HRRS-Nummer: HRRS 2008 Nr. 660
Bearbeiter: Stephan Schlegel
Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 572/08, Beschluss v. 23.04.2008, HRRS 2008 Nr. 660
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
Damit erledigt sich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung.
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil ein Annahmegrund nicht gegeben ist (§ 93a Abs. 2 BVerfGG). Sie hat keine Aussicht auf Erfolg; denn sie ist unbegründet.
1. Die im Rechtsstaatsprinzip wurzelnde, Verfassungsrang beanspruchende Unschuldsvermutung (vgl. auch Art. 6 Abs. 2 EMRK) enthält - wie auch das Recht des Beschuldigten auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren - keine in allen Einzelheiten bestimmten Ge- und Verbote; ihre Auswirkungen auf das Verfahrensrecht bedürfen vielmehr der Konkretisierung je nach den sachlichen Gegebenheiten. Dies ist grundsätzlich Sache des Gesetzgebers (vgl. BVerfGE 74, 358 <372>; BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Dezember 2004 - 2 BvR 2314/04 -, NStZ 2005, S. 204). Ob und inwieweit mit Blick auf die Unschuldsvermutung von Verfassungs wegen der Widerruf der Strafaussetzung zur Bewährung nach § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StGB wegen einer neuen Straftat regelmäßig voraussetzt, dass der Täter wegen dieser neuen Straftat verurteilt worden ist (vgl. EGMR, Urteil vom 3. Oktober 2002 - 37568/97 - <Böhmer ./. Deutschland>, NJW 2004, S. 43 ff.) ist bisher nicht abschließend entschieden. Teilweise wird vertreten, dass auch eine nicht rechtskräftige Verurteilung ausreicht (vgl. Fischer, StGB, 55. Aufl. 2008, § 56f Rn. 7). Der Widerruf der Strafaussetzung wegen einer neuen Tat des Betroffenen ist aber jedenfalls auch ohne deren rechtskräftige Aburteilung zulässig und widerstreitet insoweit nicht der Unschuldsvermutung, wenn der Betroffene die neue Straftat glaubhaft gestanden hat (BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 9. Dezember 2004 - 2 BvR 2314/04 -, NStZ 2005, S. 204; vgl. OLG Köln, Beschluss vom 9. Juni 2004 - 2 Ws 209/04 -, NStZ 2004, S. 685 f.; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 19. Dezember 2003 - III - 3 Ws 469/03 -, NJW 2004, S. 790; OLG Nürnberg, Beschluss vom 17. Mai 2004 - Ws 558/04, Ws 559/04 -, NZV 2004, S. 540; EGMR, a. a. O., S. 43 <45>).
2. Der Beschwerdeführer beruft sich darauf, dass die Verurteilung noch nicht rechtskräftig sei und dass sein Verhalten seine Wurzeln in einer krankhaften psychischen Disposition habe und er daher schuldunfähig sei. Unabhängig davon, ob und inwieweit ein Widerruf der Strafaussetzung wegen einer neuen Straftat zulässig ist, wenn festgestellt worden ist, dass die neue Tat im Zustand der Schuldunfähigkeit begangen worden ist, begegnet hier der Widerruf der Strafaussetzung keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.
Der Beschwerdeführer hat vor dem Amtsgericht seine erneuten Taten gestanden und wurde daraufhin verurteilt, wobei sein Alkoholmissbrauch und seine psychischen Probleme im Rahmen der Strafzumessung gewürdigt wurden. Zweifel an der Glaubhaftigkeit des Geständnisses sind weder ersichtlich noch vom Beschwerdeführer vorgetragen. Erst im Rahmen der Berufung hat er seine Schuldfähigkeit in Zweifel gezogen. Das Landgericht setzt sich mit dieser erst in der Beschwerdeinstanz gegen den Widerrufsbeschluss des Amtsgerichts vorgetragenen Behauptung des Beschwerdeführers auseinander, er sei bei der Tat möglicherweise eingeschränkt oder gar nicht schuldfähig gewesen. Dafür sieht das Landgericht nach Würdigung des Urteils und des Vorbringens des Beschwerdeführers keine konkreten Anhaltspunkte.
Es ist nicht Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, Entscheidungen der Gerichte in jeder Hinsicht auf die Richtigkeit der getroffenen tatsächlichen Feststellungen, der Interpretation der Gesetze und der Anwendung des Rechts auf den konkreten Fall zu kontrollieren. Vielmehr ist im Verfassungsbeschwerde-Verfahren nur zu prüfen, ob das Gericht Grundrechte oder grundrechtsgleiche Rechte des Beschwerdeführers verletzt hat (vgl. BVerfGE 11, 343 <349>; 79, 372 <376>).
Danach sind die vom Beschwerdeführer angegriffenen Entscheidungen von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden. Die Begründung der angegriffenen Entscheidungen zeigt, dass sich die Gerichte der Bedeutung des Schuldprinzips bewusst waren. Sie haben geprüft, ob ernstliche Zweifel an dem Bestand der neuen Verurteilung bestehen, und dieses verneint. Diese Einschätzung ist nicht offensichtlich fehlerhaft oder widersprüchlich. Die Verfassungsbeschwerde trägt auch keine Gesichtspunkte vor, die die Einschätzung des Landgerichts als willkürlich erscheinen lassen, es lägen keine hinreichenden Anhaltspunkte für eine verminderte Schuldfähigkeit des Beschwerdeführers vor. Hiergegen spricht auch nicht der Beschluss des Landgerichts im parallel geführten Berufungsverfahren, ein Sachverständigengutachten zur Schuldfähigkeit des Beschwerdeführers einzuholen. Der Beweisbeschluss alleine zwingt nicht zu dem Schluss, dass das Landgericht von der Schuldunfähigkeit des Beschwerdeführers ausgehen musste. Anderweitige Tatsachen, die eine Schuldunfähigkeit des Beschwerdeführers als nahe liegend erscheinen lassen, sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
Im Hinblick darauf, dass der Beschwerdeführer die Taten glaubhaft gestanden hat, er in erster Instanz deshalb zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden ist und er erst in der Berufungsinstanz seine Schuldunfähigkeit behauptet, für die das Landgericht derzeit keine konkreten Anhaltspunkte sieht, sind die angegriffenen Entscheidungen verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
Von einer weiteren Begründung wird abgesehen (§ 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG).
Diese Entscheidung ist unanfechtbar.
HRRS-Nummer: HRRS 2008 Nr. 660
Bearbeiter: Stephan Schlegel