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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Februar 2020
21. Jahrgang
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1. Eine auslieferungsrechtliche Zulässigkeitsentscheidung verletzt den Verfolgten in seinem Recht auf effektiven Rechtsschutz, wenn das Oberlandesgericht die Haftbe-
dingungen im Zielstaat – hier: U.S.A., Kalifornien – nicht weiter aufgeklärt, sondern lediglich auf die abstrakte Zusicherung der U.S.-amerikanischen Behörden verwiesen hat, wonach die U.S.-Verfassung und das kalifornische Recht eine unmenschliche Behandlung nicht zuließen, obwohl der Verfolgte konkrete Anhaltspunkte für anhaltende strukturelle Defizite im kalifornischen Strafvollzug – wie insbesondere eine systemische Überbelegung der dortigen Haftanstalten – dargelegt hatte (Hauptsacheentscheidung zur einstweiligen Anordnung vom 16. Juli 2019 [= HRRS 2019 Nr. 906]).
2. Die Gefahr einer Verhängung und Vollstreckung der Todesstrafe ist mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen, wenn die dem Verfolgten im Zielstaat konkret vorgeworfene Anlasstat ausweislich der Auslieferungsunterlagen mit lebenslanger Freiheitsstrafe und nicht mit der Todesstrafe bedroht ist und wenn die zuständigen Behörden verbindlich zugesichert haben, dass die im Einzelfall einschlägigen Strafschärfungsgründe lediglich zu einer Verlängerung der zu erwartenden Freiheitsstrafe führen können. Einer Vorfestlegung des Tatgerichts oder eines übergeordneten Gerichts bedarf es demgegenüber nicht.
3. Das Oberlandesgericht hat allerdings aufzuklären, ob die Möglichkeiten einer Reststrafaussetzung hinsichtlich der dem Verfolgten im Zielstaat drohenden lebenslangen Freiheitsstrafe die zum auslieferungsrechtlichen Mindeststandard gehörenden Kriterien des Art. 3 EMRK erfüllen, wie sie der Rechtsprechung des EGMR zu entnehmen sind.
4. Angesichts der Eingliederung des vom Grundgesetz verfassten Staates in die Völkerrechtsordnung der Staatengemeinschaft sind im Rechtshilfeverkehr die Strukturen und Inhalte fremder Rechtsordnungen grundsätzlich auch dann zu achten, wenn sie im Einzelnen nicht mit den deutschen innerstaatlichen Auffassungen übereinstimmen. Ein unüberwindbares Hindernis für eine Auslieferung besteht daher nur bei einer Verletzung der unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätze sowie – insbesondere im Auslieferungsverkehr mit Staaten, die nicht Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind – des verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandards.
5. Die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes erfordert eine Berücksichtigung der unabdingbaren Gewährleistungen der EMRK und der Entscheidungen des EGMR als Auslegungshilfen für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes. Maßgeblich für die Beurteilung von Haftbedingungen ist insbesondere Art. 3 EMRK, der ein Verbot der Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung enthält.
6. Das Recht eines Gefangenen auf Achtung seiner Menschenwürde setzt der Belegung und Ausgestaltung von Hafträumen Grenzen. Vorzunehmen ist eine Gesamtschau der tatsächlichen, die Haftsituation bestimmenden Umstände, wobei eine Verletzung der Menschenwürde insbesondere durch die Bodenfläche pro Gefangenem und die Situation der sanitären Anlagen indiziert sein kann.
7. Dem ersuchenden Staat ist im Auslieferungsverkehr grundsätzlich Vertrauen entgegenzubringen. Dies gilt in besonderem Maße gegenüber den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, im Grundsatz jedoch auch im allgemeinen völkerrechtlichen Auslieferungsverkehr. Das Vertrauen kann jedoch durch entgegenstehende Tatsachen – wie etwa systemische Defizite im Zielstaat – erschüttert werden, angesichts derer gerade im konkreten Fall eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass die Mindeststandards nicht beachtet werden.
8. Völkerrechtlich verbindliche Zusicherungen des ersuchenden Staates sind zwar grundsätzlich geeignet, etwaige Bedenken hinsichtlich der Zulässigkeit einer Auslieferung auszuräumen, sofern nicht im Einzelfall zu erwarten ist, dass die Zusicherung nicht eingehalten wird. Eine Zusicherung entbindet die Gerichte jedoch nicht von der Pflicht, zunächst eine eigene Gefahrenprognose anzustellen, um die Situation im Zielstaat und so die Belastbarkeit einer Zusicherung einschätzen zu können.
9. Die dem auslieferungsrechtlichen Zulässigkeitsverfahren nachfolgende Bewilligungsentscheidung ist der (verfassungs)gerichtlichen Überprüfung nur dann zugänglich, wenn sie zum Nachteil des Verfolgten von der Zulässigkeitsentscheidung abweicht, so dass das Oberlandesgericht in dieser nicht alle subjektiven öffentlichen Rechte des Verfolgten berücksichtigen konnte.
1. Die mehrere Stunden andauernde Fixierung einer Patientin an einem Krankenhausbett gegen deren erklärten Willen wegen des Verdachts einer lebensgefährlichen Hirnverletzung greift in gravierender Weise in das Freiheitsgrundrecht der Betroffenen ein. Dieser Eingriff ist geeignet, das Vertrauen in das staatliche Gewaltmonopol zu erschüttern; er begründet daher ein Recht der Betroffenen auf effektive Strafverfolgung. Dies gilt erst recht hinsichtlich der Mitwirkung eines Amtsarztes.
2. Die Einstellung eines deshalb eingeleiteten strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens gegen die beteiligten Ärzte und Pfleger verletzt die Betroffene in ihrem Recht auf effektive Strafverfolgung, wenn keine Feststellungen zu
etwaigen physischen und psychischen Auswirkungen der Tat getroffen worden sind (zum Parallelverfahren betreffend die an demselben Vorfall beteiligten Polizeibeamten vgl. den Beschluss vom 25. Oktober 2019 – 2 BvR 498/15 – [= HRRS 2019 Nr. 1204]). Mit Blick auf die mögliche (Mit-)Verursachung einer posttraumatischen Belastungsstörung hätte es von Verfassungs wegen der Hinzuziehung eines Sachverständigen bedurft.
3. Ein Oberlandesgericht verkennt die ihm zukommende Prüfungspflicht im Rahmen eines Klageerzwingungsverfahrens, wenn es sich hinsichtlich einer Verfahrenseinstellung nach § 153 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 StPO allein zur Nachprüfung der prozessualen Einstellungsvoraussetzungen (kein Verbrechensvorwurf und kein Vergehen mit erhöhter Mindeststrafandrohung) berechtigt hält und deshalb davon absieht, die gesetzlichen Merkmale der lediglich geringen Tatfolgen und des öffentlichen Verfolgungsinteresses zu prüfen; letzteres wird regelmäßig durch ein Recht auf effektive Strafverfolgung begründet.
4. Hingegen ist die Einstellung eines Ermittlungsverfahrens gegen eine Richterin am Amtsgericht, die wegen erheblicher Eigengefährdung der Betroffenen deren Unterbringung im geschlossenen Bereich eines Krankenhauses angeordnet hatte, verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn Anhaltspunkte für eine durch die Richterin zugleich begangene Rechtsbeugung nicht substantiiert vorgetragen worden sind.
5. Wenngleich das Grundgesetz den Staat verpflichtet, das Leben, die körperliche Unversehrtheit und die Freiheit des Einzelnen zu schützen, so besteht doch regelmäßig kein grundrechtlich begründeter Anspruch auf eine Strafverfolgung Dritter.
6. Anderes kann allerdings gelten, soweit der Einzelne nicht in der Lage ist, erhebliche Straftaten gegen seine höchstpersönlichen Rechtsgüter – Leben, körperliche Unversehrtheit, sexuelle Selbstbestimmung und Freiheit der Person – abzuwehren und ein Verzicht auf die effektive Verfolgung solcher Taten zu einer Erschütterung des Vertrauens in das Gewaltmonopol des Staates und zu einem allgemeinen Klima der Rechtsunsicherheit und der Gewalt führen kann.
7. Ein verfassungsrechtlicher Anspruch auf effektive Strafverfolgung kann auch in Betracht kommen, wenn der Vorwurf im Raum steht, dass Amtsträger bei der Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben Straftaten begangen haben, oder wenn sich Personen in einem „besonderen Gewaltverhältnis“ im Sinne eines strukturell asymmetrischen Rechtsverhältnisses zum Staat befinden und diesem eine spezifische Fürsorge- und Obhutspflicht obliegt.
1. Eine auslieferungsrechtliche Zulässigkeitsentscheidung verletzt den Verfolgten in seinem Recht auf effektiven Rechtsschutz, wenn das Oberlandesgericht die dem Verfolgten drohende Gefahr, im Zielstaat – hier: der Türkei – politischer Verfolgung und unmenschlichen Haftbedingungen ausgesetzt zu sein, nicht aufgeklärt und eigenständig gewürdigt, sondern lediglich auf die abstrakte Zusicherung der türkischen Behörden verwiesen hat, wonach das Auslieferungsersuchen nicht politisch motiviert sei und die Haftbedingungen in der Türkei den Anforderungen des Art. 3 EMRK und den Europäischen Strafvollzugsgrundsätzen genügten, obwohl der Verfolgte detailliert dargetan hatte, dass er von den türkischen Behörden als Mitglied einer oppositionellen Gruppe angesehen und unter anderem wegen Mitgliedschaft in einer terrorostischen Vereinigung verfolgt werde und dass der türkische Strafvollzug erhebliche systemische Defizite aufweise (Hauptsacheentscheidung zur einstweiligen Anordnung vom 25. Oktober 2019 [= HRRS 2019 Nr. 1207]).
2. Die vollständige Verweigerung von Akteneinsicht für den Verteidiger in einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren mit der Begründung, die Inhalte der Ermittlungs- und Haftakte seien geheim, kann ein erhebliches Defizit des Strafverfahrens im Zielstaat darstellen, durch das die insoweit zu stellenden Mindestanforderungen unterschritten werden und das daher zu einem Auslieferungshindernis führt. Dies gilt insbesondere, wenn nicht hinreichend feststeht, ob der Verteidigung die Akten in dem bevorstehenden Hauptverfahren zur Verfügung gestellt werden.
3. Bei der Beurteilung der Zulässigkeit einer Auslieferung haben die deutschen Gerichte zu prüfen, ob die Auslieferung und die ihr zugrundeliegenden Akte die unabdingbaren verfassungsrechtlichen Grundsätze und das unabdingbare Maß an Grundrechtsschutz sowie – insbesondere im Auslieferungsverkehr mit Staaten, die nicht Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind – den nach Art. 25 GG in der Bundesrepublik verbindlichen völkerrechtlichen Mindeststandard wahren.
4. Im Verfahren über die Zulässigkeit einer Auslieferung sind die Gerichte auch dann, wenn im konkreten Fall ein Asylanspruch nicht besteht, zu einer eigenständigen Prüfung verpflichtet, ob dem Verfolgten im Zielstaat politische Verfolgung droht, soweit hierfür Anhaltspunkte bestehen.
5. Dem ersuchenden Staat ist im Auslieferungsverkehr grundsätzlich Vertrauen entgegenzubringen. Dies gilt in
besonderem Maße gegenüber den Mitgliedstaaten der Europäischen Union, im Grundsatz jedoch auch im allgemeinen völkerrechtlichen Auslieferungsverkehr. Das Vertrauen kann jedoch durch entgegenstehende Tatsachen – wie etwa Anhaltspunkte für eine drohende politische Verfolgung im Zielstaat oder systemische Defizite im dortigen Strafvollzug – erschüttert werden, angesichts derer gerade im konkreten Fall eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass die Mindeststandards nicht beachtet werden.
6. Völkerrechtlich verbindliche Zusicherungen des ersuchenden Staates sind zwar grundsätzlich geeignet, etwaige Bedenken hinsichtlich der Zulässigkeit einer Auslieferung auszuräumen, sofern nicht im Einzelfall zu erwarten ist, dass die Zusicherung nicht eingehalten wird. Eine Zusicherung entbindet die Gerichte jedoch nicht von der Pflicht, zunächst eine eigene Gefahrenprognose anzustellen, um die Situation im Zielstaat und so die Belastbarkeit einer Zusicherung einschätzen zu können.
1. Die Versagung eines Aufschubs der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe verletzt den Verurteilten möglicherweise in seinen Grundrechten auf körperliche Unversehrtheit und auf effektiven Rechtsschutz, wenn ein von der Staatsanwaltschaft in Auftrag gegebenes amtsärztliches Gutachten zu dem Ergebnis gelangt ist, der Verurteilte sei aufgrund einer schwerwiegenden psychiatrischen Erkrankung nicht haftfähig, während der Anstaltsarzt den Verurteilten in Kenntnis des Gutachtens, jedoch ohne persönliche Untersuchung – lediglich vorläufig – als haftfähig einschätzte.
2. Bei der vorzunehmenden Folgenabwägung kommen dem Freiheitsgrundrecht des Verurteilten und seinem Recht auf körperliche Unversehrtheit erhebliches Gewicht zu. Dahinter hat das Interesse an einer sofortigen Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs auch dann zurückzutreten, wenn die Fachgerichte über eine Anhörungsrüge des Verurteilten noch nicht entschieden haben.