HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 526
Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel
Zitiervorschlag: BGH, 2 StR 393/14, Urteil v. 22.04.2015, HRRS 2015 Nr. 526
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Bonn vom 13. Januar 2014 im Ausspruch über die Maßregel mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Die weiter gehende Revision des Angeklagten wird als unbegründet verworfen.
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in 15 Fällen, hiervon in elf Fällen in Tateinheit mit schwerem sexuellen Missbrauch von Kindern, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet. Die dagegen gerichtete, auf die Sachrüge gestützte Revision führt zur Aufhebung der Maßregel; im Übrigen ist sie unbegründet, weil die Nachprüfung des Schuld- und Strafausspruchs keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten erkennen lässt.
Dem Urteil liegen folgende Feststellungen und Wertungen zugrunde:
1. Der Angeklagte leidet seit frühester Kindheit an einer Schwerhörigkeit sowie einer leichten bis mittelgradigen Intelligenzminderung (Gesamt-IQ 49). 2004 heiratete er die in Russland lebende Mutter der am 22. November 1995 geborenen Geschädigten. Während die Mutter bald nach Deutschland übersiedelte und in die Wohnung des Angeklagten einzog, konnte die Geschädigte ihrer Mutter erst im Sommer 2007 folgen. Die Geschädigte ist wie ihre Mutter gehörlos und beherrschte zunächst nur die russische Gebärdensprache.
Bereits eine Woche nach ihrer Ankunft fragte der Angeklagte die Geschädigte mittels Gebärden, ob sie mit ihm "Sex machen" wolle. In der Folgezeit rieb er wiederholt seinen erigierten Penis zwischen den nackten Gesäßhälften der Geschädigten. Spätestens seit Herbst 2008 führte er regelmäßig, mindestens aber in 15 Fällen, den vaginalen Geschlechtsverkehr mit seiner Stieftochter durch; in einem Fall erfolgte zudem Oralverkehr, in einem weiteren Fall versuchter Analverkehr (Fälle II. 1. bis 15. der Urteilsgründe), wobei die Geschädigte in vier Fällen nicht ausschließbar bereits 14 Jahre alt war (Fälle II. 10. bis 13. der Urteilsgründe).
Der Angeklagte hat das Tatgeschehen im Wesentlichen eingeräumt, wobei er aber die Initiative hierfür der Geschädigten zugeschrieben hat, die ihn "verliebt gemacht" habe.
2. Das sachverständig beratene Landgericht ist davon ausgegangen, dass die Steuerungsfähigkeit des Angeklagten bei Begehung der Taten aufgrund der bei ihm bestehenden Intelligenzminderung, die in ihrem Schweregrad das Eingangsmerkmal des "Schwachsinns" erfülle, erheblich vermindert gewesen sei (§ 21 StGB). Die Unterbringung des Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus habe angeordnet werden müssen. Aufgrund der weiterhin bestehenden Intelligenzminderung seien in jedem Fall ähnlich gelagerte, schwerwiegende Straftaten zu erwarten.
Die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus nach § 63 StGB hält rechtlicher Überprüfung nicht stand.
1. Das Landgericht hat den für die Annahme erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit vorausgesetzten ursächlichen symptomatischen Zusammenhang der von dem Sachverständigen diagnostizierten leichten bis mittelgradigen Intelligenzminderung mit dem Tatgeschehen nicht ausreichend belegt.
Die Frage, ob die Steuerungsfähigkeit bei Tatbegehung aufgrund einer festgestellten Störung im Sinne des § 21 StGB erheblich vermindert war, ist tatsachengestützt zu begründen. Dies erfordert es, sowohl konkrete Feststellungen zum Ausmaß der vorhandenen Störung zu treffen als auch ihre Auswirkungen auf die Tat darzulegen. Geboten ist insbesondere eine Auseinandersetzung damit, ob in der Person des Angeklagten letztlich nicht nur Eigenschaften und Verhaltensweisen hervortreten, die sich im Rahmen dessen halten, was bei voll schuldfähigen Menschen anzutreffen und übliche Ursache für strafbares Verhalten ist (vgl. Senatsbeschluss vom 19. Februar 2015 - 2 StR 420/14 mwN).
Daran fehlt es hier. Die Strafkammer hat zwar dargelegt, dass der Angeklagte an einem unter die Eingangsmerkmale des § 20 StGB fallenden krankhaften dauerhaften Zustand leidet. Sie hat es aber versäumt, in einer für das Revisionsgericht nachvollziehbaren Weise zu erörtern, dass und wie sich dieser Zustand in der konkreten Tat ausgewirkt hat (vgl. BGH, Beschluss vom 15. Juli 1997 - 4 StR 303/97, NStZ-RR 1998, 106).
Das Landgericht hat insoweit "in Übereinstimmung" mit dem Sachverständigen lediglich ausgeführt, der Angeklagte sei aufgrund seiner Intelligenzminderung "nur schwer" in der Lage gewesen, aus seiner (erhalten gebliebenen) Unrechtseinsicht "die Schlussfolgerung zu ziehen, keine sexuellen Handlungen mit seiner Stieftochter zu begehen". Er sei in der Fähigkeit, seinen sexuellen Trieb und die Befriedigung seiner sexuellen Bedürfnisse zu kontrollieren, erheblich beeinträchtigt gewesen.
Diese knappen Ausführungen lassen nicht erkennen, auf welcher Tatsachengrundlage die Annahme des Sachverständigen - und ihm folgend des Tatgerichts - beruht, dass die Missbrauchstaten auf die Intelligenzminderung und nicht etwa auf andere Ursachen, wie zum Beispiel eine sexuelle Präferenz des Angeklagten, zurückgehen. Überhaupt fehlen Ausführungen dazu, welchen Einfluss die Intelligenzminderung auf die Handlungsmöglichkeiten des Angeklagten in den konkreten Tatsituationen hatte. Auch im Hinblick auf die Erheblichkeit der Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit fehlt jede tatbezogene Betrachtung.
Auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen lässt sich daher nicht die Annahme rechtfertigen, der Angeklagte habe aufgrund seiner Intelligenzminderung bei allen Taten jeweils sicher im Zustand erheblich verminderter Steuerungsfähigkeit gehandelt.
2. Auch die Gefährlichkeitsprognose wird durch die bisherigen Feststellungen nicht getragen.
a) Die der Entscheidung der Strafkammer zugrunde gelegte Bewertung des Sachverständigen, dass aufgrund der Diskrepanz zwischen körperlicher sexueller Reife und sozialer Kompetenz des Angeklagten in jedem Fall ähnlich gelagerte, schwerwiegende Straftaten zu erwarten seien, ist nicht im Einzelnen mit Tatsachen belegt.
Richten sich Straftaten, aufgrund derer die Unterbringung angeordnet wird, nur gegen eine bestimmte Person oder haben sie in der Beziehung zu dieser Person ihre alleinige Ursache, so bedarf die Annahme, dass der Täter für die Allgemeinheit gefährlich ist, genauer Prüfung und Darlegung aufgrund konkreter tatsächlicher Feststellungen (vgl. BGH, Urteil vom 9. November 1989 - 4 StR 342/89, NZV 1990, 77 mwN; Senatsbeschluss vom 4. Oktober 2006 - 2 StR 349/06, NStZ 2007, 29). Das Landgericht hat insoweit lediglich ausgeführt, dass die Möglichkeiten des Angeklagten, Einfluss und Eindruck auf erwachsene Frauen als mögliche Sexualpartnerinnen auszuüben, wegen seiner Intelligenzminderung erheblich eingeschränkt seien, weshalb eine Verschiebung seiner sexuellen Bedürfnisse auf schwächere Bezugspersonen in Gestalt von jungen Mädchen weiterhin zu befürchten sei.
Dabei hat das Gericht schon nicht berücksichtigt, dass der zum Zeitpunkt der Hauptverhandlung 38jährige und nicht vorbestrafte Angeklagte seit 2004 verheiratet ist und mit seiner Frau eine gemeinsame, 2008 geborene Tochter hat. Worauf die Annahme der Kammer gründet, dass die Möglichkeiten des Angeklagten, erwachsene Sexualpartnerinnen zu finden, tatsächlich eingeschränkt sind, wird nicht ausgeführt.
Aber auch die Bewertung, dass eine Verschiebung seiner sexuellen Bedürfnisse auf junge Mädchen weiterhin zu befürchten sei, lässt eine Erörterung tatspezifischer Umstände vermissen; denn bei der durch die Missbrauchstaten Geschädigten handelte es sich um die mit dem Angeklagten in einem Haushalt lebende Stieftochter, die zudem gehörlos ist und erst unmittelbar vor den ersten sexuellen Übergriffen nach Deutschland gekommen war. Tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass der Angeklagte wieder die Gelegenheit haben könnte, entsprechend nachhaltig auf ein solchermaßen schutzbedürftiges junges Mädchen einzuwirken, hat die Strafkammer weder mitgeteilt noch sind solche ersichtlich, zumal auch die jüngere Schwester der Geschädigten schon 2011 aus der Familie genommen und den Eltern die elterliche Sorge entzogen worden ist.
b) Die Ausführungen der Strafkammer lassen zudem besorgen, dass sie bei der Gefährlichkeitsprognose einen unzutreffenden Maßstab zugrunde gelegt hat. Eine Unterbringung nach § 63 StGB kommt nur dann in Betracht, wenn eine Wahrscheinlichkeit höheren Grades für die Begehung künftiger Taten besteht. Die Kammer hat sich insoweit "nach eigener Prüfung" den Ausführungen des Sachverständigen angeschlossen, der davon ausgegangen ist, dass "in jedem Fall" ähnlich gelagerte Straftaten zu erwarten seien. Sie ist dann mit ergänzenden Erwägungen zu dem Ergebnis gelangt, dass Missbrauchstaten gegen junge Mädchen weiterhin "zu befürchten" seien, ohne sich zu dem Grad der Wahrscheinlichkeit überhaupt zu verhalten und diesen tatsachengestützt zu begründen.
3. Der Senat hebt den Maßregelausspruch mit den zugrunde liegenden Feststellungen auf. Der neue Tatrichter wird sich naheliegender Weise unter Heranziehung eines anderen Sachverständigen erneut mit der Intelligenzminderung des Angeklagten und ihren Auswirkungen auf die Schuldfähigkeit auseinanderzusetzen haben.
Schuld- und Strafausspruch können bestehen bleiben. Der Senat schließt aus, dass sich dabei Feststellungen ergeben könnten, die zu einer Schuldunfähigkeit des Angeklagten führen könnten. Denn das Landgericht hat auf breiter Tatsachengrundlage es zum einen dargestellt, dass der Angeklagte, der eingeräumt habe zu wissen, dass man seine Stieftochter "nicht anfassen" dürfe, trotz seiner Intelligenzminderung das Unrecht seiner Tat erkannt habe. Es hat zum anderen ausgeführt, dass eine vollständige Aufhebung der Steuerungsfähigkeit ausgeschlossen werden könne, weil den Missbrauchstaten jeweils eine nicht unerhebliche Planung der Ausführung vorausgegangen sei, der Angeklagte zielgerichtet nach Möglichkeiten der Ausführung gesucht und dabei zahlreiche Sicherungstendenzen gezeigt habe.
Soweit die Strafkammer aufgrund der dargelegten rechtfehlerhaften Wertung die Voraussetzungen des § 21 StGB bejaht und die Strafe dem jeweils gemäß § 49 Abs. 1 StGB gemilderten Strafrahmen entnommen hat, ist der Angeklagte hierdurch nicht beschwert (vgl. BGH, Beschluss vom 11. Februar 2015 - 4 StR 498/14, NStZ-RR 2015, 137, 138). Dass ohne die Anordnung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus eine niedrigere Strafe verhängt worden wäre, vermag der Senat auszuschließen (vgl. Senatsbeschluss vom 1. April 2014 - 2 StR 602/13).
HRRS-Nummer: HRRS 2015 Nr. 526
Externe Fundstellen: NJW 2016, 343; NStZ-RR 2015, 306
Bearbeiter: Karsten Gaede und Christoph Henckel