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HRRS-Nummer: HRRS 2006 Nr. 495

Bearbeiter: Stephan Schlegel

Zitiervorschlag: BVerfG, 2 BvR 818/05, Beschluss v. 19.04.2006, HRRS 2006 Nr. 495


BVerfG 2 BvR 818/05 (2. Kammer des Zweiten Senats) - Beschluss vom 19. April 2006 (OLG Nürnberg/LG Regensburg/JVA Straubing)

Versagung der Verlegung eines Strafgefangenen in die Justizvollzugsanstalt eines anderen Landes (allgemeines Persönlichkeitsrecht; Resozialisierungsinteresse); Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung (Ausreichen einer Förderung der Resozialisierung; Berücksichtigung sozialer Bindungen; vom Durchschnittsfall abweichende Erschwernisse für familiäre Kontakte; Vertrauenspersonen; finanzielle und gesundheitliche Erschwernisse).

Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 1 Abs. 1 GG; Art. 6 GG; Art. 8 EMRK; § 8 Abs. 1 StVollzG

Leitsätze des Bearbeiters

1. Den Belastungen und Gefährdungen, die der Vollzug einer Freiheitsstrafe für familiären Beziehungen naturgemäß bedeutet, muss die Ausgestaltung des Vollzuges nicht nur mit Rücksicht auf das Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG, sondern auch im Hinblick auf das verfassungsrechtlich geschützte Resozialisierungsinteresse des Gefangenen nach Kräften entgegenzuwirken suchen.

2. Der fachgerichtliche Entscheidungsspielraum ist überschritten, wenn entgegen dem eindeutigen Wortlaut des § 8 Abs. 1 Nr. 1 StVollzG eine Verlegung eines Strafgefangenen nur dann in Betracht kommen soll, wenn sie zur Behandlung oder aus Resozialisierungsgründen unerlässlich ist. Vielmehr kommt eine Verlegung bereits dann in Betracht, wenn die Behandlung des Gefangenen oder seine Eingliederung nach der Entlassung hierdurch gefördert wird.

3. Auch eine von der Anstalt bei der Ermessensentscheidung über eine Verlegung gewählte Leitlinie, nach der eine Verlegung nur in Frage kommt, wenn sie unerlässlich ist, entspricht nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen. Dies jedenfalls insoweit, als dass sich die Anstalt mit der regelförmigen Verschärfung der gesetzlichen Voraussetzungen damit nicht der Verpflichtung entziehen kann, die grundrechtlichen Belange des Betroffen unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles angemessen zu würdigen.

4. Dabei sind auch finanziell oder gesundheitlich bedingte Kontaktschwierigkeiten zu berücksichtigen.

Entscheidungstenor

Der Beschluss des Landgerichts Regensburg vom 23. Februar 2005 - StVK 2/2005 - und der Bescheid der Justizvollzugsanstalt Straubing vom 23. Dezember 2004 - I b - I b1 - 137/1996 - verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Artikel 2 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 1 Absatz 1 des Grundgesetzes. Der Beschluss des Landgerichts wird aufgehoben. Die Sache wird an das Landgericht Regensburg zurückverwiesen. Der Beschluss des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 18. April 2005 - 1 Ws 373/05 - ist damit gegenstandslos.

Der Freistaat Bayern hat dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten.

Damit erledigt sich der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwältin Ursula Groos.

Gründe

I.

Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Versagung der Verlegung eines Strafgefangenen in die Justizvollzugsanstalt eines anderen Landes.

1. Der in der ehemaligen DDR aufgewachsene Beschwerdeführer verbüßt eine lebenslange Freiheitsstrafe in der bayerischen Justizvollzugsanstalt Straubing. Der Zeitpunkt, zu dem eine Aussetzung des Strafrestes nach § 57 a Abs. 1 StGB in Betracht kommt, wird im Dezember 2009 erreicht sein.

Seinen letzten Wohnsitz vor der Inhaftierung hatte der Beschwerdeführer in München. Angehörige in Bayern hat er jedoch nicht. Seine Eltern und sein Bruder leben in Brandenburg, seine Schwester und seine Neffen und Nichten in Sachsen. Seit 2002 ist der Beschwerdeführer verlobt. Seine Verlobte wohnt in Sachsen-Anhalt. Bis Ende 2003 kam es jährlich zu ein bis zwei Besuchsüberstellungen gemäß § 8 Abs. 2 StVollzG in die Justizvollzugsanstalten Leipzig, Dessau und Cottbus. Nachdem der Beschwerdeführer bei der letzten Besuchsüberstellung im Jahr 2003 von einem seiner Besucher unzulässigerweise Bargeld angenommen hatte, wurden ihm zunächst keine Besuchsüberstellungen mehr genehmigt. Erst im Juni 2005 wurde die nächste Besuchszusammenführung bewilligt. Nach Angaben der Vollzugsanstalt ist beabsichtigt, künftig in halbjährlichen Abständen Besuchszusammenführungen zuzulassen.

2. Mit Schriftsatz vom 19. Juli 2004 beantragte der Beschwerdeführer, ihn abweichend vom Vollstreckungsplan in eine Vollzugsanstalt des Landes Sachsen, vorzugsweise in die Justizvollzugsanstalt Torgau, zu verlegen. Der Beschwerdeführer sei in der ehemaligen DDR geboren und habe dort bis 1990 gelebt. Sämtliche Bezugspersonen, mit denen er regelmäßigen Kontakt pflege - seine Verlobte, seine Eltern, der Bruder, die Schwester und die Neffen und Nichten - lebten in den neuen Ländern. In Bayern habe er keinerlei soziale Kontakte. Nach seiner Haftentlassung, mit der er im Dezember 2009 rechne, wolle er seinen Lebensmittelpunkt zusammen mit seiner Verlobten in der Nähe seiner Schwester in Sachsen suchen. Seine Familienangehörigen hätten den Wunsch, ihm bei seiner Wiedereingliederung behilflich zu sein. Teils aus finanziellen oder beruflichen und teils aus gesundheitlichen Gründen sei es ihnen aber nicht möglich, ihn in der Justizvollzugsanstalt Straubing zu besuchen. In Ermangelung sozialer Kontakte könne er in Bayern nicht in selbständigen Lockerungen erprobt werden. Zudem wolle er sich frühzeitig um einen Arbeitsplatz in Sachsen als gelernter CNC-Programmierer bemühen, was ihm von Straubing aus nicht möglich sei.

Auf Anforderung von Nachweisen seitens der Justizvollzugsanstalt reichte der Beschwerdeführer Schreiben von Angehörigen nach. Seine Verlobte erklärte unter Verweis auf Atteste, die der Anstalt bereits vorlägen, dass ihr lange Reisen ärztlich untersagt seien. Im Falle einer Verlegung könne sie den Beschwerdeführer regelmäßig besuchen und ihm auf verschiedene Weisen helfen, unter anderem ihn im Falle einer Urlaubsgewährung bei sich aufnehmen. Die Schwester verwies auf den Anfahrtsweg von 450 Kilometern zur Justizvollzugsanstalt Straubing, der sie an Besuchen hindere, zumal sie, wie durch eine beigefügte Bescheinigung des Arbeitgebers belegt, im Rahmen ihrer Tätigkeit im Gesundheitswesen auch im Rufbereitschaftsdienst arbeite. Im Falle einer Verlegung könne sie ihren Bruder regelmäßiger besuchen und ihn, unter anderem im Rahmen von Lockerungen, beispielsweise durch Unterstützung bei Behördengängen, bei der Arbeitssuche und überhaupt mit Rat und Tat zur Seite stehen. Die Nichte erklärte unter Vorlage einer Kopie des Personal- und des Studentenausweises, dass sie als Studentin die mit der weiten Anfahrt verbundenen hohen Kosten für Besuche bei ihrem Onkel nicht tragen könne; eine Fahrt von ihrem Studienort Dresden nach Straubing und zurück koste 118 Euro. Im Falle einer Verlegung nach Leipzig oder Torgau könne sie den Beschwerdeführer öfter besuchen, was ihr wichtig sei, und besser für ihn da sein.

Mit Bescheid vom 23. Dezember 2004 lehnte die Justizvollzugsanstalt den Verlegungsantrag des Beschwerdeführers ab. Eine Verlegung nach § 8 Abs. 1 StVollzG in eine heimatnahe Vollzugsanstalt sei nur in Ausnahmefällen zulässig, da anderenfalls die Regelung des Vollstreckungsplans mit der Zeit völlig unterlaufen würde. Eine Verlegung zur Aufrechterhaltung persönlicher und familiärer Bindungen komme nur in Betracht, wenn dies als Behandlungsmaßnahme zur Resozialisierung aufgrund besonderer Umstände unerlässlich erscheine. Die durch jede Inhaftierung bedingte räumliche Trennung eines Inhaftierten von seinen Angehörigen sei eine zwangsläufige und unvermeidliche Folge einer jeden Strafverbüßung, die von allen Inhaftierten und ihren Angehörigen gleichermaßen in Kauf genommen und getragen werden müsse. Würde die räumliche Trennung generell als Verlegungsgrund anerkannt, wären ständig darauf gestützte Verlegungen die Folge. Ein reibungsloser Strafvollzug und eine nachträgliche Strafvollstreckung wären dann nicht gewährleistet. Die deshalb zu fordernde Unerlässlichkeit sei vorliegend nicht erkennbar.

3. Gegen diesen Bescheid wandte sich der Beschwerdeführer mit einem Antrag auf gerichtliche Entscheidung, den das Landgericht Regensburg mit Beschluss vom 23. Februar 2005 zurückwies. Grundsätzlich sei eine Freiheitsstrafe in der Justizvollzugsanstalt zu vollstrecken, deren Zuständigkeit sich aus dem Vollstreckungsplan ergebe. Eine Verlegung nach § 8 Abs. 1 Nr. 1 StVollzG komme vor allem dann in Betracht, wenn in der aufnehmenden Einrichtung individuell geeignetere Aus- und Weiterbildungsangebote oder therapeutische Maßnahmen vorhanden seien. Nach dem Resozialisierungsgrundsatz und dem Wiedereingliederungsprinzip sei es zudem zu begrüßen, wenn einem Gefangenen die Möglichkeit zur Aufrechterhaltung seiner familiären Bindungen gegeben werde. § 8 Abs. 1 Nr. 1 StVollzG lasse jedoch einen Wechsel allein aufgrund eines entsprechenden Wunsches des Inhaftierten nicht zu. Als Grund für eine Verlegung reiche es nicht aus, dass durch sie der Kontakt mit Angehörigen erleichtert würde; anderenfalls müsste aus Gründen der Gleichbehandlung einer solchen Vielzahl von Verlegungswünschen Rechnung getragen werden, dass ein geordneter Vollzug gemäß dem Vollstreckungsplan nicht mehr möglich wäre. Ein Anstaltswechsel zur Aufrechterhaltung familiärer Beziehungen komme nur dann in Betracht, wenn dies als Behandlungsmaßnahme zur Resozialisierung unerlässlich erscheine. Dies bedeute, dass besondere, vom Durchschnittsfall abweichende Erschwerungen des Kontakts zu den Angehörigen vorliegen müssten, um eine Verlegung auch unter Berücksichtigung des Gleichheitssatzes und der Vollzugsplanung rechtfertigen zu können. Derartige Umstände seien jedoch hier nicht gegeben. Kontaktschwierigkeiten aufgrund gesundheitsbedingter Erschwernisse oder finanzieller Probleme seien gerade keine besonderen, vom Durchschnittsfall abweichenden Erschwernisse. Solche Schwierigkeiten könnten durch Überstellungen zu Besuchszwecken behoben werden.

4. Die gegen diese Entscheidung erhobene Rechtsbeschwerde verwarf das Oberlandesgericht Nürnberg mit Beschluss vom 18. April 2005 als unzulässig, da die besonderen Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 116 Abs. 1 StVollzG nicht gegeben seien. Die Strafvollstreckungskammer habe die Rechtsprechung der Oberlandesgerichte zu den Voraussetzungen einer Verlegung zutreffend wiedergegeben. Erschwernisse, die durch Anreise und Aufbringung von Reisekosten entstehen, müssten allgemein hingenommen werden. Besonderen Pflichten der Angehörigen, wie dienstlicher Rufbereitschaft, könne durch Ausweichen auf Urlaubstage Rechnung getragen werden.

II.

1. Mit seiner rechtzeitig erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1, Art. 3 Abs. 1 sowie Art. 6 Abs. 1 GG. Ihm drohe der Verlust von Vertrauenspersonen, die bereits während des Strafvollzugs als seelische Stütze für ihn wichtig seien und ihn nach der Entlassung unterstützen wollten. Seine Resozialisierung sei dadurch gefährdet. Ferner sei der allgemeine Gleichheitssatz verletzt, weil der Beschwerdeführer schlechter gestellt werde als andere Gefangene, deren Familien in Bayern lebten und daher regelmäßig Besuch empfangen könnten. Ihm werde der grundrechtlich garantierte besondere Schutz des Art. 6 Abs. 1 GG versagt.

2. Dem Bayerischen Staatsministerium der Justiz wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Es erachtet die Verfassungsbeschwerde als unzulässig, soweit eine Verletzung des Gleichheitssatzes gerügt wird, und im Übrigen als unbegründet. In den angegriffenen Entscheidungen sei sowohl der wertentscheidenden Grundsatznorm des Art. 6 Abs. 1 GG als auch dem in Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG verankerten Anspruch auf Resozialisierung hinreichend Rechnung getragen worden. Die Resozialisierungsbemühungen der Justizvollzugsanstalt Straubing seien bisher sehr erfolgreich gewesen. Der Beschwerdeführer habe aus der Haft heraus das Verlöbnis mit seiner Lebensgefährtin geschlossen und das Verhältnis zu seinen Eltern verbessern können. Seine Befürchtung, der Kontakt zu seiner Verlobten könne an Entfremdung aufgrund mangelnder persönlicher Kontakte scheitern, sei kaum nachvollziehbar.

III.

1. Die Verfassungsbeschwerde wird gemäß § 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG zur Entscheidung angenommen, weil dies zur Durchsetzung der Grundrechte des Beschwerdeführers angezeigt ist. Die Voraussetzungen für eine stattgebende Kammerentscheidung (§ 93c Abs. 1 BVerfGG) liegen vor. Die für die Beurteilung der Verfassungsbeschwerde maßgeblichen Grundsätze hat das Bundesverfassungsgericht bereits geklärt. Nach diesen Grundsätzen ist die Verfassungsbeschwerde offensichtlich begründet im Sinne des § 93c Abs. 1 BVerfGG. Der angegriffene Bescheid der Justizvollzugsanstalt und die angegriffene Entscheidung des Landgerichts verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG, weil der Bedeutung dieses Grundrechts bei der Überprüfung der Entscheidung der Vollzugsanstalt nicht hinreichend Rechnung getragen wurde.

2. Für das Resozialisierungsziel, auf das der Strafvollzug von Verfassungs wegen auszurichten ist (vgl. BVerfGE 35, 202 <235 f.>; 36, 174 <188>; 45, 187 <238 f.>; 64, 261 <276>; 98, 169 <200 f.>), haben die familiären Beziehungen des Gefangenen wesentliche Bedeutung. Regelmäßig fördern der Bestand und die Stärkung dieser Beziehungen die Chancen seiner Eingliederung (vgl. BVerfGE 89, 315 <322>). Über ihre unmittelbare Bedeutung für den Gefangenen hinaus sind intakte Familienbeziehungen zudem auch mittelbar von großem Belang, weil resozialisierungs- und freiheitserhebliche Entscheidungen von ihnen abhängen können. Das Vorhandensein eines stabilen sozialen Empfangsraums fließt als positiver Faktor in zu treffende Prognoseentscheidungen - sei es im Rahmen von Entscheidungen über die Gewährung von Vollzugslockerungen oder über die Frage einer Entlassung auf Bewährung - ein (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 12. November 1997 - 2 BvR 615/97 -, ZfStrVo 1998, S. 180 <183>; OLG Nürnberg, Beschluss vom 13. Dezember 2001 - Ws 1434, 1435/01 -, StV 2003, S. 682 f.; Nedopil, Forensische Psychiatrie, 2. Aufl., S. 241, 244 f., 253). Umgekehrt kann es als ein Gesichtspunkt, der für eine ungünstige Prognose spricht, ins Gewicht fallen, wenn eine Stützung durch Angehörige nicht oder nicht an dem Ort, an dem sie benötigt würde, verfügbar ist (vgl. Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 13. Dezember 1997 - 2 BvR 1404/96 -, StV 1998, S. 432 <434>).

Den Belastungen und Gefährdungen, die der Vollzug einer Freiheitsstrafe für diese Beziehungen naturgemäß bedeutet, muss die Ausgestaltung des Vollzuges daher nicht nur mit Rücksicht auf das Grundrecht aus Art. 6 Abs. 1 GG, sondern auch im Hinblick auf das verfassungsrechtlich geschützte Resozialisierungsinteresse des Gefangenen nach Kräften entgegenzuwirken suchen. Der Resozialisierungsgrundsatz verpflichtet die Justizvollzugsanstalten, schädlichen Auswirkungen des Freiheitsentzugs im Rahmen des Möglichen zu begegnen; das Resozialisierungsinteresse erstreckt sich auch auf die Rahmenbedingungen, die einer Bewährung und Wiedereingliederung förderlich sind (vgl. BVerfGE 35, 202 <235 f.>; 36, 174 <188>; 45, 187 <238 f.>; 64, 261 <272 f.>; 98, 169 <200>; 109, 133 <150 f.>; Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 1. April 1998 - 2 BvR 1951/96 -, NStZ 1998, S. 430 f.).

Die in § 8 Abs. 1 Nr. 1 StVollzG getroffene Regelung trägt dem Rechnung, indem sie eine Verlegung für den Fall ermöglicht, dass durch die Verlegung die Behandlung des Gefangenen oder seine Eingliederung nach der Entlassung gefördert wird. Die Gefangenen haben danach bei Verlegungsentscheidungen Anspruch auf eine fehlerfreie Ermessensausübung, die dem verfassungsrechtlichen Gewicht des Resozialisierungsziels und der für die Erreichbarkeit dieses Ziels maßgebenden Umstände Rechnung trägt (vgl. OLG Bremen, Beschluss vom 30. Juni 1983 - Ws 95/83 -, StV 1984, S. 166 ff.; OLG Hamm, Beschlüsse vom 11. Februar 2003 - 1 VAs 94/02 -, ZfStrVo 2004, S. 110 f., und vom 22. Dezember 2003 - 1 VAs 50/03 -, ZfStrVo 2004, S. 243 f.).

3. Den grundrechtlichen Anforderungen, die sich hieraus ergeben, werden die angegriffene Entscheidung des Landgerichts und der zugrundeliegende Bescheid der Justizvollzugsanstalt nicht gerecht.

a) Das Landgericht ist, die Auffassung der Vollzugsanstalt bestätigend, davon ausgegangen, dass ein Anstaltswechsel zur Aufrechterhaltung familiärer Beziehungen nur dann in Betracht komme, wenn dies als Behandlungsmaßnahme oder zur Resozialisierung aufgrund besonderer Umstände unerlässlich erscheine (vgl. auch OLG Rostock, Beschluss vom 11. März 1996 - 1 Vollz (Ws) 4/96 -, bei Matzke, NStZ 1997, S. 381; OLG Hamm, Beschlüsse vom 11. Februar 2003 - 1 VAs 94/02 -, ZfStrVo 2004, S. 110 f., und vom 22. Dezember 2003 - 1 VAs 50/03 -, ZfStrVo 2004, S. 243 f.).

Versteht man dies in der durch die Formulierung nahegelegten Weise als Umschreibung der einschlägigen rechtlichen Voraussetzungen, so ist bereits mit diesem Ansatz der fachgerichtliche Entscheidungsspielraum (vgl. BVerfGE 80, 48 <51>) überschritten; denn nach dem eindeutigen Wortlaut des § 8 Abs. 1 Nr. 1 StVollzG kommt die Verlegung eines Gefangenen rechtlich nicht erst dann in Betracht, wenn sie zur Behandlung oder aus Resozialisierungsgründen unerlässlich ist, sondern bereits dann, wenn die Behandlung des Gefangenen oder seine Eingliederung nach der Entlassung hierdurch gefördert wird (vgl. Callies/Müller-Dietz, StVollzG, 10. Aufl., § 8 Rz. 4; Rotthaus/Freise in Schwind/Böhm/Jehle, StVollzG, 4. Aufl., § 8 Rz. 11; AK-StVollzG-Feest/Joester, 4. Aufl., § 8 Rz. 7).

Aber auch wenn die vom Landgericht gewählte Formulierung dahingehend zu verstehen sein sollte, dass das Gericht das Erfordernis der Unerlässlichkeit nicht als zwingende rechtliche Voraussetzung der Verlegung qualifiziert, sondern es als eine von der Anstalt gewählte Leitlinie für die Ermessensausübung aufgefasst und die darauf beruhende Ermessenausübung als rechtmäßig bestätigt hat, entspricht sein Vorgehen nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen. Hat der Gesetzgeber, wie in § 8 Abs. 1 Nr. 1 StVollzG geschehen, grundrechtlichen Belangen durch eine Bestimmung Rechnung getragen, die unter bestimmten gesetzlichen Voraussetzungen einen Ermessensspielraum einräumt, so ist schon fraglich, ob es sich um eine grundrechtskonforme Ausfüllung des eingeräumten Ermessenspielraums handeln kann, wenn die Behörden ihrer Ermessensausübung eine Leitlinie zugrundelegen, die gleichbedeutend ist mit einer regelförmigen Verschärfung der gesetzlichen Voraussetzungen. Auch wenn dies zulässig und die Verwendung und gerichtliche Bestätigung des Kriteriums der Unerlässlichkeit daher als solche nicht zu beanstanden sein sollte, können Behörden und Gerichte sich damit jedenfalls nicht der Verpflichtung entziehen, die grundrechtlichen Belange des Betroffen unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles angemessen zu würdigen.

b) Dies ist hier nicht geschehen. Der Bescheid der Justizvollzugsanstalt setzt sich mit den Gründen, die der Beschwerdeführer für die Notwendigkeit seiner Verlegung unter dem Gesichtspunkt der Resozialisierung vorgetragen hat, nicht im Einzelnen auseinander.

So findet das Vorbringen des Beschwerdeführers in Bezug auf die erwünschten Besuche der Eltern, seine beruflichen Pläne, die Bedeutung der Verlegung für künftige Lockerungsentscheidungen, das Fehlen jeglicher Kontakte in Westdeutschland und die Absicht, nach der Entlassung seinen Lebensmittelpunkt gemeinsam mit seiner Verlobten in der Nähe seiner Schwester in Sachsen zu suchen, in dem Bescheid nicht einmal Erwähnung. Andere vom Beschwerdeführer angeführte Gesichtspunkte wie die gesundheitlich bedingt eingeschränkte Reisefähigkeit der Verlobten und die berufsbedingt eingeschränkten Reisemöglichkeiten der Schwester zu Besuchen in seiner gegenwärtigen Anstalt werden im Bescheid ohne nähere Würdigung angesprochen. Gestützt ist der Bescheid allein auf die allgemeine Erwägung, die räumliche Trennung von den Angehörigen müsse, sofern eine Verlegung nicht aufgrund besonderer Umstände unerlässlich erscheine, als zwangsläufige Folge jeder Strafverbüßung hingenommen werden, weil anderenfalls die Regelung der Vollstreckungsplanung mit der Zeit unterlaufen würde und ein reibungsloser Strafvollzug sowie eine nachträgliche Strafvollstreckung dann nicht mehr möglich wären. Die Anwendung dieser Maßstäbe auf den konkreten Fall beschränkt sich auf die nicht näher begründete Feststellung, eine Unerlässlichkeit sei nicht erkennbar. An der gebotenen fallbezogenen, das Resozialisierungsinteresse des Beschwerdeführers angemessen gewichtenden Gesamtwürdigung fehlt es.

Das Landgericht hat die von der Anstalt zugrundegelegte Anforderung, die Verlegung müsse als Behandlungsmaßnahme oder zur Resozialisierung unerlässlich sein, dahingehend präzisiert, dass ausnahmsweise im konkreten Einzelfall besondere, vom Durchschnittsfall abweichende Erschwerungen des Kontakts zu den Angehörigen vorliegen müssten, um eine Verlegung auch unter Berücksichtigung des Gleichheitssatzes und der Vollstreckungsplanung rechtfertigen zu können. Die diesem Maßstab zugrundeliegende Erwägung, dass die Entscheidung über eine beantragte Verlegung nicht nach Grundsätzen getroffen werden darf, die mit den Erfordernissen eines geordneten Strafvollzuges nicht vereinbar wären, ist verfassungsrechtlich tragfähig (vgl. in anderem Zusammenhang Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 31. März 2003 - 2 BvR 1848/02 -, NJW 2003, S. 2447 <2448>).

Zur rechtlich vorgesehenen Ordnung des Strafvollzuges gehört allerdings nicht nur, dass die gesetzlich vorgesehene Vollstreckungsplanung (§ 152 StVollzG) die ihr zugedachte planerische Funktion erfüllen kann, sondern auch, dass sowohl in der Vollstreckungsplanung selbst (§ 26 Abs. 1 StVollstrO i.V.m. § 8 Abs. 1 Nr. 1 StVollzG) als auch bei davon abweichenden Verlegungsentscheidungen (§ 8 Abs. 1 Nr. 1 StVollzG) auf den Gesichtspunkt der Förderung des Kontakts zu Angehörigen die verfassungsrechtlich gebotene Rücksicht genommen wird. Unter der Voraussetzung, dass die durchschnittlichen Verhältnisse von einer Praxis geprägt sind, die diesen Anforderungen entspricht, sollten Schwierigkeiten des beiderseits erwünschten Kontakts zu den Angehörigen, wie sie im Falle des Beschwerdeführers bestehen, gerade nicht den Durchschnittsfall bilden. Die Feststellung des Landgerichts, besondere, vom Durchschnittsfall abweichende Erschwernisse lägen im Fall des Beschwerdeführers nicht vor, ist auf diesem Hintergrund nicht nachvollziehbar.

Zur Begründung dieser Feststellung hat das Gericht überdies lediglich ausgeführt, dass Kontaktschwierigkeiten aufgrund gesundheitlicher Erschwernisse oder finanzieller Probleme gerade keine besonderen, vom Durchschnittsfall abweichenden Erschwernisse seien; zudem könnten diese Schwierigkeiten durch Überstellungen zu Besuchszwecken behoben werden. Die Erwägung, dass finanziell oder gesundheitlich bedingte Kontaktschwierigkeiten keine überdurchschnittlichen, sondern typische Erschwernisse seien, ist offensichtlich unhaltbar. Sie ersetzt die gebotene Würdigung der konkreten Umstände durch eine Pauschalbetrachtung, die bei konsequenter Anwendung darauf hinausläuft, dass Gefangene auf eine ihrer Resozialisierung förderliche Verlegung in die Nähe ihrer Angehörigen prinzipiell keine Aussicht haben, wenn die Gründe, aus denen der resozialisierungsfördernde Kontakt nicht anders als durch Verlegung ausreichend ermöglicht werden kann, finanzieller oder gesundheitlicher Art sind. Es liegt auf der Hand, dass eine solche Handhabung nicht nur mit dem grundrechtlich geschützten Resozialisierungsinteresse unvereinbar wäre, sondern auch mit dem Anspruch des Gefangenen, nicht aufgrund der finanziellen oder gesundheitlichen Verhältnisse seiner Familienangehörigen benachteiligt zu werden gegenüber insoweit besser gestellten Gefangenen.

Der weitere Gesichtspunkt, dass Kontakte auch durch Besuchsüberstellungen ermöglicht werden können, konnte im Rahmen der gerichtlichen Kontrolle der anstaltlichen Ermessensausübung schon deshalb keine Rolle spielen, weil die Vollzugsanstalt selbst sich im Rahmen ihrer Ermessensentscheidung auf diesen Gesichtspunkt nicht berufen hat. Wenn eine Verlegung unter Hinweis auf die Möglichkeit von Besuchsüberstellungen abgelehnt oder als rechtmäßig bestätigt werden soll, wäre im Übrigen auch zu prüfen, ob Besuchsüberstellungen als Dauerlösung zur Aufrechterhaltung eines dem Resozialisierungsinteresse des Gefangenen entsprechenden Kontakts überhaupt geeignet sind (vgl. dazu Callies/Müller-Dietz, StVollzG, 10. Aufl., § 8 Rz. 4; Rotthaus/Freise in Schwind/Böhm/Jehle, StVollzG, 4. Aufl., § 8 Rz. 11). Dies setzt unter anderem voraus, dass geklärt wird, wie oft solche Überstellungen stattfinden können.

4. Ob durch die angegriffene Entscheidung des Landgerichts weitere Grundrechte des Beschwerdeführers verletzt worden sind, kann angesichts des festgestellten Verstoßes gegen Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG offenbleiben.

5. Die Entscheidung des Landgerichts beruht auf dem festgestellten Grundrechtsverstoß. Sie ist daher aufzuheben und die Sache an das Landgericht zurückzuverweisen (§ 93c Abs. 2, § 95 Abs. 2 BVerfGG). Die angegriffene Entscheidung des Oberlandesgerichts wird damit gegenstandslos.

6. Der Freistaat Bayern hat gemäß § 34 Abs. 2 BVerfGG dem Beschwerdeführer die notwendigen Auslagen zu erstatten. Damit erledigt sich der Antrag des Beschwerdeführers auf Gewährung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwältin Groos.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

HRRS-Nummer: HRRS 2006 Nr. 495

Externe Fundstellen: NStZ-RR 2006, 325

Bearbeiter: Stephan Schlegel