HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 13
Bearbeiter: Christian Becker
Zitiervorschlag: BGH, 5 StR 468/19, Urteil v. 27.11.2019, HRRS 2020 Nr. 13
Die Revision der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Berlin vom 10. April 2019 wird verworfen.
Die Kosten des Rechtsmittels und die hierdurch dem Beschuldigten entstandenen notwendigen Auslagen werden der Staatskasse auferlegt.
Das Landgericht hat im Sicherungsverfahren die Unterbringung des Beschuldigten in einem psychiatrischen Krankenhaus abgelehnt. Die hiergegen gerichtete und mit der Sachrüge geführte Revision der Staatsanwaltschaft, die vom Generalbundesanwalt vertreten wird, bleibt ohne Erfolg.
1. Nach den Feststellungen des Landgerichts leidet der Beschuldigte seit 1999 an paranoider Schizophrenie mit chronisch progredientem Verlauf. Dabei kommt es zu psychotischem Erleben, Antriebssteigerung, Distanzminderung, aggressivem Verhalten und Größenwahnideen. Im Mittelpunkt der Erkrankung steht ein systematisierter Wahn, bei dem sich der Beschuldigte für Gott, den Kriegsgott Wotan, einen Silberdrachen als Retter der Welt oder für den Befehlsgeber der Bundeskanzlerin hält.
Der Beschuldigte ist krankheitsbedingt nicht mehr arbeitsfähig und war bereits mehrfach stationär in der Psychiatrie aufgenommen. Eine umfassende Betreuung ist eingerichtet. Er ist 2007 wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung zu einer Geldstrafe verurteilt worden, daneben seit 2004 wegen Diebstahlstaten und Erschleichens von Leistungen zu Geldstrafen und einer zweimonatigen Freiheitsstrafe, zudem 2009 auch wegen räuberischen Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten, die er nach Bewährungswiderruf verbüßen musste.
Krankheitsbedingt kam es zu folgenden vier Anlasstaten, bei denen die Einsichtsfähigkeit des Beschuldigten jeweils aufgehoben war:
a) Im Dezember 2012 war der Beschuldigte bei Schneewetter und Kälte verwirrt und barfuß in Berlin unterwegs, weshalb er nach dem PsychKG in der Psychiatrie in Spandau untergebracht wurde. Ohne Erlaubnis verließ er die Station am 29. Dezember 2012 und ging in ein Einkaufszentrum. Dort sah er eine abgestellte Babyschale mit einem drei Wochen alten Säugling und nahm diese in einem unbeobachteten Moment an sich. Wahnbedingt nahm er an, es handele sich um sein eigenes Kind, das entführt worden sei. Auf dem Weg zum Ausgang holten die besorgten Eltern den Beschuldigten ein und nahmen ihm die Schale mit dem Baby wieder ab. Die Mutter des Kindes wurde durch diesen Vorfall seelisch stark mitgenommen.
b) Im Januar 2015 befand sich der Beschuldigte auf eigenen Wunsch wieder stationär in der Psychiatrie im Klinikum Spandau. Wahnbedingt glaubte er, dass das Krankenhaus ein Hexenhaus sei und er die Hexen verbrennen müsse. Unterhalb des Waschbeckens entzündete er mehrere Papierhandtücher mit einem Feuerzeug. Hierdurch wurde der Brandmelder ausgelöst; anschließend wurde das Feuer von Bediensteten gelöscht. Die Verrußungen an Wand- und Bodenfliesen konnten von einer Reinigungskraft beseitigt werden.
c) Kurze Zeit später befand sich der akut psychotische Beschuldigte im Isolationszimmer des Krankenhauses, in das er wegen seines auffälligen psychischen Zustandes verbracht worden war. Mit einem ihm offensichtlich belassenen weiteren Feuerzeug zündete er dort auf einem Tisch einen Kopfkissenbezug an, der überwiegend verbrannte. Das Pflegepersonal löschte den Brand mittels eines Feuerlöschers. In einer Zimmerecke oberhalb des Tischs entstanden Rußanhaftungen, die jedoch die Brauchbarkeit des Raums nicht beeinträchtigten.
d) Im Mai 2015 befand sich der akut psychotische Beschuldigte morgens auf dem U-Bahnhof Krumme Lanke in Berlin-Zehlendorf. Als sich ein Fahrgast eine Fahrkarte zog, schrie der Beschuldigte aggressiv in dessen Richtung. Anschließend ging er dem Mann hinterher und pöbelte ihn weiter an. Als deshalb Polizeibeamte kamen und ihn überprüfen wollten, reagierte er auf deren Aufforderungen nicht, sondern ging mit geballten Fäusten auf die Polizeibeamten zu, wobei er eine länglich gefaltete Tüte waagerecht in der einen Hand hielt (Inhalt: eine Sektflasche, Feuerzeuge, eine Glasscherbe, ein Handspiegel, ein Kugelschreiber). Als die Polizeibeamten ihn an die Wand gedrückt hatten und durchsuchen wollten, versuchte er sich plötzlich loszureißen und trat mehrfach in Richtung der Beine eines der Polizisten. Er stemmte sich mit aller Kraft gegen das Festhalten, schrie lautstark, begann, um sich zu spucken, und versuchte, den anderen Beamten zu beißen. Verletzt wurden die Polizisten nicht.
Neben diesen verfahrensgegenständlichen Taten kam es noch zu folgenden Vorfällen, bei denen jeweils die Steuerungsfähigkeit des Beschuldigten krankheitsbedingt aufgehoben war und hinsichtlich derer nach § 154 Abs. 1 StPO oder - mangels Strafantrages und mangels öffentlichen Interesses an der Strafverfolgung - nach § 170 Abs. 2 StPO verfahren worden ist:
Ab November 2015 war der Beschuldigte auf zivilrechtlicher Grundlage in einer geschlossenen Therapieeinrichtung untergebracht. Im April 2017 wurde er von einer Mitpatientin massiv beleidigt. Er schubste sie daraufhin und attackierte sie mit Schlägen Richtung Kopf und Hals, bevor das Pflegepersonal beide trennte. Wenige Tage später schrie der Beschuldigte im Aufenthaltsraum laut herum und schlug mit einem Stuhl eine Fensterscheibe ein, woraufhin diese zerbrach. Der Beschuldigte zog sich eine Schnittverletzung an der Hand zu. Anschließend versuchte er, eine Couch hochzuheben und eine zweite Fensterscheibe einzuschlagen, was aber misslang.
Im August 2017 geriet der Beschuldigte aus ungeklärtem Grund mit einer Mitpatientin in Streit, in dessen Verlauf er sie mit mindestens zwei Faustschlägen gegen Kopf und Rücken traf, wodurch sie Schmerzen erlitt. Im September 2017 störte eine Mitpatientin den Beschuldigten durch andauernde Ballwürfe an seine Zimmerwand. Weil sie nicht aufhörte, kam es zum Streit, wobei der Beschuldigte ihr mit der Faust ins Gesicht schlug. Im Oktober 2017 sollte sich der Beschuldigte nach einem Ausgang einer Eingangs- und Taschenkontrolle unterziehen, womit er nicht einverstanden war. Er versuchte, die Pflegekraft mit dem Bauch zur Seite zur stoßen, was misslang. Anschließend schlug er mindestens viermal mit der Faust in Richtung Kopf der Frau, die sich wegdrehte und von einem Schlag am Hinterkopf getroffen wurde.
2. Das Landgericht hat keine Wahrscheinlichkeit höheren Grades gesehen, dass der Beschuldigte erhebliche rechtswidrige Taten begehen wird, und deshalb seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus abgelehnt.
Das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft bleibt erfolglos.
1. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus gemäß § 63 StGB setzt voraus, dass der Unterzubringende bei der Begehung der Anlasstat auf Grund eines psychischen Defekts schuldunfähig (§ 20 StGB) oder vermindert schuldfähig (§ 21 StGB) war und die Tatbegehung hierauf beruht. Daneben muss eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades bestehen, der Täter werde infolge seines fortdauernden Zustands in Zukunft erhebliche rechtswidrige Taten begehen, durch welche die Opfer seelisch oder körperlich erheblich geschädigt oder erheblich gefährdet werden oder schwerer wirtschaftlicher Schaden angerichtet wird; die zu erwartenden Taten müssen schwere Störungen des Rechtsfriedens besorgen lassen. Die notwendige Prognose ist auf der Grundlage einer umfassenden Würdigung der Persönlichkeit des Täters, seines Vorlebens und des von ihm begangenen Anlassdelikts zu entwickeln; sie muss sich auch darauf erstrecken, welche rechtswidrigen Taten von dem Beschuldigten drohen und wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist. Neben der sorgfältigen Prüfung dieser Anordnungsvoraussetzungen ist das Tatgericht auch verpflichtet, die wesentlichen Gesichtspunkte in den Urteilsgründen so umfassend darzustellen, dass das Revisionsgericht in die Lage versetzt wird, die Entscheidung nachzuvollziehen (st. Rspr., vgl. nur BGH, Urteile vom 13. Dezember 2017 - 5 StR 388/17, und vom 11. Oktober 2018 - 4 StR 195/18, NStZ-RR 2019, 41 mwN).
2. Diesen Anforderungen werden die Urteilsgründe gerecht.
Das gilt namentlich für die von der Beschwerdeführerin beanstandete Gefährlichkeitsprognose.
a) Das Landgericht hat dazu ausgeführt, gegen eine Gemeingefährlichkeit spreche, dass sich der Zustand des Beschuldigten seit seiner Aufnahme in eine andere stationäre Einrichtung ab Dezember 2017 in Verbindung mit der fortgeführten medikamentösen Dauerbehandlung deutlich gebessert habe. Der Wahn sei nach den überzeugenden Angaben des Sachverständigen weiter zurückgedrängt worden, womit deutliche Fortschritte in Krankheits- und Behandlungseinsicht einhergingen. Auch sei es dem an die Institutsambulanz des Klinikums Spandau angebundenen Beschuldigten gelungen, ein Kriseninstrumentarium zu entwickeln, so dass er, wenn er sich schlecht fühle, aus eigenem Antrieb heraus die Klinik aufsuche. Wie der Sachverständige näher ausgeführt habe, sei die erneute Begehung von den Anlasstaten entsprechenden Delikten aus psychotischem Erleben heraus zwar möglich. Konkret seien solche angesichts der länger zurückliegenden Tatzeiten und des weit zurückgedrängten Wahns aber nicht zu erwarten.
Die insoweit beachtlichen Vorstrafen wegen versuchter gefährlicher Körperverletzung und räuberischen Diebstahls lägen zehn bis zwölf Jahre zurück und seien hinsichtlich der aktuellen Gefährlichkeit aufgrund der Verbesserung des Gesundheitszustandes nicht mehr aussagekräftig. Bei den Vorfällen im Jahr 2017 sei schließlich zu beachten, dass sie unter destabilisierender mehrfacher Medikamentenumstellung - ohne dass es zu erheblichen Folgen gekommen sei - in einer geschlossenen Einrichtung gegen ihn provozierende Mitpatienten oder Pflegepersonal verübt worden seien. Seitdem habe sich der psychische Zustand des Beschuldigten auch angesichts der Medikation in Depotform und der Entwicklung eines bewährten Kriseninstrumentariums weiter deutlich stabilisiert und verbessert.
b) Damit hat das Landgericht im Einklang mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung bei der Gefährlichkeitsprognose den richtigen rechtlichen Maßstab angelegt und die relevanten Faktoren in seine Prüfung eingestellt (vgl. aber zu Gewaltdelikten gegenüber Mitpatienten BGH, Beschluss vom 24. Oktober 2019 - 5 StR 410/19). Insbesondere hat es beachtet, dass die bloße Möglichkeit der Begehung erheblicher rechtswidriger Taten die Anordnung der besonders schwerwiegenden Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nicht rechtfertigen kann (vgl. BGH, Urteil vom 22. April 2015 - 2 StR 393/14, NStZ-RR 2015, 306, 307; BVerfG, Beschluss vom 22. August 2017 - 2 BvR 2039/16).
Entgegen der Auffassung der Revision hat das Landgericht dabei nicht verkannt, dass es für die Entscheidung, ob eine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus anzuordnen ist, nicht darauf ankommt, ob die vom Täter (aktuell noch) ausgehende Gefahr für die Allgemeinheit durch eine konsequente medizinische Behandlung oder andere Maßnahmen außerhalb des Maßregelvollzugs abgewendet werden kann. Ein derartiges täterschonendes Mittel würde erst bei der Frage der Aussetzung der Vollstreckung der Maßregel zur Bewährung Bedeutung erlangen können (vgl. BGH, Urteil vom 22. Mai 2019 - 5 StR 683/18 mwN).
Eine solche fortbestehende Gefahr hat das Landgericht indes nicht angenommen. Vielmehr ist es zu dem Ergebnis gelangt, dass dem Beschuldigten aufgrund seiner Entwicklung in den letzten beiden Jahren schon keine die Maßregel nach § 63 StGB rechtfertigende Gefährlichkeitsprognose mehr gestellt werden könne. Dass die Strafkammer in diesem Zusammenhang auch auf die Erfolge der derzeitigen Behandlung, die zuverlässige Depotmedikation und die gute Betreuung des Beschuldigten als gefahrmindernde Umstände abgestellt hat, ist dabei nicht zu beanstanden (vgl. BGH aaO).
HRRS-Nummer: HRRS 2020 Nr. 13
Externe Fundstellen: StV 2021, 244
Bearbeiter: Christian Becker