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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Oktober 2023
24. Jahrgang
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Von Rechtsanwalt Dr. Sebastian Seel, Berlin[*]
Seit einiger Zeit sorgen klimaaktivistische Gruppen mit Sitzblockaden und symbolischen Aktionen, bei denen sich Aktivisten etwa an Bilderrahmen festkleben oder Gebäude mit oranger Farbe besprühen, für Aufsehen. Zur strafrechtlichen Bewertung solcher Handlungen gibt es bisher zwar eine Reihe uneinheitlicher erstinstanzlicher Entscheidungen, aber noch wenig obergerichtliche Rechtsprechung.[1] Das Kammergericht sah sich nun unabhängig von der Entscheidungsrelevanz im konkreten Fall berufen, allgemeine Maßstäbe sowohl zu § 113 StGB als auch zur Prüfung der Verwerflichkeit iSv § 240 Abs. 2 StGB bei klimaaktivistischen Sitzblockaden zu formulieren, die mit einem Festkleben an der Straße verbunden sind. Die Ausführungen zu § 113 StGB fordern allerdings Widerspruch heraus. Zugleich geben sie Anlass, die verfassungsrechtlichen Grenzlinien für die Interpretation des § 113 Abs. 1 StGB nachzuziehen. Die Vorgaben des Kammergerichts zu § 240 Abs. 2 StGB sind teils ebenfalls kritisch zu sehen.
Der Beschluss des Kammergerichts vom 16. August 2023 betrifft die Sprungrevision einer Angeklagten, die nach der Teilnahme an einer Sitzblockade vom Amtsgericht Tiergarten im Januar 2023 wegen "gemeinschaftlich begangener" Nötigung in Tateinheit mit Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen zu je 20 Euro verurteilt worden war.
Nach den im Beschluss auszugsweise wiedergegebenen Feststellungen des Amtsgerichts beteiligte sich die Angeklagte auf einem Autobahnzubringer in Berlin an einer Straßenblockade der Gruppe "Aufstand der letzten Generation". Bei dieser Blockade setzten sie und drei weitere Personen sich aufgrund eines zuvor gefassten gemeinsamen Tatplans auf die Fahrbahn der stark befahrenen Straße, um die dortigen Fahrzeugführer bis zur Räumung der Blockade durch die Polizei daran zu hindern, weiterzufahren. Die Blockade löste wie von der Angeklagten beabsichtigt bis zu ihrer Auflösung einen etwa eine Stunde dauernden Stau von mehreren hundert Metern Länge aus. Während der Blockade – der genaue Zeitpunkt bleibt unklar, aber jedenfalls vor Räumung der Fahrbahn – befestigte die Angeklagte ihre rechte Hand mit Sekundenkleber auf der Fahrbahn. Die Polizeibeamten mussten zunächst den Klebstoff mit einem Lösungsmittel lösen, was eine bis eineinhalb Minuten dauerte, bevor sie die Angeklagte von der Straße tragen konnten.
Die Angeklagte erhob die Sachrüge und rügte unter anderem, ihre Einlassung sei nur lückenhaft dargestellt worden und die Feststellungen ermöglichten keine Verwerflichkeitsprüfung nach § 240 Abs. 2 StGB. Zudem seien die Voraussetzungen des § 113 Abs. 1 StGB nicht erfüllt.
Das Kammergericht hob das Urteil mit den Feststellungen auf und verwies die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts Tiergarten zurück. Zum Verhängnis wurde dem Urteil die in Bezug auf das Geständnis der Angeklagten lückenhafte Beweiswürdigung. Weder den mitgeteilten Zeugenaussagen noch der nur rudimentär dargestellten Einlassung der Angeklagten war zu entnehmen, wie das Amtsgericht zu seiner Annahme kam, die Angeklagte habe sich auf der Fahrbahn festgeklebt, um die erwartete polizeiliche Maßnahme der Räumung der Fahrbahn zu erschweren. An
dieser Stelle stützt sich das Kammergericht auf die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, wonach in den Urteilsgründen wiederzugeben ist, ob und ggf. wie sich der Beschuldigte in der Hauptverhandlung zur Sache eingelassen hat.[2] Das folgt nicht aus § 267 StPO, sondern hat sachlich-rechtliche Gründe: Die Wiedergabe der Einlassung des Angeklagten ist grundsätzlich erforderlich, damit das Revisionsgericht nachprüfen kann, ob sich das Tatgericht unter Berücksichtigung der erhobenen Beweise eine tragfähige Grundlage für seine Überzeugungsbildung verschafft und das materielle Recht richtig angewendet hat.[3]
Auch wenn das Urteil schon wegen der lückenhaften Beweiswürdigung keinen Bestand haben konnte, gab das Kammergericht den Tatrichtern eine umfangreiche allgemeine "Segelanweisung" zur Prüfung der §§ 113, 240 StGB in vergleichbaren Blockadefällen mit auf den Weg.
Im Mittelpunkt der Entscheidung stehen umfangreiche Ausführungen zum Widerstandleisten mit Gewalt bei § 113 Abs. 1 StGB. Zum Merkmal "Gewalt" ist das Kammergericht der Auffassung, ein Festkleben an der Fahrbahn mit Sekundenkleber könne dafür ausreichen, und begründet dies wie folgt:
"Das Festkleben auf der Fahrbahn, um das Entfernen von dort zu verhindern oder zu erschweren, kann als Gewalt im Sinne von § 113 Abs. 1 StGB qualifiziert werden; es ist in seiner physischen Wirkung dem Selbstanketten (vgl. dazu BVerfGE 104, 92; OLG Stuttgart NStZ 2016, 353) vergleichbar. Hier wie dort liegt eine durch tätiges Handeln bewirkte Kraftentfaltung vor, die gegen den Amtsträger gerichtet und geeignet ist, die Durchführung der Vollstreckungshandlung zu verhindern oder zu erschweren (vgl. BGHSt 18, 133, 134; NStZ 2023, 108; 2013, 336). Dass Polizeibeamten das durch Festkleben entstandene physische Hindernis durch Geschicklichkeit – hier unter Verwendung eines Lösungsmittels – zu beseitigen in der Lage sind, steht dem Merkmal der Gewalt nicht grundsätzlich entgegen und nimmt dem Vollstreckungsbeamten nicht ohne weiteres die körperliche Spürbarkeit (vgl. zu diesem Merkmal BGHSt 65, 36 m.w.N.) des Widerstands (a.A. LG Berlin, Beschluss vom 20. April 2023 – 503 Qs 2/23 –, juris)."
Bei der Prüfung soll jedoch eine Einzelfallabwägung erforderlich sein:
"Ob das Festkleben im konkreten Einzelfall als gewaltsamer Widerstand gegen eine Diensthandlung im Sinne von § 113 Abs. 1 StGB zu qualifizieren ist, bedarf allerdings der Abwägung aller Umstände des Einzelfalls (vgl. zu § 240 StGB Senat DAR 2022, 393). Hierbei sind auch Umfang und Dauer der zur Überwindung des Hindernisses erforderlichen Mittel in den Blick zu nehmen und vom Tatgericht zumindest in Grundzügen – wie es das Amtsgericht in der angefochtenen Entscheidung noch ausreichend getan hat – darzulegen. Der Umstand, dass die Polizeibeamten nach den getroffenen Feststellungen eine bis eineinhalb Minuten benötigten, um die Angeklagte von der Fahrbahn zu lösen, ist ein gewichtiges Indiz, das im vorliegenden Fall für die Annahme von Gewalt im Sinne von § 113 Abs. 1 StGB spricht."
Im Anschluss widmet sich das Kammergericht auch dem zeitlichen Aspekt des Widerstandleistens mit Gewalt. Die Angeklagte hatte sich vor Beginn der Vollstreckungshandlung (der Räumung der Straße) festgeklebt. Ein solches vorheriges Festkleben hält das Kammergericht unter Berufung auf den Bundesgerichtshof und das OLG Stuttgart für tatbestandsmäßig:
"Ebenso wenig steht einer Strafbarkeit nach § 113 Abs. 1 StGB entgegen, dass die Widerstandshandlung (hier durch Festkleben auf der Fahrbahn) bereits vor Beginn der Vollstreckungshandlung (Entfernen der Demonstranten von der Fahrbahn) vorgenommen wurde. Zur Verwirklichung des objektiven Tatbestands genügt es, wenn der Täter gezielt eine Widerstandshandlung vornimmt, die bei Beginn der Vollstreckungshandlung noch fortwirkt (vgl. BGHSt 18, 133; OLG Stuttgart NStZ 2016, 353). Um ein gezieltes Verhalten des Täters vom bloßen Ausnutzen eines bereits vorhandenen Hindernisses abzugrenzen, muss allerdings in derartigen Fallgestaltungen der Wille des Täters dahin gehen, durch seine Tätigkeit den Widerstand vorzubereiten (vgl. BGH a.a.O.). Das Tatgericht hat deshalb dahingehende Feststellungen zu treffen, ob sich der Täter (zumindest auch) festgeklebt hat, um sich der von ihm erwarteten polizeilichen Räumung zu widersetzen."
Weniger Raum nehmen die Vorgaben zu § 240 StGB ein. Zur Verwerflichkeitsprüfung bei § 240 Abs. 2 StGB müsse das Tatgericht eine einzelfallbezogene Würdigung aller Tatumstände vornehmen und in den Entscheidungsgründen eine tragfähige Entscheidungsgrundlage darlegen. Dabei müsse es mindestens die folgenden Aspekte beachten und entsprechende Feststellungen treffen: Ankündigung der Blockade bzw. Anmeldung der Demonstration, Blockadedauer, eine präzise Tatortbeschreibung, Art und Ausmaß der Blockade (insbesondere Staulänge und Ausweichmöglichkeiten), die Motive der Angeklagten (insbesondere mit Blick auf das Festkleben) sowie Zweck bzw. Zielrichtung der Demonstration.
Die Begründung des Kammergerichts, weshalb in einem bloßen Festkleben an der Fahrbahn mit Sekundenkleber ein Widerstandleisten mit Gewalt iSv § 113 Abs. 1 StGB liegen soll, überzeugt nicht. Der Beginn dieser Begründung irritiert dabei nicht einmal unter rechtlichen, sondern unter physikalischen Gesichtspunkten: Dass ein Festkleben mit Sekundenkleber, das ein Polizeibeamter in ein bis eineinhalb Minuten mit ein wenig Lösungsmittel ohne Einsatz von Körperkraft jenseits einer geringfügigen körperlichen Aktivität und ohne Einsatz schweren Werkzeugs beenden kann, "in seiner physischen Wirkung dem Selbstanketten vergleichbar" sein soll, ist eine evident unzutreffende Annahme.[4]
Die Ausführungen des Kammergerichts zum Vorliegen des Gewaltmerkmals sind zudem mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht in Einklang zu bringen. Nach dieser Rechtsprechung wird Widerstand "mit Gewalt" geleistet, "wenn unter Einsatz materieller Zwangsmittel, vor allem körperlicher Kraft, ein tätiges Handeln gegen die Person des Vollstreckenden erfolgt, das geeignet ist, die Vollendung der Diensthandlung zumindest zu erschweren".[5] Die Gewalt muss gegen den Amtsträger gerichtet und für ihn unmittelbar oder mittelbar körperlich spürbar sein.[6] Schon das Element des Einsatzes "materieller Zwangsmittel, vor allem körperlicher Kraft" ist aber zweifelhaft, wenn jemand sich schlicht auf den Boden setzt und mit einem geringen Maß an körperlicher Aktivität seine Hand mit Sekundenkleber am Boden festklebt. Vom "Einsatz körperlicher Kraft" kann man hier kaum sprechen, höchstens von schlichter körperlicher Tätigkeit. Überdies richtet sich diese Handlung selbst in keiner Weise gegen die Person des Vollstreckenden. Zwischen dem Vollstreckungsbeamten und der Handlung als solcher – die hier außerdem zeitlich vor dem Tätigwerden des Beamten erfolgte – besteht gar kein physischer Zusammenhang. Vor allem aber fehlt es – anders als das Kammergericht ohne weitere Begründung behauptet – am Element der körperlichen Spürbarkeit. Richtet sich wie hier die Widerstandshandlung nicht unmittelbar gegen den Vollstreckenden, sondern wirkt sie sich nur mittelbar auf diesen aus, dann ist nach der Rechtsprechung für die Annahme von Gewalt iSd § 113 Abs. 1 StGB hinsichtlich der körperlichen Spürbarkeit erforderlich, dass der Amtsträger seine Amtshandlung nicht ausführen kann, ohne seinerseits eine nicht ganz unerhebliche Kraft aufwenden zu müssen.[7] Es erfordert jedoch keinen nennenswerten Kraftaufwand, die festklebende Hand einer sich im Übrigen völlig passiv verhaltenden Demonstrantin mit etwas Lösungsmittel vom Asphalt zu trennen.
Daneben ist anzumerken, dass die Entgrenzung des Gewaltmerkmals auch mit Blick auf die Schutzgüter des § 113 StGB verfehlt ist. Das gilt insbesondere dann, wenn man mit dem Bundesgerichtshof[8] neben den Amtshandlungen auch die Vollstreckungsbeamten als von § 113 StGB geschützt ansieht. Denn die Vollstreckungsbeamten bedürfen nicht des besonderen Schutzes durch das Strafrecht, wenn sie mit objektiv völlig ungefährlichen, nicht gegen sie als Person gerichteten und mit minimaler körperlicher Tätigkeit überwindbaren Widerstandshandlungen konfrontiert sind. In solchen Fällen erschließt sich auch nicht, weshalb die jeweiligen Amtshandlungen gerade auf strafrechtlichen Schutz angewiesen sein sollen.
Ganz geheuer scheint dem Kammergericht seine extrem weite Interpretation des Gewaltmerkmals selbst nicht zu sein. Das erklärt möglicherweise, weshalb es zusätzlich eine im Normtext des § 113 StGB (anders als bei § 240 Abs. 2 StGB) überhaupt nicht angelegte "Abwägung aller Umstände des Einzelfalls" vorschreiben will, bei der aber wiederum die zeitlichen Vorgaben (ein bei eineinhalb Minuten Zeit für das Ablösen als "gewichtiges Indiz") aus der Luft gegriffen erscheinen.
Das Kammergericht entgrenzt das Gewaltmerkmal derart, dass dafür jede auch noch so geringe körperliche Tätigkeit zu Widerstandszwecken ausreicht, die nicht einmal gegen die Person des Vollstreckenden gerichtet sein muss und deren Folgen sich ihrerseits durch eine minimale körperliche Aktivität des Vollstreckungsbeamten überwinden lassen. Das verstößt gegen das von Verfassung wegen bestehende Verschleifungsverbot:
Mit dem in Art. 103 Abs. 2 GG enthaltenen Analogieverbot ist ein Verbot der Verschleifung von Tatbestandsmerkmalen verbunden. Danach darf die Auslegung der gesetzlichen Begriffe, die die Strafbarkeit begrenzen, nicht im Ergebnis dazu führen, dass die Begrenzung der Strafbarkeit wieder aufgehoben wird. Für einzelne Tatbestandsmerkmale bedeutet dies, dass sie selbst innerhalb ihres möglichen Wortsinns nicht derart weit ausgelegt werden dürfen, dass sie völlig von anderen Tatbestandsmerkmalen erfasst und somit notwendig bei deren Erfüllung mitverwirklicht werden.[9]
Gerade dazu führt jedoch die Interpretation des Gewaltmerkmals durch das Kammergericht. § 113 Abs. 1 StGB
enthält als das Tatbestandsmerkmal, das primär die Tathandlung beschreibt, das Widerstandleisten. Jede denkbare Art, Widerstand zu leisten, setzt schon nach dem Wortlaut eine mit zumindest geringfügiger körperlicher Aktivität verbundene aktive Tätigkeit zu Widerstandszwecken voraus.[10] Das Kammergericht lässt nun für das zusätzliche Tatbestandsmerkmal "mit Gewalt", das die Strafbarkeit der Widerstandshandlung eigentlich begrenzen soll, jede zu Widerstandszwecken vorgenommene aktive Handlung mit noch so geringer körperlicher Aktivität und ohne körperliche Auswirkung auf den Vollstreckungsbeamten (abgesehen davon, dass dieser schlicht tätig wird) ausreichen. Damit verliert das Gewaltmerkmal seine tatbestandsbeschränkende Funktion und geht völlig im Merkmal des Widerstandleistens auf. Jedes Widerstandleisten, auf das ein Vollstreckungsbeamter in irgendeiner Weise reagiert, ist dann automatisch auch ein Widerstandleisten mit Gewalt.
Das Kammergericht hält es für unproblematisch, dass die Widerstandshandlung selbst (das Festkleben) schon vor Beginn der Vollstreckungshandlung erfolgte. Ausreichend soll es sein, wenn die mit entsprechender Absicht vorgenommene Widerstandshandlung bei Beginn der Vollstreckungshandlung noch fortwirkt. Für diese Position beruft es sich auf eine mehr als 60 Jahre alte Entscheidung des Bundesgerichtshofs und auf eine jüngere Entscheidung des OLG Stuttgart. Allerdings überzeugt die Argumentation beider Gerichte dafür, zeitlich weit vor der Vollstreckungshandlung liegende Handlungen als Widerstandleisten iSv § 113 StGB einzustufen, nicht.
Der Bundesgerichtshof geht in seiner damaligen Entscheidung von der bis heute gängigen, schon vom Reichsgericht vertretenen Definition des "Widerstandleistens mit Gewalt" aus, wonach hierfür ein gegen den Beamten gerichtetes tätiges Handeln (insbesondere) unter Aufwendung von Körperkraft erforderlich ist.[11] Ohne dies zu begründen, trifft er im Anschluss eine Unterscheidung zwischen "Kraftentfaltung" und dem eigentlichen Widerstandleisten.[12] Diese Unterscheidung dient als Basis, um weit vor der Vollstreckungshandlung liegende Verhaltensweisen in den Tatbestand einzubeziehen. Doch sie ist logisch angreifbar. Es erscheint widersprüchlich, auf der einen Seite mit der tätigen Kraftentfaltung das "Widerstandleisten mit Gewalt" zu definieren, dann aber nur die späteren Auswirkungen dieser Kraftentfaltung und nicht die Kraftentfaltung selbst als Bestandteil des tatbestandsmäßigen Widerstandleistens mit Gewalt anzusehen.
Wenn der Bundesgerichtshof in der damaligen Entscheidung zusätzlich anführt, die Einbeziehung weit vor der Vollstreckungshandlung liegender Handlungen entspreche "der Gerechtigkeit", der vorbereitete Widerstand sei mindestens ebenso strafwürdig wie der spontane und ein gegenläufiges Ergebnis wäre "rechtspolitisch unerfreulich",[13] kann man nicht von einer überzeugenden Argumentation sprechen. Dergestalt "die Gerechtigkeit" zu bemühen, ist ein Kryptoargument. Was es mit dem Gerechtigkeitsbegriff auf sich hat und um welchen Aspekt von Gerechtigkeit es hier gehen soll, bleibt unklar. Abgesehen davon dürfen allgemeine Strafwürdigkeitserwägungen und rechtspolitische Wunschvorstellungen nicht dazu führen, die im Normtext selbst angelegten interpretatorischen Grenzen zu missachten. Es ist aufschlussreich, dass sich die damalige Entscheidung überhaupt nicht zu diesen Grenzen verhält. Darüber hinaus öffnet die Argumentation des Bundesgerichtshofs, der sich das Kammergericht anschließt, einer nahezu unbegrenzten zeitlichen Ausdehnung des Tatbestands Tür und Tor. Warum sollte man zum Beispiel denjenigen besser behandeln, der seine Haustür bereits eine Woche vor Eintreffen des Gerichtsvollziehers abschließt, als den, der das einen Tag vorher tut? Klare Maßstäbe, ab wann § 113 StGB in zeitlicher Hinsicht greifen soll, lassen sich so kaum mehr aufstellen.
Das OLG Stuttgart, auf das sich das Kammergericht ebenfalls bezieht, stützt sich auf die vom Bundesgerichtshof getroffene Unterscheidung und lässt es ausdrücklich ausreichen, dass sich die "Tathandlung" auf eine unmittelbar bevorstehende oder begonnene Vollstreckungshandlung "auswirkt", auch wenn sie zuvor vorgenommen wurde. Es spricht ausdrücklich von der "vorweggenommenen Widerstandshandlung", die auch mehrere Stunden vor der Vollstreckungshandlung erfolgen können soll.[14] Neben diesen bereits oben kritisierten Argumentationsstrang tritt ein weiterer. Danach ist eine weite zeitliche Ausdehnung des Tatbestands auch im Hinblick auf den von § 113 StGB bezweckten Schutz des Staatswillens und der diesen durchsetzenden Organe geboten.[15] Dieser teleologisch begründeten Ausweitung kann man jedoch ebenfalls entgegenhalten, dass sich über abstrakte Schutzzweckerwägungen nicht die im Normtext enthaltenen Grenzen übergehen lassen.
Die zeitliche Entgrenzung des Tatbestands ist mit dem Wortlaut des § 113 Abs. 1 StGB nicht vereinbar. Die Norm verlangt, dass der Täter "bei der Vornahme einer solchen Diensthandlung mit Gewalt[…]Widerstand leistet". Der Gesetzgeber hat gerade nicht eine Formulierung wie "im Zusammenhang mit einer Diensthandlung" gewählt. Die Formulierung "bei der Vornahme" enthält damit eine zeitliche Komponente in dem Sinne, dass ein enger zeitlicher Zusammenhang zwischen Diensthandlung und
Widerstandshandlung bestehen muss.[16] Hinzu kommt, dass § 113 StGB kein Erfolgsdelikt ist. Dementsprechend ist im Text des Abs. 1 nicht ein Widerstandserfolg (auch nicht im Sinne einer Auswirkung der Widerstandshandlung) zeitlich mit der Vornahme der Diensthandlung verknüpft, sondern nur die Widerstandshandlung als solche ("Widerstand leistet") und damit das jeweilige aktive Tun des Täters. Das steht einer Interpretation entgegen, wonach die Tathandlung erheblich vor der Vornahme der Diensthandlung liegen kann und die notwendige zeitliche Verknüpfung in der Auswirkung der Tathandlung liegen soll.[17] Demnach leistet jemand, der sich erhebliche Zeit vor Beginn der eigentlichen Vollstreckungshandlung auf der Straße festklebt und während der Vollstreckungshandlung selbst schlicht passiv bleibt, keinen Widerstand "bei der Vornahme einer solchen Diensthandlung".
Die Vorgaben des Kammergerichts zur Verwerflichkeitsprüfung bei der Nötigung sind insofern zu begrüßen, als sie dem Tatrichter eine nachvollziehbare, auf den Einzelfall bezogene Begründung der Verwerflichkeit abverlangen. Allerdings sind sie an entscheidenden Stellen vage: Warum gerade die aufgeführten Aspekte das vom Tatrichter geforderte Minimum bilden sollen, erläutert das Kammergericht nicht. In diesem Zusammenhang bleibt offen, wie sich die Vorgaben des Kammergerichts zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Sitzblockaden[18] verhalten, wonach gerade auch der Sachbezug zwischen den in der Fortbewegungsfreiheit beeinträchtigten Personen und dem Protestgegenstand bei der Prüfung der Verwerflichkeit iSv § 240 Abs. 2 StGB relevant ist. Unklar ist überdies die Unterscheidung zwischen Motiven einerseits und Zwecken und Zielen der Demonstration andererseits: Wer zu Klimaschutzzwecken demonstriert, der handelt wohl kaum aus einem anderen Motiv als dem des Klimaschutzes. Schließlich bleibt offen, ob angesichts des verfassungsrechtlichen Höchstrangs, den der Klimaschutz als intertemporaler Grundrechtsschutz für alle in Deutschland lebenden Menschen genießt,[19] auch das Fernziel Klimaschutz bei der Verwerflichkeitsprüfung zu berücksichtigen ist.
Das Kammergericht überschreitet in seinem Beschluss doppelt die von Art. 103 Abs. 2 GG gezogenen Grenzen für die Interpretation von Strafrechtsnormen. Die Annahme, ein bloßes Sich-Festkleben mit leicht lösbarem Sekundenkleber weit vor der Vollstreckungshandlung sei ein Widerstandleisten mit Gewalt iSv § 113 Abs. 1 StGB, verschleift die Tatbestandsmerkmale "Widerstandleisten" und "mit Gewalt". Darüber hinaus liegt in einer solchen Konstellation kein Widerstandleisten "bei der Vornahme" der Diensthandlung vor. Die gegenteilige Auffassung des Kammergerichts verletzt die Wortlautgrenze. Außerdem bleiben die allgemeinen Ausführungen zur Verwerflichkeitsprüfung bei § 240 Abs. 2 StGB an entscheidenden Punkten vage.
Da im hier besprochenen Fall das Urteil bereits aufgrund einer lückenhaften Beweiswürdigung aufzuheben war, kam eine Überprüfung der kammergerichtlichen Vorgaben zu § 113 StGB durch das Bundesverfassungsgericht von vornherein nicht in Betracht. Angesichts dieser Vorgaben und der Häufigkeit klimaaktivistisch motivierter Sitzblockaden ist jedoch damit zu rechnen, dass in Zukunft Klimaaktivisten vermehrt auch wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte verurteilt werden. Zu hoffen ist, dass das Bundesverfassungsgericht der völligen Entgrenzung des § 113 Abs. 1 StGB Einhalt gebieten wird.
* Der Verfasser ist Strafverteidiger im Berliner Büro der Kanzlei Knauer&.
[1] Zu den Darlegungsanforderungen bei § 240 StGB im Zusammenhang mit Straßenblockaden siehe KG StV 2023, 545 (Ls.); zu § 34 StGB bei Sachbeschädigungen mit klimaaktivistischer Motivation siehe OLG Celle JuS 2023, 82.
[2] Siehe etwa BGH NStZ 2020, 625 = HRRS 2020 Nr. 241.
[3] BGH, Beschl. v. 2. Februar 2021 – 4 StR 471/20 = HRRS 2021 Nr. 568 m.w.N.
[4] Vgl. dazu LG Berlin, Beschl. v. 20. April 2023 – 503 Qs 2/23, das bei einem ähnlichen Fall des Festklebens mit Blick auf das Analogieverbot das Merkmal "mit Gewalt" verneinte, weil der Widerstand, dessen Überwindung lediglich einen gewissen Zeitaufwand aber keine erhebliche Kraftentfaltung erforderte, nicht körperlich spürbar gewesen sei.
[5] BGHSt 65, 36, 37 = HRRS 2020 Nr. 868; BGH NStZ 2013, 336 = HRRS 2013 Nr. 221; für einen engeren Gewaltbegriff Kindhäuser/Neumann/Paeffgen/Saliger/Paeffgen, Strafgesetzbuch, 6. Aufl. (2023), § 113 Rn. 23.
[6] BGHSt 65, 36, 37 = HRRS 2020 Nr. 868; BGH NStZ 2015, 388 = HRRS 2015 Nr. 401.
[7] Siehe BGHSt 18, 133, 134 f.; BayObLGSt 1988, 7, 8.
[8] BGHSt 21, 334, 365 f.
[9] Siehe BVerfG NJW 2010, 3209, 3211 = HRRS 2010 Nr. 656.
[10] So auch die Definition der Rechtsprechung, siehe nur BGHSt 65, 36, 37 = HRRS 2020 Nr. 868: "Unter Widerstand ist eine aktive Tätigkeit gegenüber dem Vollstreckungsbeamten zu verstehen, mit der die Durchführung einer Vollstreckungsmaßnahme verhindert oder erschwert werden soll."
[11] Siehe BGHSt 18, 133, 134; vgl. RGSt 4, 375, 376.
[12] Siehe BGHSt 18, 133, 135.
[13] BGHSt 18, 133, 135 f.
[14] OLG Stuttgart NStZ 2016, 353, 355.
[15] OLG Stuttgart NStZ 2016, 353, 355.
[16] Ähnlich MüKo-StGB/Bosch, 4. Aufl. (2021), § 113 Rn. 13, wonach die Formulierung "bei" eine zeitliche Grenze zieht; Kindhäuser/Neumann/Paeffgen/Saliger/Paeffgen, StGB (Fn. 5), § 113 Rn. 19.
[17] Kritisch auch Schönke/Schröder/Eser, StGB, 30. Aufl. (2019), § 113 Rn. 16, der insbesondere auf die damit einhergehende Ausdehnung des Gewaltbegriffs hinweist; diesem zustimmend MüKo-StGB/Bosch (Fn. 16), § 113 Rn. 14; zweifelnd BeckOK-StGB/Dallmeyer, 58. Aufl. (Stand 1.8.2023), § 113 Rn. 6.
[18] BVerfGE 104, 92; BVerfG NJW 2011, 3020, 3023 = HRRS 2011 Nr. 475.
[19] Siehe dazu BVerfGE 157, 30, Rn. 144 ff., 182 ff.