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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1319

Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 3 StR 308/23, Beschluss v. 05.09.2023, HRRS 2023 Nr. 1319


BGH 3 StR 308/23 - Beschluss vom 5. September 2023 (LG Aurich)

Schwerer sexueller Missbrauch von Kindern (Strafzumessung; Gesetzesänderung).

§ 2 StGB; § 176a Abs. 2 aF; § 176c Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Die gesetzliche Strafandrohung für Taten des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern ist nach der umfangreichen Gesetzesänderung zum 1. Juli 2021 identisch geblieben. Sowohl § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB aF als auch § 176c Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a StGB sehen eine Freiheitsstrafe von nicht unter zwei Jahren vor.

2. Dieser Strafrahmen gab und gibt damit die generelle Vorbewertung des für den Tatbestand typischen Handlungsunrechts wieder; er definiert den abgegrenzten Bereich, aus dem das Tatgericht mit Blick auf die konkrete Tat und den in ihr zum Ausdruck gekommenen individuellen Unrechts- und Schuldgehalt unter Berücksichtigung der allgemeinen Strafzumessungskriterien die konkrete Strafe nach § 46 StGB zu entnehmen hat.

3. Der Umstand, dass beim Straftatbestand des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern nunmehr die bisherige Regelung für minder schwere Fälle gestrichen ist, lässt insoweit keine abweichende generelle Vorbewertung erkennen und rechtfertigt für sich genommen nicht die Annahme, dass der Gesetzgeber das für den Tatbestand typische Handlungsunrecht nunmehr anders definiert oder höher bewertet als zuvor.

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Aurich vom 3. Mai 2023 in den Aussprüchen über die Einzelstrafen zu den Taten II.18. bis II.30. der Urteilsgründe dahin geändert, dass diese auf jeweils zwei Jahre und sechs Monate festgesetzt werden.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

3. Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die den Nebenklägerinnen im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in 31 Fällen und sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen in 135 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt. Die auf die Rüge der Verletzung materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten führt zu der aus der Beschlussformel ersichtlichen Änderung von Einzelstrafen in 13 der abgeurteilten Fälle. Im Übrigen ist das Rechtsmittel unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.

1. Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen verging sich der Angeklagte im Zeitraum zwischen Dezember 2019 und Juli 2022 regelmäßig sexuell an den in den Jahren 2011 und 2016 geborenen Nebenklägerinnen, den leiblichen Töchtern seiner damals mit ihm in eheähnlicher Gemeinschaft lebenden Partnerin. Unter anderem näherte er sich einem immer gleichen Ablauf folgend zu insgesamt 30 Gelegenheiten dem älteren Mädchen und führte ihm im Rahmen eines sexuellen Geschehens mindestens einen Finger in die Scheide ein.

Von diesen 30 Fällen des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen fanden 17 Taten vor dem 1. Juli 2021 statt (Fälle II.1. bis II.17. der Urteilsgründe). Bei ihnen hat das Landgericht zutreffend den zur Tatzeit geltenden Straftatbestand des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern nach § 176a Abs. 2 Nr. 1, § 176 Abs. 1 StGB herangezogen, denn der durch das Gesetz zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt gegen Kinder vom 16. Juni 2021 (BGBl. I S. 1810, 1811) zum 1. Juli 2021 eingeführte § 176c Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a StGB ist nicht milder (§ 2 Abs. 1 und 3 StGB). Hier hat es jeweils Einzelfreiheitsstrafen von zwei Jahren und sechs Monaten verhängt. Von minder schweren Fällen gemäß § 176a Abs. 4 StGB aF ist es nicht ausgegangen.

Die übrigen 13 Taten beging der Angeklagte nach dem 1. Juli 2021 (Fälle II.18. bis II.30. der Urteilsgründe). Hierfür hat die Strafkammer den Strafrahmen des zum 1. Juli 2021 in Kraft getretenen § 176c Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a StGB angewendet und Einzelfreiheitsstrafen von je drei Jahren ausgeurteilt. Zur Begründung der im Vergleich zu den Vortaten um sechs Monate höheren Strafen führt das Urteil aus, dass die Wertung zu berücksichtigen sei, die der Gesetzgeber durch die Abschaffung des minder schweren Falls des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern zum Ausdruck gebracht habe.

2. Diese Strafzumessungserwägung hält rechtlicher Überprüfung nicht stand. Der umfangreichen Gesetzesänderung zum 1. Juli 2021 liegt zwar die Wertung des Gesetzgebers zugrunde, dass es eines besseren Schutzes von Kindern gegen sexuelle Gewalt bedarf (s. BT-Drucks. 19/23707, S. 21). Er hat sich deshalb unter anderem gehalten gesehen, mehrere Strafrahmen der §§ 176 ff. StGB zu verschärfen. Insbesondere ist der Grundtatbestand des einfachen sexuellen Missbrauchs von Kindern zu einem Verbrechen hochgestuft worden (vgl. § 176 Abs. 1 StGB aF - Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren - und § 176 Abs. 1 StGB nF - Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr). Damit sollte „ein klares Signal gesetzt werden, dass sexualisierter Gewalt gegen Kinder mit aller Kraft entgegengetreten wird“ (BT-Drucks. 19/23707, S. 22).

Die gesetzliche Strafandrohung für Taten des hier maßgeblichen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern ist nach der Reform jedoch identisch geblieben. Sowohl § 176a Abs. 2 Nr. 1 StGB aF als auch § 176c Abs. 1 Nr. 2 Buchst. a StGB sehen eine Freiheitsstrafe von nicht unter zwei Jahren vor. Dieser Strafrahmen gab und gibt damit die generelle Vorbewertung des für den Tatbestand typischen Handlungsunrechts wieder; er definiert den abgegrenzten Bereich, aus dem das Tatgericht mit Blick auf die konkrete Tat und den in ihr zum Ausdruck gekommenen individuellen Unrechts- und Schuldgehalt unter Berücksichtigung der allgemeinen Strafzumessungskriterien die konkrete Strafe nach § 46 StGB zu entnehmen hat (vgl. BVerfG, Urteil vom 20. März 2002 - 2 BvR 794/95, BVerfGE 105, 135, 164).

Der Umstand, dass beim Straftatbestand des schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern nunmehr die bisherige Regelung für minder schwere Fälle gestrichen ist, lässt keine abweichende generelle Vorbewertung erkennen. Zur Begründung für diesen Schritt hat der Gesetzgeber ausgeführt, er erachte das in der Qualifikation vertypte Unrecht für so hoch, dass das Absehen von einer Regelung für minder schwere Fälle nicht unangemessen sei. Das Unrecht der Tat werde sich auf diese Weise stärker als bisher in den verhängten Strafmaßen widerspiegeln (vgl. BT-Drucks. 19/23707, S. 22, 40). Dies bedeutet aber nicht, dass der Gesetzgeber das für den Tatbestand typische Handlungsunrecht nunmehr anders definiert oder höher bewertet als zuvor. Ebenso wenig hat er die Anforderungen für die Erfüllung des Tatbestands verändert (vgl. BGH, Urteil vom 18. Januar 2023 - 5 StR 218/22, NStZ-RR 2023, 139, 140).

Dass sich der Gesetzgeber generell gehalten gesehen hat, Kinder in ihrer sexuellen Selbstbestimmung besser zu schützen, ist danach kein Umstand, der die individuelle Schuld des Täters eines schweren sexuellen Kindesmissbrauchs erhöht. Die hier vom Landgericht als bestimmend gewerteten Strafzumessungsgründe - die fehlenden Vorstrafen des Angeklagten einerseits, die von der Nebenklägerin empfundenen Schmerzen, ihr junges Alter und die gleichzeitige Verwirklichung des § 174 Abs. 1 Nr. 3 StGB andererseits - entfalten nach dem 1. Juli 2021 kein stärkeres oder geringeres Gewicht als zuvor. Mildernde Umstände sind durch die Abschaffung des minder schweren Falls nicht generell ab-, schärfende nicht aufgewertet worden.

Zu unterschiedlichen Strafmaßen zwischen Alt- und Neufällen bei gleichbleibendem Tatbild hätte es vor allem dann kommen können, wenn das Landgericht die 30 Taten als vom Durchschnitt der gewöhnlich vorkommenden Fälle in einem solchen Maße abweichend bewertet hätte, dass in den alten Fällen die Anwendung des Ausnahmestrafrahmens geboten gewesen wäre. Hierfür herangezogene mildernde Umstände hätten (allein) dann und lediglich in den Altfällen nur noch mit geringerem Gewicht in die konkrete Strafzumessung einfließen dürfen (st. Rspr.; s. etwa BGH, Beschlüsse vom 18. Dezember 2019 - 2 StR 512/19, NStZ-RR 2020, 204, 205; vom 4. Februar 2014 - 3 StR 452/13, juris). Das Landgericht hat die Taten jedoch nach umfassender Abwägung nicht als im Vergleich zum Durchschnittsfall minder schwer eingestuft.

3. Die Einzelstrafen in den Fällen II.18. bis II.30. der Urteilsgründe sind nach allem in analoger Anwendung von § 354 Abs. 1 StPO auf das Strafmaß herabzusetzen, welches das Landgericht bei ansonsten gleichbleibenden Tatbildern und Strafzumessungsumständen für die Fälle II.1. bis II.17. der Urteilsgründe ausgeurteilt hat, nämlich Freiheitsstrafe von jeweils zwei Jahren und sechs Monaten.

4. Die von der Strafkammer festgesetzte Gesamtfreiheitsstrafe kann bestehen bleiben. In Anbetracht der Einsatzstrafe von drei Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe für einen Fall des Beischlafs mit dem damals achtjährigen Tatopfer, insgesamt 165 weiterer Einzelfreiheitsstrafen von mindestens einem Jahr bis zu zwei Jahren und sechs Monaten sowie einem Tatzeitraum, der sich über gut zweieinhalb Jahre erstreckte, ist auszuschließen, dass das Landgericht auf eine geringere Gesamtfreiheitsstrafe erkannt hätte, wenn es die 13 nunmehr unwesentlich herabgesetzten Freiheitsstrafen rechtsfehlerfrei bemessen hätte.

5. Der nur geringfügige Teilerfolg der Revision rechtfertigt es nicht, den Angeklagten gemäß § 473 Abs. 4 StPO teilweise von den durch sein Rechtsmittel entstandenen Kosten und Auslagen freizustellen.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 1319

Bearbeiter: Fabian Afshar/Karsten Gaede