08, NStZ-RR 2008, 198; Beschluss vom 14. Dezember 2005 - 1 StR 420/05, NStZ-RR 2006, 103). Wenngleich solche Beeinträchtigungen in der Regel mit übermäßigem Rauschmittelkonsum einhergehen dürften, schließt deren Fehlen jedoch nicht notwendigerweise die Bejahung eines Hanges aus (BGH, Beschluss vom 1. April 2008 - 4 StR 56/08, NStZ-RR 2008, 198; Beschluss vom 2. April 2015 - 3 StR 103/15).
3. Dies zu Grunde gelegt, drängt sich das Vorliegen eines Hanges hier schon angesichts des festgestellten und zutreffend als polyvalent bezeichneten Suchtmittelmissbrauchs auf, welcher deutlich auf eine den Angeklagten treibende Neigung hindeutet, Alkohol und Betäubungsmittel im Übermaß zu konsumieren.
Der Bejahung eines Hanges steht im Übrigen nicht entgegen, dass der Angeklagte nach seiner Inhaftierung keine schweren körperlichen Entzugserscheinungen aufwies; immerhin stellten sich bei ihm Schlafstörungen, grundloses Schwitzen und Juckreiz ein. Zudem traten bei ihm bis zuletzt abendliche Kopfschmerzen und ein Gefühl der Unruhe weiterhin auf.
4. Der neue Tatrichter wird deshalb das Vorliegen eines Hanges des Angeklagten, alkoholische Getränke und Betäubungsmittel im Übermaß zu sich zu nehmen, neu zu beurteilen und auch Feststellungen zu treffen haben, inwieweit ein symptomatischer Zusammenhang zwischen Drogensucht und den Betäubungsmittelstraftaten des Angeklagten und eine hinreichend konkrete Therapieaussicht besteht.
Dass nur der Angeklagte Revision eingelegt hat, hindert die Nachholung der Unterbringungsanordnung nicht (§ 358 Abs. 2 Satz 2 StPO; BGH, Urteil vom 10. November 2004 - 2 StR 329/04, NStZ 2005, 210; BGH Beschluss vom 21. Oktober 2008 - 3 StR 382/08, NStZ-RR 2009, 59). Er hat die Nichtanwendung des § 64 StGB durch das Tatgericht ausdrücklich nicht vom Rechtsmittelangriff ausgenommen.
HRRS-Nummer: HRRS 2016 Nr. 49
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede