HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 617
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 646/18, Urteil v. 10.04.2019, HRRS 2019 Nr. 617
1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Nürnberg-Fürth vom 24. Juli 2018, soweit es ihn betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben; jedoch bleiben die Feststellungen zum Tatgeschehen - mit Ausnahme der Feststellungen zum Rücktritt - aufrechterhalten.
2. Die weitergehende Revision des Angeklagten wird verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere als Schwurgericht zuständige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat den Angeklagten L. wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren und den nicht revidierenden Mitangeklagten B. wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt. Die zuletzt nur noch auf die Sachrüge gestützte Revision des Angeklagten hat Erfolg; jedoch haben die zum Tatgeschehen getroffenen Feststellungen mit Ausnahme derjenigen zum Rücktritt Bestand.
Nach den Feststellungen des Landgerichts trafen der Angeklagte und der Mitangeklagte, die nach dem vorangegangenen Besuch einer Diskothek alkoholisiert und dadurch in ihrer Steuerungsfähigkeit erheblich beeinträchtigt waren, am 3. Oktober 2017 um kurz nach 6 Uhr in der H. -D. -Straße in N. auf den Nebenkläger S., der gerade sein Fahrzeug geparkt hatte und beim nahegelegenen Bahnhof seine Arbeit als Lokführer aufnehmen wollte. Die Angeklagten forderten den Nebenkläger auf, sie nach Hause zu fahren, worauf sich eine zunächst verbale Auseinandersetzung entwickelte, in deren Verlauf der Nebenkläger den immer aggressiver werdenden Angeklagten androhte, das von ihm mitgeführte Pfefferspray einzusetzen und die Polizei zu rufen, und der Mitangeklagte dem Nebenkläger mehrfach mit den Worten drohte: „wir schlagen dich zusammen“. Als der Nebenkläger an den Angeklagten vorbei ging, um zum Bahnhof zu gelangen, und die Angeklagten ihm erneut drohten: „jetzt prügeln wir Dich zusammen“, sprühte er Pfefferspray nach oben in die Luft, um sich zu verteidigen. Die Angeklagten sprangen daraufhin auf den Nebenkläger zu. Der Mitangeklagte schlug mehrfach mit der Faust in Richtung des Gesichts des Nebenklägers, wobei es diesem gelang, den Schlägen auszuweichen, so dass er nur leicht am Kopf getroffen wurde. Während des Gerangels, in dessen Folge der Mitangeklagte und der Nebenkläger zu Boden gingen, sprühte der Nebenkläger wiederholt Pfefferspray in Richtung des Mitangeklagten. Auf dem Boden fixierte dieser den auf dem Rücken liegenden Nebenkläger, indem er sich so auf ihn legte, dass nur noch sein Kopf- und Schulterbereich frei war. Nun mischte sich der Angeklagte in die körperliche Auseinandersetzung ein, um diese zu beenden. Er schlug mehrfach mit der Faust in Richtung des Gesichts des Nebenklägers, traf jedoch nicht, weil es diesem gelang, den Kopf auf die andere Seite zu drehen. Der Angeklagte ging hierauf um den Nebenkläger herum auf dessen linke Seite und kickte aus Verärgerung über dessen vorangegangenes Verhalten mit voller Wucht mit seinem mit einem Sportschuh beschuhten Fuß gegen das Gesicht des noch immer vom Mitangeklagten am Boden fixierten Nebenklägers. Hierbei hielt er es für möglich, dass der Nebenkläger durch den massiven Fußtritt in sein Gesicht zu Tode kommen könnte, und nahm diese Folge billigend in Kauf.
Durch den Tritt, der den Nebenkläger zwischen linkem Auge und Ohr traf, erlitt dieser eine komplexe Mittelgesichtsfraktur links mit Trümmerbruch der linken Kieferhöhle, des Orbitabodens, der lateralen (seitlichen) Orbitawand links und des linken Jochbogens sowie ausgeprägte Prellmarken und Hämatome im Gesichtsbereich.
Unmittelbar nach dem Tritt rief der Nebenkläger mehrfach laut um Hilfe. „Aufgrund der Hilferufe“ ließ der Angeklagte vom Nebenkläger ab und begann wegzurennen, wobei er dem Mitangeklagten zurief: „D., lauf“. Auch der Mitangeklagte ließ darauf vom Nebenkläger ab und beide Angeklagte rannten ca. einen Kilometer weit davon.
Die Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg; die Verurteilung des Angeklagten hat keinen Bestand. Zwar ist das Landgericht rechtsfehlerfrei von einem bedingt vorsätzlichen Versuch des Totschlags zum Nachteil des Nebenklägers ausgegangen; die Ausführungen, mit denen die Strafkammer einen strafbefreienden Rücktritt des Angeklagten vom Versuch verneint hat, halten jedoch rechtlicher Nachprüfung nicht stand.
1. Das Landgericht, das ersichtlich vom Vorliegen eines unbeendeten Tötungsversuchs ausgegangen ist, hat einen strafbefreienden Rücktritt des Angeklagten vom Versuch der Tötung des Nebenklägers mit der Begründung verneint, der Angeklagte habe die Tatbegehung nicht freiwillig aufgegeben, sondern deshalb, weil der Angeklagte wegen der Hilfeschreie des Nebenklägers das „Tatrisiko“ nicht mehr für vertretbar hielt (UA S. 27). Diese Wertung wird nicht von rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen getragen.
a) Rechtsfehlerfrei ist allerdings der rechtliche Ansatz des Landgerichts, dass ein Rücktritt dann nicht mehr freiwillig ist, wenn der Täter von weiteren Ausführungshandlungen deshalb Abstand nimmt, weil er das mit einer weiteren Tatausführung verbundene Entdeckungsrisiko für nicht mehr vertretbar hält.
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs hängt die Beurteilung der Frage, ob die Aufgabe weiterer, möglicherweise noch zum Erfolg führender Handlungen freiwillig erfolgte, davon ab, ob der Täter aus autonomen Motiven gehandelt hat und subjektiv noch in der Lage war, das zur Vollendung der Tat Notwendige zu tun (vgl. BGH, Urteile vom 28. September 2017 - 4 StR 282/17, StraFo 2018, 31 f. mwN und vom 17. Dezember 1992 - 4 StR 532/92, NStZ 1993, 279 mwN; Beschluss vom 24. Oktober 2018 - 1 StR 452/18 Rn. 7, juris).
Dabei stellt die Tatsache, dass der Anstoß zum Umdenken von außen kommt oder die Abstandnahme von der Tat erst nach dem Einwirken eines Dritten oder einem Verhalten des Geschädigten erfolgt, für sich genommen die Autonomie der Entscheidung des Täters nicht in Frage (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 28. September 2017 - 4 StR 282/17, StraFo 2018, 31 f. und vom 14. April 1955 - 4 StR 16/55, BGHSt 7, 296, 299; Beschluss vom 10. Juli 2013 - 2 StR 289/13, StV 2014, 336 f.). Erst wenn durch von außen kommende Ereignisse aus Sicht des Täters ein Hindernis geschaffen worden ist, das einer Tatvollendung zwingend entgegensteht, ist er nicht mehr Herr seiner Entschlüsse und eine daraufhin erfolgte Abstandnahme von der weiteren Tatausführung als unfreiwillig anzusehen (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 28. September 2017 - 4 StR 282/17, StraFo 2018, 31 f. und vom 14. April 1955 - 4 StR 16/55, BGHSt 7, 296, 299; Beschlüsse vom 7. März 2018 - 1 StR 83/18, NStZ-RR 2018, 169, 170 mwN; vom 3. April 2014 - 2 StR 643/13, NStZ-RR 2014, 241 mwN; vom 26. Februar 2014 - 4 StR 40/14, NStZ-RR 2014, 171, 172 und vom 10. Juli 2013 - 2 StR 289/13, StV 2014, 336 f.).
Dies kann unter anderem dann der Fall sein, wenn unvorhergesehene äußere Umstände dazu geführt haben, dass bei weiterem Handeln das Risiko, angezeigt oder bestraft zu werden, unvertretbar ansteigen würde (vgl. BGH, Urteile vom 28. September 2017 - 4 StR 282/17, StraFo 2018, 31 f. mwN und vom 22. Oktober 2013 - 5 StR 229/13, NStZ-RR 2014, 9, 10; Beschluss vom 19. Dezember 2006 - 4 StR 537/06, NStZ-RR 2007, 136, 137). Eine Erhöhung des Entdeckungsrisikos rechtfertigt aber für sich genommen weder die Annahme eines fehlgeschlagenen Versuchs, noch steht sie grundsätzlich einer Freiwilligkeit im Sinne des § 24 Abs. 1 Satz 1 StGB entgegen, da ein Täter in der Zeit bis zum Eintreffen von feststellungsbereiten Dritten grundsätzlich noch ungehindert weitere Ausführungshandlungen vornehmen kann, ohne dass damit für ihn eine beträchtliche Risikoerhöhung verbunden sein muss (vgl. auch BGH, Beschlüsse vom 7. März 2018 - 1 StR 83/18, NStZ-RR 2018, 169, 170 mwN; vom 24. Oktober 2017 - 1 StR 393/17, StV 2018, 715 f. und vom 20. November 2013 - 3 StR 325/13, NStZ-RR 2014, 105; zu einer beträchtlichen Risikoerhöhung: BGH, Urteil vom 15. September 2005 - 4 StR 216/05, NStZ-RR 2006, 168, 169; Beschlüsse vom 19. Dezember 2006 - 4 StR 537/06, NStZ 2007, 265, 266 und vom 13. Juni 2006 - 4 StR 67/06, NStZ 2006, 685). Verbleibende Zweifel an der Freiwilligkeit des Rücktritts sind grundsätzlich zu Gunsten des Täters zu lösen (vgl. BGH, Urteil vom 28. September 2017 - 4 StR 282/17, StraFo 2018, 31 f.; Beschluss vom 27. Februar 2003 - 4 StR 59/02, NStZ-RR 2003, 199).
b) Die Feststellungen, auf deren Grundlage das Landgericht zu der Überzeugung gelangt ist, dass der Angeklagte das „Tatrisiko“ wegen der Hilfeschreie des Nebenklägers für nicht mehr vertretbar hielt und er deshalb nicht weiter auf den Nebenkläger eingewirkt hat, werden jedoch von der Beweiswürdigung nicht getragen.
aa) Die Beweiswürdigung ist allerdings Sache des Tatrichters (§ 261 StPO). Zu deren Überprüfung ist das Revisionsgericht nur eingeschränkt berufen und in der Lage. Es hat die tatrichterliche Würdigung grundsätzlich hinzunehmen und sich auf die Prüfung zu beschränken, ob die Urteilsgründe Rechtsfehler enthalten. Solche sind namentlich dann gegeben, wenn die Beweiswürdigung lückenhaft, in sich widersprüchlich oder unklar ist oder wenn sie gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstößt (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 20. Dezember 2017 - 2 StR 513/16 Rn. 20, juris; Urteil vom 1. Februar 2017 - 2 StR 78/16, NStZ-RR 2017, 183, 184). Dabei brauchen die Schlussfolgerungen des Tatrichters nicht zwingend zu sein, es genügt, dass sie möglich sind.
Die Urteilsgründe müssen aber ergeben, dass alle Umstände, die die Entscheidung beeinflussen können, in die Beweiswürdigung einbezogen worden sind (vgl. BGH, Urteil vom 29. Juli 1998 - 1 StR 94/98, BGHSt 44, 153, 158 f.; MüKo-StPO/Miebach, § 261 Rn. 108 mwN), und erkennen lassen, dass die Beweiswürdigung auf einer tragfähigen, verstandesmäßig einsehbaren Tatsachengrundlage beruht und dass die vom Gericht gezogenen Schlussfolgerungen nicht lediglich Vermutungen sind, für die es weder eine belastbare Tatsachengrundlage noch einen gesicherten Erfahrungssatz gibt (vgl. BGH, Beschlüsse vom 20. Dezember 2017 - 2 StR 513/16 Rn. 20, juris und vom 8. November 1996 - 2 StR 534/96, BGHR StPO § 261 Überzeugungsbildung 26).
bb) Diesen Anforderungen genügt das landgerichtliche Urteil nicht. Das Landgericht hat sich nur unvollständig beweiswürdigend mit dem Vorstellungsbild des Angeklagten nach Ausführung des Trittes gegen das Gesicht des Nebenklägers auseinandergesetzt. Die Annahme, der Angeklagte habe das Entdeckungsrisiko aufgrund der Schreie des Nebenklägers für unvertretbar hoch gehalten und daher keine andere Möglichkeit als die Flucht gesehen, ist nicht hinreichend belegt.
Allerdings ist im Ansatz nicht zu beanstanden, dass das Landgericht Schlüsse zum Vorstellungsbild des Angeklagten beim Rücktrittsgeschehen aus objektiven Umständen gezogen hat. Das Landgericht hat indes nicht alle für das Vorstellungsbild des Angeklagten maßgeblichen objektiven Umstände in seine Überlegungen einbezogen. Bei der vorliegend gegebenen Tatsituation wäre insbesondere zu erörtern gewesen, ob der Angeklagte von einer weiteren Einwirkung auf den Nebenkläger aus möglichen autonomen Gründen Abstand genommen hat, etwa weil er wegen der einsetzenden Schreie des Nebenklägers über sein Tun erschrocken war oder annahm, dem Nebenkläger bereits genug zugesetzt zu haben. Auch hätte sich das Landgericht hier angesichts der festgestellten Tatumstände (6 Uhr morgens an einem Feiertag im Oktober) und den Ausführungen des Landgerichts hierzu näher mit den örtlichen Verhältnissen und der Frage auseinandersetzen müssen, ob sich in der unmittelbaren Umgebung des Tatorts tatsächlich feststellungsbereite Dritte befanden oder sich nach dem Vorstellungsbild des Angeklagten hätten befinden können, die - durch die Schreie des Geschädigten aufmerksam geworden - das Tatgeschehen und ihn, den Angeklagten, in kürzester Zeit hätten erkennen können. Der Hinweis auf die Nähe zum Bahnhof und das zufällige Eintreffen von zwei Personen nach der Tat genügt insoweit nicht.
c) Die Aufhebung erfasst auch die für sich genommen rechtsfehlerfreie Verurteilung wegen tateinheitlich begangener gefährlicher Körperverletzung (BGH, Beschlüsse vom 7. März 2018 - 1 StR 83/18, NStZ-RR 2018, 169, 170 mwN und vom 12. Januar 2017 - 1 StR 604/16, StV 2017, 672, 673; Urteile vom 17. Juli 2014 - 4 StR 158/14 Rn. 8, juris und vom 20. Februar 1997 - 4 StR 642/96, BGHR StPO § 353 Aufhebung 1).
d) Der neue Tatrichter wird auch die Voraussetzungen der Unterbringung des Angeklagten in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) erneut zu prüfen haben. Die Begründung, mit der das Landgericht das Vorliegen eines Hanges des Angeklagten zum übermäßigen Konsum von alkoholischen Getränken verneint hat, genügt den von der Rechtsprechung hierzu entwickelten Grundsätzen nicht (vgl. BGH, Beschlüsse vom 6. Juli 2018 - 1 StR 261/18 Rn. 7, juris und vom 6. Dezember 2017 - 1 StR 415/17 Rn. 10, NStZ-RR 2018, 105 [nur redaktioneller Leitsatz], jeweils mwN).
e) Der Aufhebung unterliegen auch die vom Landgericht getroffenen Feststellungen. Die Urteilsfeststellungen zur objektiven und subjektiven Tatseite einschließlich des Tatvorsatzes sind jedoch - mit Ausnahme derjenigen zum objektiven Rücktrittsgeschehen und zum diesbezüglichen Vorstellungsbild des Angeklagten - von dem zur Aufhebung des Urteils führenden Rechtsfehler nicht betroffen und haben daher Bestand (§ 353 Abs. 2 StPO).
Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat darauf hin, dass im Fall einer erneuten Verurteilung des Angeklagten im Rahmen der Strafzumessung zugunsten des Angeklagten in den Blick zu nehmen sein wird, dass dieser wegen des verfahrensgegenständlichen Tatgeschehens aus seinem Dienstverhältnis als Zeitsoldat entlassen wurde (vgl. BGH, Beschlüsse vom 4. August 2015 - 3 StR 265/15, wistra 2016, 28 Rn. 9 und vom 15. November 2012 - 3 StR 199/12, wistra 2013, 192 Rn. 3 mwN).
HRRS-Nummer: HRRS 2019 Nr. 617
Externe Fundstellen: NStZ 2020, 81; StV 2020, 77
Bearbeiter: Christoph Henckel/Karsten Gaede