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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 648

Bearbeiter: Fabian Afshar

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 277/22, Urteil v. 23.03.2023, HRRS 2023 Nr. 648


BGH 3 StR 277/22 - Urteil vom 23. März 2023 (LG Mönchengladbach)

Totschlag (bedingter Tötungsvorsatz; wertende Gesamtschau; Gleichgültigkeit des Täters bei „Fatigue-Syndrom“); sachlich-rechtliche Anforderungen an die Beweiswürdigung des Tatgerichts (revisionsgerichtliche Prüfung; widersprüchlich, unklar oder lückenhaft; Verstoß gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze; umfassende Würdigung).

§ 212 StGB; § 227 StGB; § 13 StGB; § 15 StGB; § 22 StGB; § 23 StGB; § 261 StPO

Leitsätze des Bearbeiters

1. Bedingter Tötungsvorsatz ist gegeben, wenn der Täter den Tod als mögliche, nicht ganz fernliegende Folge seines Handelns erkennt (Wissenselement) und dies billigt oder sich um des erstrebten Ziels willen zumindest mit dem Eintritt des Todes eines anderen Menschen abfindet, mag ihm der Erfolgseintritt auch gleichgültig oder an sich unerwünscht sein (Willenselement). Ob ein Täter bedingt vorsätzlich handelte, ist in Bezug auf beide Elemente im Rahmen der Beweiswürdigung umfassend zu prüfen und durch tatsächliche Feststellungen zu belegen. Hierzu bedarf es einer Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Tatumstände des Einzelfalles, in welche vor allem die objektive Gefährlichkeit der Tathandlung, die konkrete Angriffsweise des Täters, seine psychische Verfassung bei der Tatbegehung und seine Motivationslage einzubeziehen sind. Diese Grundsätze gelten sowohl für Begehungsdelikte als auch für Unterlassungstaten.

2. Zwar kann ein bedingter Tötungsvorsatz bereits vorliegen, wenn dem Täter der Tod des Opfers gleichgültig ist. Indes kann es in Einzelfällen erforderlich sein, bei der gebotenen Gesamtschau zwischen einer generellen Gleichgültigkeit und Resignation des Täters in Bezug auf die Gesamtheit seiner privaten Lebensverhältnisse und einer spezifischen Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal des Opfers zu differenzieren, welche Ausdruck einer besonderen Gefühllosigkeit oder eines egoistischen Desinteresses ist.

Entscheidungstenor

Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Mönchengladbach vom 21. März 2022 wird verworfen.

Die Staatskasse trägt die Kosten des Rechtsmittels und die der Angeklagten dadurch entstandenen notwendigen Auslagen.

Gründe

Das Landgericht hatte die Angeklagte im ersten Rechtsgang wegen versuchten Totschlags „durch Unterlassen“ in Tateinheit mit Körperverletzung mit Todesfolge „durch Unterlassen“ zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten verurteilt. Auf die Revision der Angeklagten hob der Senat das Urteil gemäß § 349 Abs. 4 StPO mit den Feststellungen auf und verwies die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurück (BGH, Beschluss vom 23. Februar 2021 - 3 StR 488/20, juris).

Nunmehr hat das Landgericht die Angeklagte im zweiten Rechtsgang wegen Körperverletzung mit Todesfolge in Tateinheit mit Aussetzung mit Todesfolge zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren und sechs Monaten verurteilt. Dagegen wendet sich die Staatsanwaltschaft mit ihrer zu Ungunsten der Angeklagten eingelegten und auf die Sachrüge gestützten Revision. Sie beanstandet, dass die Angeklagte nicht auch wegen versuchten Totschlags verurteilt worden ist, und bemängelt die diesbezügliche Beweiswürdigung. Das vom Generalbundesanwalt vertretene Rechtsmittel bleibt ohne Erfolg.

I.

Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:

1. Die Angeklagte lebte mit ihrem Ehemann sowie ihrer 2015 geborenen Tochter Lu. und ihrem am 18. Mai 2017 geborenen Sohn L. - dem späteren Tatopfer - in einer gemeinsamen Wohnung. Während ihr Ehemann beruflich bedingt unter der Woche den ganzen Tag über außer Haus war, oblagen der nicht erwerbstätigen Angeklagten die Betreuung der Kinder und die Haushaltsführung. Mit beidem war sie spätestens ab Anfang 2019 überfordert, zumal sie sich nach einer 2018 überstandenen schweren Krebserkrankung durchgängig müde, geschwächt und antriebslos fühlte sowie psychisch wegen der Sorge vor einer erneuten Erkrankung stark belastet war. Sie litt unter einem „Fatigue-Syndrom“ und befand sich in einer schweren depressiven Episode. Die Angeklagte kümmerte sich nicht mehr um eine ordnungsgemäße Körperpflege, Ernährung und Bekleidung ihrer Kinder. Sie brachte ihre Tochter nur noch sporadisch in den Kindergarten; anstehende Untersuchungstermine ihrer Kinder beim Kinderarzt nahm sie nicht wahr. Die Wohnung verdreckte und vermüllte massiv; von ihr dort gehaltene Ratten vermehrten sich unkontrolliert. Auch ihre eigene Körperhygiene vernachlässigte die Angeklagte.

Am Abend des 14. April 2019 legte die Angeklagte ihren knapp zwei Jahre alten und zu diesem Zeitpunkt gesunden Sohn bekleidet mit einer Windel, Unterwäsche, T-Shirt und Strumpfhose in einem Schlafsack in sein Gitterbett in seinem Kinderzimmer. Bedingt durch den Schlafsack und seine geringe Körpergröße konnte das Kind - was die Angeklagte wusste - das Bett nicht eigenständig verlassen. Weil die Heizung ausgefallen war, hatten die Angeklagte und ihr Ehemann neben dem Bett einen Heizlüfter aufgestellt. Der Ehemann der Angeklagten schaltete das Heizgerät an diesem Abend mit Wissen der Angeklagten - wie schon in der Nacht zuvor - auf höchster Stufe ein, so dass es fortan mit voller Kraft lief. Die Tür zum Kinderzimmer sowie die Fenster waren geschlossen.

Anschließend kümmerte sich die Angeklagte nicht mehr um das Kind. Spätestens gegen 8:45 Uhr am Morgen des 15. April 2019 erwachte L. und machte sich bemerkbar. Zu diesem Zeitpunkt herrschten in seinem Zimmer bereits Temperaturen zwischen 30 und 35 Grad Celsius. Deshalb und wegen der nur eingeschränkten Möglichkeit zur Wärmeabgabe aufgrund seiner Bekleidung und des Schlafsacks hatte L. schon zu diesem Zeitpunkt Durst. Seiner Situation konnte er nicht selbst begegnen, weil er zum einen bereits infolge einer Dehydrierung geschwächt und zum anderen ohnehin nicht in der Lage war, eigenständig sein Bett zu verlassen. Zwar vernahm die Angeklagte gegen 10:00 Uhr Lautäußerungen des Kleinkindes, sah aber nicht nach diesem. Sie kümmerte sich auch in der Folgezeit nicht um ihren Sohn, sondern allein um ihre Tochter, obgleich es ihr ohne Weiteres möglich war, auch L. zu versorgen, insbesondere ihn - wie es geboten war - aus dem Bett in eine kühlere Umgebung zu verbringen und ihm zu trinken zu geben. Aufgrund dessen dehydrierte das Kind weiter und geriet in konkrete Gefahr, bei Fortdauer der bestehenden Umstände zu versterben oder zumindest eine schwere Gesundheitsschädigung zu erleiden.

L. machte sich in der Folgezeit nicht wieder bemerkbar. Als der Ehemann der Angeklagten am Abend nach Hause kam und sich nach den Kindern erkundigte, teilte sie ihm mit, diese schliefen. Zwar fühlte sie sich „mies“, weil sie den ganzen Tag über nicht nach ihrem Sohn geschaut hatte, doch begab sie sich weiterhin nicht in das Kinderzimmer.

Am nächsten Tag, dem 16. April 2019, wurde die Angeklagte gegen 10:00 Uhr wach, weil ihre Tochter Hunger hatte und nach ihr rief. Sie rauchte zunächst eine Zigarette, bereitete ihrer Tochter etwas zu Essen, frühstückte selbst und setzte sich an ihren Computer. Zwischen 11:00 Uhr und 12:00 Uhr ging die Angeklagte dann erstmals in das völlig überhitzte Zimmer ihres Sohnes. Dort stellte sie fest, dass L. leblos in seinem Bett lag. Sie realisierte sogleich, dass er verstorben war, verständigte gleichwohl den Rettungsdienst und begann unter telefonischer Anleitung der Rettungsleitstelle mit Reanimationsversuchen. Die eintreffende Notärztin konnte nur noch den Tod des Kindes feststellen. Die Leiche wies nicht nur Leichenflecken und Leichenstarre auf, sondern war zudem teilweise mumifiziert. Todesursächlich waren mangelnde Flüssigkeitszufuhr bei gleichzeitig erheblicher Wärmeeinwirkung und eingeschränkter Möglichkeit der Wärmeabgabe.

Den exakten Todeszeitpunkt hat die Strafkammer nicht zu klären vermocht. Auf der Basis eines rechtsmedizinischen Sachverständigengutachtens hat das Landgericht festgestellt, dass L. mindestens sechs Stunden vor seinem Auffinden durch die Angeklagte verstarb, also am Vormittag des 16. April 2019 bereits tot war, allerdings jedenfalls bis zum Mittag des 15. April 2019 lebte und sicher zu retten gewesen wäre. Sein Tod wäre nicht eingetreten, wenn die Angeklagte ihn bis zu diesem Zeitpunkt in eine kühlere Umgebung verbracht und ihm ausreichend Flüssigkeit zur Verfügung gestellt hätte. Ob L. auch zu einem späteren Zeitpunkt noch hätte gerettet werden können, hat die Strafkammer nicht feststellen können.

Nicht ausschließbar erkannte die Angeklagte die Möglichkeit eines tödlichen Verlaufs nicht oder vertraute zumindest darauf, ihr Sohn werde nicht in Folge der unterlassenen Versorgung versterben. Die Angeklagte wusste indes, dass L. seit dem 14. April 2019 nichts zu Essen oder Trinken bekommen hatte, fortwährend dem auf höchster Stufe laufenden Heizlüfter ausgesetzt war und sein Gitterbett allein nicht verlassen konnte. Ihr war am Vormittag des 15. April 2019, als sie gegen 10:00 Uhr Lautäußerungen ihres Sohnes wahrnahm, bewusst, dass Kinder regelmäßig trinken und essen müssen, bei einem Kind in L. s Alter ein regelmäßiger Windelwechsel erfolgen muss und ihr Sohn daher von ihr als Mutter hätte versorgt werden müssen. Sie wusste jedenfalls zu diesem Zeitpunkt, dass ihr Sohn wegen des Unterbleibens jeglicher Versorgung und der Situation in seinem Kinderzimmer in seinem körperlichen Wohlbefinden und seiner Gesundheit bereits beeinträchtigt war und im Falle ihrer fortdauernden Untätigkeit erhebliche weitere gesundheitliche Schäden erleiden würde. Die von ihr erkannte Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung ihres Sohnes nahm sie billigend in Kauf. Zudem hätte sie erkennen können und müssen, dass die von ihr unterlassene Versorgung geeignet war, den Tod ihres Kindes herbeizuführen.

2. Das Landgericht hat das Verhalten der Angeklagten als Körperverletzung mit Todesfolge durch pflichtwidriges Unterlassen gemäß § 223 Abs. 1, § 227 Abs. 1, § 13 Abs. 1 StGB in Tateinheit (§ 52 StGB) mit Aussetzung mit Todesfolge in Gestalt eines Im-Stich-Lassens in hilfloser Lage gemäß § 221 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 StGB gewertet.

Eine Strafbarkeit der Angeklagten wegen (versuchten) Totschlags durch Unterlassen gemäß § 212 Abs. 1, § 13 Abs. 1 (§§ 22, 23 Abs. 1) StGB hat die Strafkammer ausgehend von den getroffenen Feststellungen zur subjektiven Tatseite, mithin wegen eines nicht ausschließbar fehlenden (bedingten) Tötungsvorsatzes, verneint.

II.

Die Revision der Staatsanwaltschaft hat keinen Erfolg.

Die materiellrechtliche Überprüfung des Urteils aufgrund der Sachrüge hat keinen Rechtsfehler zum Vor- oder Nachteil (§ 301 StPO) der Angeklagten ergeben. Die vom Landgericht getroffenen Feststellungen werden durch die Beweiswürdigung belegt und tragen den Schuldspruch. Die Strafzumessungsentscheidung ist ebenfalls nicht zu beanstanden.

1. Zu Recht hat die Strafkammer angenommen, dass die verwirklichten Straftatbestände der Körperverletzung mit Todesfolge gemäß § 223 Abs. 1, § 227 Abs. 1, § 13 Abs. 1 StGB und der Aussetzung mit Todesfolge in der Variante des echten Unterlassungsdelikts (BGH, Beschluss vom 19. Oktober 2011 - 1 StR 233/11, BGHSt 57, 28 Rn. 10 ff.) des Im-Stich-Lassens in hilfloser Lage gemäß § 221 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 3 StGB hier zueinander im Verhältnis der Tateinheit stehen. Denn nur damit werden im Schuldspruch sowohl der Körperverletzungserfolg als auch die vorsätzliche Herbeiführung der Gefahr einer schweren Gesundheitsschädigung des Opfers zum Ausdruck gebracht (vgl. BGH, Beschluss vom 23. Februar 2021 - 3 StR 488/20, BGHR StGB § 221 Abs. 3 Konkurrenzen 1 Rn. 26; Urteil vom 27. März 1953 - 1 StR 689/52, BGHSt 4, 113, 115 ff.; BeckOK StGB/Eschelbach, 56. Ed., § 221 Rn. 43; Schönke/Schröder/ Eser/Sternberg-Lieben, StGB, 30. Aufl., § 221 Rn. 18; MükoStGB/Hardtung, 4. Aufl., § 221 Rn. 50; SSW-StGB/Momsen, 5. Aufl., § 221 Rn. 17).

2. Entgegen dem Rügevorbringen der Staatsanwaltschaft hat die Strafkammer frei von einem durchgreifenden Rechtsfehler keinen Tötungsvorsatz der Angeklagten festgestellt und sie daher rechtlich tragfähig nicht wegen (versuchten) Totschlags durch Unterlassen verurteilt. Die diesbezügliche Beweiswürdigung lässt, anders als die Revision geltend macht, keinen beachtlichen Rechtsmangel erkennen.

a) Die Beweiswürdigung ist Sache des Tatgerichts (§ 261 StPO). Diesem obliegt es, das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen; seine aufgrund der Hauptverhandlung gewonnene Überzeugung ist für das Revisionsgericht grundsätzlich bindend. Die Schlussfolgerungen des Tatgerichts brauchen nicht zwingend zu sein, es genügt, dass sie möglich sind. Das Revisionsgericht hat die tatrichterliche Überzeugungsbildung selbst dann hinzunehmen, wenn eine andere Beurteilung nähergelegen hätte oder überzeugender gewesen wäre. Spricht das Tatgericht einen Angeklagten frei oder verneint es - wie hier - die Verwirklichung eines bestimmten Straftatbestandes, weil es vorhandene Zweifel nicht hat überwinden können, ist dies vom Revisionsgericht deshalb in aller Regel hinzunehmen (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Beschluss vom 12. August 2021 - 3 StR 441/20, BGHSt 66, 226 Rn. 29 f.; Urteile vom 11. März 2021 - 3 StR 316/20, NStZ 2022, 161 Rn. 11; vom 14. Januar 2021 - 3 StR 124/20, NStZ-RR 2021, 113, 114).

Das Revisionsgericht kann die tatrichterliche Beweiswürdigung nur auf Rechtsfehler hin überprüfen. Solche liegen in sachlichrechtlicher Hinsicht vor, wenn die Beweiswürdigung lückenhaft ist, namentlich wesentliche Feststellungen nicht berücksichtigt, naheliegende Schlussfolgerungen nicht erörtert oder einzelne Beweisanzeichen nur isoliert bewertet worden sind und die gebotene umfassende und erschöpfende Gesamtwürdigung aller Beweisergebnisse unterblieben ist. Rechtsfehler bei der Beweiswürdigung liegen ferner vor, wenn die Beweiswürdigung in sich widersprüchlich oder unklar ist, gegen ein Denkgesetz oder gesicherten Erfahrungssatz verstößt oder wenn das Tatgericht überspannte Anforderungen an die für eine Verurteilung erforderliche Gewissheit gestellt hat (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 25. August 2022 - 3 StR 359/21, NJW 2023, 89 Rn. 17 f.; Beschluss vom 12. August 2021 - 3 StR 441/20, BGHSt 66, 226 Rn. 29 f.; Urteile vom 11. März 2021 - 3 StR 316/20, NStZ 2022, 161 Rn. 12; vom 13. Oktober 2020 - 1 StR 299/20, NStZ-RR 2021, 24; vom 30. Juli 2020 - 4 StR 603/19, NStZ 2021, 116 Rn. 6).

b) Bei Anlegung dieser rechtlichen Maßstäbe hat sich die Strafkammer in sachlichrechtlich nicht zu beanstandender Weise von einem - hier allein in Betracht kommenden - bedingten Tötungsvorsatz der Angeklagten nicht zu überzeugen vermocht. Dies gilt sowohl in Bezug auf den Vormittag des 15. April 2019, an dem das Tatopfer noch lebte und durch die gebotene Versorgung hätte gerettet werden können, als auch bezogen auf die von der Staatsanwaltschaft für relevant erachtete und vom Landgericht ebenfalls in den Blick genommene spätere Zeit, namentlich den Vormittag des Folgetages, als das Kind bereits verstorben war beziehungsweise dies nicht ausgeschlossen ist und daher - wie angeklagt - eine Strafbarkeit der Angeklagten wegen (untauglichen) versuchten Totschlags durch Unterlassen von Maßnahmen zur adäquaten Versorgung ihres Sohnes in Frage stand.

aa) Bedingter Tötungsvorsatz ist gegeben, wenn der Täter den Tod als mögliche, nicht ganz fernliegende Folge seines Handelns erkennt (Wissenselement) und dies billigt oder sich um des erstrebten Ziels willen zumindest mit dem Eintritt des Todes eines anderen Menschen abfindet, mag ihm der Erfolgseintritt auch gleichgültig oder an sich unerwünscht sein (Willenselement). Ob ein Täter bedingt vorsätzlich handelte, ist in Bezug auf beide Elemente im Rahmen der Beweiswürdigung umfassend zu prüfen und durch tatsächliche Feststellungen zu belegen. Hierzu bedarf es einer Gesamtschau aller objektiven und subjektiven Tatumstände des Einzelfalles, in welche vor allem die objektive Gefährlichkeit der Tathandlung, die konkrete Angriffsweise des Täters, seine psychische Verfassung bei der Tatbegehung und seine Motivationslage einzubeziehen sind.

Diese Grundsätze gelten sowohl für Begehungsdelikte als auch für Unterlassungstaten (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteile vom 5. September 2019 - 3 StR 219/19, NStZ 2020, 217 Rn. 8; vom 9. Februar 2017 - 3 StR 415/16, NStZ 2017, 342, 343 f.; vom 27. Juli 2017 - 3 StR 172/17, NStZ 2018, 37, 38).

bb) Die Strafkammer hat ihrer Beurteilung die vorgenannten rechtlichen Merkmale des bedingten Tötungsvorsatzes zu Grunde gelegt. Sie hat ausdrücklich eine Gesamtwürdigung aller für und gegen einen Tötungsvorsatz sprechenden Umstände vorgenommen. Ihre Gesamtschau der relevanten Faktoren hat sie, wenngleich außerordentlich knapp, in den Urteilsgründen noch hinreichend dargelegt. Sie ist zu dem daher revisionsrechtlich nicht zu beanstandenden Ergebnis gekommen, es verblieben durchgreifende Zweifel daran, dass die Angeklagte mit bedingtem Tötungsvorsatz untätig blieb. Im Einzelnen:

(1) Das Landgericht hat ausgeführt, die Angeklagte habe sich zum äußeren Tatgeschehen geständig eingelassen. In Bezug auf ihr Vorstellungsbild habe sie ausgeführt, sich nicht wirklich zu erinnern; sie vermute aber, dass sie „einfach darauf vertraut habe, dass schon alles gut und es nicht schlimm sei, wenn sie sich später um L. kümmere“. Dass ihr Kind möglicherweise versterben könne, habe sie „sicherlich nicht in ihrer Vorstellung gehabt“.

Bis zum frühesten möglichen Todeszeitpunkt habe, so die Strafkammer, keine offensichtliche Lebensgefahr vorgelegen; die Strafkammer hat insofern darauf abgehoben, dass schon in der Nacht vom 13. auf den 14. Oktober 2019 der Heizlüfter mit voller Leistung in Betrieb war, L. aber am 14. Oktober 2019 hiervon gesundheitlich unbeeinträchtigt und körperlich aktiv war. Es könne daher nicht ausgeschlossen werden, dass die Angeklagte - wie sie letztlich geltend gemacht hat - darauf vertraute, ihr Sohn befinde sich nicht in Lebensgefahr. Das gelte auch für den späteren Zeitraum, namentlich für die Zeit nach dem Versterben des Kindes und insbesondere den Vormittag des 16. April 2019. Denn das fortdauernde Unterlassen der Versorgung ihres Sohnes sei kein Verhalten, das für sich genommen zur Annahme eines Tötungsvorsatzes dränge. Selbst wenn die Angeklagte nunmehr die Risikodimension ihres Verhaltens vollständig erkannt haben sollte, könne sie doch auf einen nichttödlichen Ausgang vertraut haben.

Für ein solches Vertrauen und damit gegen einen Tötungsvorsatz, so die Strafkammer, spreche das Nachtatverhalten der Angeklagten. Denn nachdem sie ihren Sohn aufgefunden hatte, setzte sie sogleich einen Notruf ab und ergriff Reanimationsmaßnahmen. Bei Eintreffen der Rettungskräfte weinte sie und machte nach Zeugenangaben einen „emotional aufgelösten“ und verzweifelten Eindruck. Das ergebe sich, so das Landgericht, auch aus der in Augenschein genommenen Aufzeichnung des Notrufs und spreche dagegen, dass die Angeklagte einen tödlichen Ausgang billigend in Kauf genommen habe.

(2) Die Staatsanwaltschaft macht in ihrer Revisionsbegründung - im Ausgangspunkt zutreffend - geltend, ein bedingter Tötungsvorsatz könne bereits vorliegen, wenn dem Täter der Tod des Opfers gleichgültig sei (vgl. insofern BGH, Urteile vom 24. April 2019 - 2 StR 377/18, NStZ 2019, 468 Rn. 11; vom 11. Oktober 2016 - 1 StR 248/16, NStZ 2017, 25 f.; vom 19. April 2016 - 5 StR 498/15, NStZ-RR 2016, 204 f.; MüKoStGB/Schneider, 4. Aufl., § 212 Rn. 89 mwN). Mit der Frage, ob der Angeklagten der Tod von L. gleichgültig gewesen sei, habe sich die Strafkammer nicht ausdrücklich auseinandergesetzt. Hierfür habe jedoch Anlass bestanden. Die Staatsanwaltschaft weist insofern darauf hin, dass die Angeklagte ausweislich der Urteilsgründe bei einer polizeilichen Beschuldigtenvernehmung am 16. April 2019 angab, sie habe am Vortag „nur Lu. haben wollen, um stressfrei durch den Tag zu kommen, auch weil sie krank gewesen sei“. Sie sei „einfach genervt gewesen“ und habe „keine Lust“ gehabt. Sie habe „alles heute machen wollen“. Da die Beweiswürdigung sich, so die Revisionsführerin, mit der in diesen Äußerungen zum Ausdruck gekommenen Gleichgültigkeit der Angeklagten dem Schicksal ihres Sohnes gegenüber nicht auseinandergesetzt habe, sei sie lückenhaft. Ein durchgreifender Rechtsfehler wird damit nicht aufgezeigt.

Das angefochtene Urteil legt dar, dass der psychiatrische Sachverständige, dessen Bewertung die Strafkammer rechtsfehlerfrei gefolgt ist, der Angeklagten zwar eine „gewisse Gleichgültigkeit und Resignation“ attestiert hat. Der Sachverständige hat ausweislich der Urteilsgründe aber eine generelle Gleichgültigkeit und Resignation in Bezug auf die Gesamtheit der privaten Lebensverhältnisse festgestellt und insofern auf die massive Vermüllung der Wohnung, die unkontrollierte Vermehrung der Ratten und die signifikante Vernachlässigung der eigenen Körperpflege der Angeklagten hingewiesen. Er hat diese Gleichgültigkeit der Angeklagten als Manifestation des diagnostizierten Fatigue-Syndroms und ihrer schweren depressiven Episode zur Tatzeit gewertet und betont, die Leistungsfähigkeit der Angeklagten sei krankheitsbedingt reduziert gewesen; sie habe unter Antriebslosigkeit, rascher Erschöpfbarkeit, vermehrtem Schlafbedürfnis, Freudlosigkeit und mangelndem Durchhaltevermögen gelitten. Sie sei mit ihrer Lebenssituation überfordert gewesen. Mithin hat der Sachverständige keine spezifische Gleichgültigkeit der Angeklagten gegenüber dem Schicksal ihres Sohnes und keine egozentrische Grundhaltung festgestellt.

Vor diesem Hintergrund erscheint es jedenfalls nicht naheliegend, dass die vorgenannten Äußerungen der Angeklagten bei ihrer polizeilichen Beschuldigtenvernehmung Ausdruck einer besonderen Gefühllosigkeit und eines egoistischen Desinteresses gerade gegenüber den Belangen und Bedürfnissen ihres Sohnes waren (vgl. zur Indizwirkung einer egoistischen Motivation bei einer massiven Vernachlässigung des eigenen Kindes für einen Tötungsvorsatz MüKoStGB/Schneider, 4. Aufl., § 212 Rn. 50; s. demgegenüber zur vorsatzkritischen Relevanz einer persönlichen Krisensituation der Mutter BGH, Beschluss vom 3. Dezember 1997 - 3 StR 569/97, BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 50). Die Strafkammer ist deshalb von Rechts wegen nicht gehalten gewesen, die Äußerungen der Angeklagten bei der polizeilichen Beschuldigtenvernehmung ausdrücklich als mögliches Beweisanzeichen für einen Tötungsvorsatz in ihre Gesamtbetrachtung einzustellen und in den Urteilsgründen zu erörtern.

Soweit die Staatsanwaltschaft auf weitere Äußerungen der Angeklagten bei der polizeilichen Vernehmung abhebt, denen Indizwirkung für einen Tötungsvorsatz zukomme und die daher von der Strafkammer ausdrücklich in die Gesamtwürdigung hätten einbezogen werden müssen, trägt sie urteilsfremd vor, so dass sie hiermit im Rahmen der allein erhobenen Sachrüge nicht gehört werden kann.

(3) Die Staatsanwaltschaft bemängelt weiter, die Strafkammer hätte die festgestellte emotionale Erschütterung der Angeklagten beim Absetzen des Notrufes und nach Eintreffen der Rettungskräfte nicht ohne Weiteres als Beweisanzeichen gegen einen Tötungsvorsatz werten dürfen, sondern ausdrücklich erörtern müssen, ob sich hierin lediglich die Sorge vor strafrechtlichen Konsequenzen und dem weiteren eigenen Schicksal manifestierte. Auch damit zeigt die Revisionsführerin keine relevante Lücke in der Beweiswürdigung auf (vgl. insofern BGH, Urteile vom 23. Februar 2012 - 4 StR 608/11, NStZ 2012, 443, 444 f.; vom 23. Juni 2009 - 1 StR 191/09, NStZ 2009, 629, 630; Beschluss vom 8. Mai 2008 - 3 StR 142/08, BGHR StGB § 212 Abs. 1 Vorsatz, bedingter 62 Rn. 5; Urteil vom 18. Januar 2007 - 4 StR 489/06, NStZ-RR 2007, 141, 142; MüKoStGB/ Schneider, 4. Aufl., § 212 Rn. 15 f. mwN). Denn für eine solche selbstbezogene Reaktion geben die Feststellungen keinen Anhalt. Im Gegenteil erscheint ein derartiger egoistischer Anlass für die emotionale Zerrüttung der Angeklagten angesichts ihrer desolaten psychischen Verfassung im Tatzeitraum, der mit einer erheblichen Vernachlässigung auch eigener Belange, etwa ihrer Körperhygiene, und einer Gleichgültigkeit gegenüber der eigenen Lebenssituation einherging, eher fernliegend. Die Strafkammer brauchte sich daher mit der von der Staatsanwaltschaft vorgebrachten Alternativhypothese nicht ausdrücklich auseinanderzusetzen.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 648

Bearbeiter: Fabian Afshar