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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Aug./Sept. 2025
26. Jahrgang
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1. Eine Befugnis zur Überwachung und Aufzeichnung laufender Telekommunikation in der Weise, dass mit technischen Mitteln in von Betroffenen eigengenutzte IT-Systeme eingegriffen wird (Quellen-Telekommunikationsüberwachung, vgl. § 100a Abs. 1 Satz 2 StPO), begründet einen sehr schwerwiegenden Eingriff sowohl in das IT-System-Grundrecht (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG) als auch in das durch Art. 10 Abs. 1 GG geschützte Fernmeldegeheimnis. (BVerfG)
2. a) Eine Befugnis zur Überwachung und Aufzeichnung der auf einem IT-System Betroffener gespeicherten Inhalte und Umstände der Kommunikation in der Weise, dass mit technischen Mitteln in ein IT-System eingegriffen wird (erweiterte Quellen-Telekommunikationsüberwachung, vgl. § 100a Abs. 1 Satz 3 StPO), ist allein am IT-System-Grundrecht zu messen. (BVerfG)
b) Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung schützt nicht nur vor einzelnen Datenerhebungen, sondern auch vor dem Zugriff auf große und dadurch typischerweise besonders aussagekräftige Datenbestände. Ermächtigt aber eine Norm zur Datenerhebung aus einem IT-System, auf das mit technischen Mitteln zugegriffen wird, wird das Recht auf informationelle Selbstbestimmung vom IT-System-Grundrecht verdrängt. (BVerfG)
c) Von diesen beiden Ausprägungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts gewährleistet das IT-System-Grundrecht einen gegenüber dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung spezifischen Schutz, der gerade die mit dem Zugriff auf eigengenutzte IT-Systeme verbundene Verletzung ihrer Integrität und Gefährdung der Vertraulichkeit in den Blick nimmt. (BVerfG)
3. Eine Befugnisnorm, die dazu ermächtigt, heimlich mit technischen Mitteln in ein von Betroffenen genutztes IT-System einzugreifen und daraus Daten zu erheben, die auch solche der laufenden Fernkommunikation umfassen (Online-Durchsuchung), ermöglicht Eingriffe sowohl in das IT-System-Grundrecht als auch in Art. 10 Abs. 1 GG. Sind beide Grundrechte betroffen, ist die Befugnis zur Online-Durchsuchung an beiden Grundrechten zu messen. (BVerfG)
4. Das Bundesverfassungsgericht ist zur Prüfung der strafprozessualen Normen zur Quellen-Telekommunikationsüberwachung und zur Online-Durchsuchung am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes berufen. Wenngleich diese Normen Bezüge zu datenschutzrechtlichen Bestimmungen in Rechtsakten der Europäischen Union wie der JI-Richtlinie aufweisen, handelt es sich nicht um die Umsetzung zwingenden Unionsrechts und sind die Befugnisse nicht vollständig unionsrechtlich determiniert. (Bearbeiter)
5. Der durch eine Quellen-Telekommunikationsüberwachung bewirkte, den gesamten Rohdatenstrom – einschließlich tief in alle Lebensbereiche hineinreichender, auch höchst privater und spontaner Kommunikationsvorgänge und Datenbestände – umfassende und daher sehr schwerwiegende Eingriff in das IT-System-Grundrecht (und zugleich in das Fernmeldegeheimnis) ist nicht gerechtfertigt, soweit er an nicht hinreichend gewichtige Katalogstraftaten anknüpft, sondern auch zur Aufklärung solcher Straftaten zulässig ist, die eine Höchstfreiheitsstrafe von drei Jahren oder weniger vorsehen und damit nur dem einfachen Kriminalitätsbereich zuzuordnen sind. (Bearbeiter)
6. Das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme (IT-System-Grundrecht) schützt als Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts vor Zugriffen auf eigengenutzte IT-Systeme, die aufgrund ihrer technischen Funktionalität allein oder durch ihre technische Vernetzung Daten des Betroffenen in einem Umfang und in einer Vielfalt vorhalten können, dass ein Zugriff auf das System es ermöglicht, einen Einblick in wesentliche Teile der Lebensgestaltung der Person zu gewinnen oder gar ein aussagekräftiges Bild der Persönlichkeit zu erhalten. Das IT-System-Grundrecht schützt nicht nur die Vertraulichkeit der Daten, die durch Datenerhebungsvorgänge verletzt wird, sondern verlagert den Schutz nach vorne. Denn bereits mit dem Zugriff auf ein IT-System entsteht eine besondere Gefährdungslage für die dort erzeugten, verarbeiteten und gespeicherten oder von dort aus zugänglichen Daten. (Bearbeiter)
7. Das Fernmeldegeheimnis schützt demgegenüber die unkörperliche Übermittlung von Informationen mit Hilfe des Telekommunikationsverkehrs vor den spezifischen Gefahren, die mit einer räumlich distanzierten Kommunikation einhergehen. Dies umfasst auch den kommunikationsbezogenen Zugriff auf ein Endgerät. (Bearbeiter)
8. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gewährleistet die Befugnis Einzelner, grundsätzlich selbst zu entscheiden, wann und innerhalb welcher Grenzen persönliche Lebenssachverhalte offenbart werden, und schützt vor der unbegrenzten Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe personenbezogener Daten. Umfasst sind nicht nur einzelne Datenerhebungen, sondern auch der Zugriff auf große und dadurch typischerweise besonders aussagekräftige Datenbestände. Ermächtigt eine Norm zur Datenerhebung aus einem IT-System, auf das mit technischen Mitteln zugegriffen wird, so tritt das Recht auf informationelle Selbstbestimmung jedoch hinter dem insoweit spezielleren IT-System-Grundrecht zurück. (Bearbeiter)
9. Verfassungsrechtliche Begrenzungen heimlicher Überwachungsmaßnahmen ergeben sich vor allem aus den Anforderungen der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, wobei dem Eingriffsgewicht das Gewicht des öffentlichen Interesses an der Durchführung der Maßnahme gegenüberzustellen ist. Als Eingriffsschwelle bedarf es einer gesicherten Tatsachenbasis sowohl für die Annahme eines Tatverdachts als auch für die Erstreckung der Maßnahme auf Dritte. Das erforderliche Gewicht der verfolgten Straftat bestimmt sich maßgeblich nach der Eingriffsintensität. (Bearbeiter)
10. Die dem Gesetzgeber obliegende Qualifizierung einer Straftat als schwer oder besonders schwer muss in der Strafnorm selbst einen objektivierten Ausdruck finden, also insbesondere in deren Strafrahmen und gegebenenfalls in tatbestandlich umschriebenen oder in einem Qualifikationstatbestand enthaltenen Begehungsmerkmalen und Tatfolgen. Über die abstrakte Festlegung eines entsprechenden Straftatenkatalogs hinaus hat der Gesetzgeber sicherzustellen, dass bestimmte Tatsachen den Verdacht begründen, dass die Tat auch im Einzelfall das erforderliche Gewicht aufweist. (Bearbeiter)
11. Ausgehend vom Strafrahmen wiegt eine Straftat jedenfalls dann besonders schwer, wenn sie mit einer Höchstfreiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren – und damit nach der gesetzlichen Systematik sogleich mit einer Höchststrafe von zehn Jahren Freiheitsstrafe oder mehr – bedroht ist. Auch eine Straftat mit einer angedrohten
Höchstfreiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren kann dann als besonders schwer eingestuft werden, wenn dies unter Berücksichtigung des jeweils geschützten Rechtsguts, dessen Bedeutung für die Rechtsgemeinschaft sowie unter Berücksichtigung der Tatbegehung und Tatfolgen vertretbar erscheint. Sind Straftaten hingegen nur mit einer Höchststrafe von bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe oder mit Geldstrafe bewehrt, schließt dies die Einordnung als besonders schwere Straftat von vornherein aus. (Bearbeiter)
12. Die erweiterte Quellen-Telekommunikationsüberwachung, bei der durch Zugriff auf ein IT-System dort gespeicherte, bereits abgeschlossene Telekommunikation ausgewertet werden soll, greift nicht in das Fernmeldegeheimnis ein. Dessen Schutzbereich unterfallen nicht die außerhalb eines laufenden Kommunikationsvorgangs nach Abschluss der Übertragung im Herrschaftsbereich der Betroffenen gespeicherten Inhalte und Umstände einer Kommunikation. Auch die erweiterte Quellen-TKÜ ist indes nur zur Verfolgung besonders schwerer Straftaten zulässig. (Bearbeiter)
13. Die strafprozessuale Online-Durchsuchung, bei der unter Zugriff auf das gesamte von dem Betroffenen genutzte IT-System Daten erhoben werden können, begegnet unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit keinen Bedenken, weil die Eingriffsnorm die Maßnahme auf besonders schwere Straftaten beschränkt, die im Höchstmaß mit Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren bedroht sind. Der Gesetzgeber musste auch kein Abbruchgebot für den Fall vorsehen, dass bei einer Überwachung auch Daten aus dem Kernbereich privater Lebensführung miterfasst werden. Jedoch ist die Online-Durchsuchung aus formellen Gründen nicht mit der Verfassung vereinbar; denn soweit das Gesetz zu Eingriffen in das Fernmeldegeheimnis ermächtigt, verstößt es gegen das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG. (Bearbeiter)
1. Gelangt ein Revisionsgericht zu der Überzeugung, dass die der Verurteilung zugrunde liegende Strafnorm des § 184b Abs. 3 StGB in der bis zum 27. Juni 2024 geltenden Fassung aufgrund der angedrohten Mindestfreiheitsstrafe von einem Jahr ohne Vorsehung eines minder schweren Falls gegen den Schuldgrundsatz verstoße und daher verfassungswidrig sei, verletzt es den Verurteilten in seinem Recht auf den gesetzlichen Richter, wenn es auf eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht verzichtet, weil ausnahmsweise auszuschließen sei, dass das Tatgericht bei Zugrundelegung einer – nicht konkret bezeichneten – geringeren Mindeststrafe eine niedrigere Freiheitsstrafe verhängt hätte (Hauptsacheentscheidung zur einstweiligen Anordnung vom 10. September 2024 [= HRRS 2024 Nr. 1285]).
2. Ein Verstoß gegen die Verpflichtung zur Vorlage an das Bundesverfassungsgericht kann eine Verletzung des Rechts auf den gesetzlichen Richter begründen. Allerdings ist nicht jeder Irrtum eines Fachgerichts bei der Anwendung einer Zuständigkeitsnorm als solcher Verstoß zu bewerten. Die Grenze zur Verfassungswidrigkeit ist vielmehr erst dann überschritten, wenn die fehlerhafte Auslegung und Anwendung des (einfachen) Rechts willkürlich oder offensichtlich unhaltbar ist.
3. Die Vorlageverpflichtung Art. 100 Abs. 1 GG steht allerdings im Rang einer Verfassungsnorm, so dass hier deutlich weniger Raum für die Annahme eines bloßen Rechtsirrtums ohne verfassungsrechtliche Relevanz besteht als bei einer einfachen Gesetzesverletzung. Daher ist im Regelfall nicht von einem bloßen Rechtsanwendungsfehler, sondern von einem Entzug des gesetzlichen Richters auszugehen, auch ohne dass es eines besonders schweren Fehlers des Fachgerichts bedarf. Entscheidend ist, ob die Rechtsanwendung im konkreten Fall sachlich vertretbar ist.
4. Die gesetzliche Strafandrohung ist für die Charakterisierung, Bewertung und Auslegung des Straftatbestandes von entscheidender Bedeutung. Bestimmtheitsgrundsatz und Schuldprinzip gebieten es, dass sich der Gesetzgeber bei den Strafandrohungen in den einzelnen Straftatbeständen auf Strafrahmen festlegt, denen das Tatgericht mit Blick auf die konkrete Tat und den in ihr zum Ausdruck gekommenen individuellen Unrechts- und Schuldgehalt unter Berücksichtigung der allgemeinen Strafzumessungskriterien die konkrete Strafe zu entnehmen hat.
1. Die Entscheidung eines Beschwerdegerichts, die Kosten einer erfolglos gebliebenen Beschwerde gegen die Versagung von Akteneinsicht dem als Verletztenbeistand zugelassenen rechtskundigen Familienangehörigen des Geschädigten aufzuerlegen, ist unter keinem denkbaren
Aspekt rechtlich vertretbar und damit objektiv willkürlich, wenn der Beistand das Rechtsmittel ausdrücklich namens und in Vollmacht des Geschädigten eingelegt hatte und keinerlei Anhaltspunkte für eine Unwirksamkeit der Vollmacht oder eine Vollmachtsüberschreitung bestehen.
2. Der strafprozessualen Kostenzuordnung nach § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO, wonach die Kosten eines erfolglos gebliebenen Rechtsmittels denjenigen treffen, der es eingelegt hat, liegt (allein) das Veranlassungsprinzip zugrunde. Kostenpflichtig ist danach grundsätzlich auch, wer ein Rechtsmittel für einen anderen ohne Vertretungsmacht eingelegt hat, wie etwa ein vollmachtloser Verteidiger oder ein Verteidiger, der das Rechtsmittel gegen den Willen des Beschuldigten eingelegt oder weiterverfolgt hat, nach teilweise vertretener Ansicht auch ein Verteidiger, der die ihm erteilte Vollmacht überschritten hat.
3. Zur Vermeidung der Unzulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde, mit der keine Verletzung des Rechts auf rechtliches Gehör gerügt wird, muss ein Beschwerdeführer aus Gründen der Subsidiarität eine Anhörungsrüge nur dann erheben, wenn den Umständen nach ein Gehörsverstoß durch die Fachgerichte naheliegt und zu erwarten wäre, dass ein vernünftiger Verfahrensbeteiligter mit Rücksicht auf die geltend gemachte Beschwer bereits im gerichtlichen Verfahren einen entsprechenden Rechtsbehelf ergreifen würde.