Alle Ausgaben der HRRS, Aufsätze und Anmerkungen ab dem Jahr 2000.
HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
November 2018
19. Jahrgang
PDF-Download
Von Dr. Momme Buchholz, Hamburg[*]
Die EU-Richtlinie (EU) 2016/343 vom 9.3.2016 über die Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung und des Rechts auf Anwesenheit in der Verhandlung in Strafverfahren (ABl. 2016 L 65, 1) war gem. Art. 14 Abs. 1 bis zum 1. April 2018 in nationales Recht umzusetzen. Durch sie soll das Recht auf ein faires Verfahren in Strafverfahren gestärkt werden, indem gemeinsame Mindeststandards für bestimmte Aspekte der Unschuldsvermutung und das Recht auf Anwesenheit in der Verhandlung festgelegt werden, vgl. Art. 1 der Richtlinie.
Am 4. April 2018 hat das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz die Umsetzung des einen Teils forciert, indem es einen Referentenentwurf eines Gesetzes zur Stärkung des Rechts des Angeklagten auf Anwesenheit in der Verhandlung vorgelegt hat.[1] Hinsichtlich eines Gesetzesvorhabens zur Stärkung bestimmter Aspekte der Unschuldsvermutung fehlt dies bislang.
Die Geltung des nemo tenetur-Grundsatzes wird (jedenfalls in Deutschland)[2] nicht (mehr)[3] in Frage gestellt. Allerorts finden sich "ehrwürdige Bekenntnisse"[4] zu diesem "selbstverständlichen Ausdruck einer rechtsstaatlichen Grundhaltung"[5], welchem ein "hoher ethischer Gehalt"[6] zukommen soll. Inhaltlich ist der Grundsatz – jedenfalls in seinem Kern – weitgehend durch die Rechtsprechung des BGH geklärt: Niemand ist verpflichtet, gegen sich selbst auszusagen.[7] Gleichwohl kann die einfachgesetzliche Umsetzung des strafprozessualen Grundsatzes nur als unzureichend bezeichnet werden.[8]
Bislang existiert nämlich keine ausdrückliche Normierung der Selbstbelastungsfreiheit in der Strafverfahrensordnung. Lediglich aus der Belehrungsvorschrift des § 136 Abs. 1 S. 2 StPO und den dazugehörigen Parallelvorschriften §§ 55, 115 Abs. 3, 163a Abs. 3 und 4, 243 Abs. 4 S. 1 StPO kann auf einen von diesen Vorschriften vorausgesetzten Schutzgegenstand geschlossen werden. Während die wesentlich ältere Vorschrift § 136 Abs.1 S. 2 StPO noch vage zum Ausdruck bringt, dass es dem Beschuldigten "freistehe, sich zu der Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen", spricht § 115 Abs. 3 StPO bereits von einem dahingehenden Recht. Immerhin ist die Selbstbelastungsfreiheit in den ins nationale Recht transformierten Menschenrechtskodifikationen der EMRK und des IPbpR geregelt.[9] Dabei ist die Auslegung der innerstaatlich im Rang eines einfachen Gesetzes geltenden EMRK durch den EGMR als Ausgestaltung und Konkretisierung bei der Anwendung des nemo tenetur-Grundsatzes zu berücksichtigen.[10]
Nicht zuletzt wegen dieser einfachgesetzlichen Unklarheit sind der persönliche Schutzbereich[11], die verfassungsrechtlichen Grundlagen[12] und entsprechend auch die zugrunde liegende Ratio und die inhaltliche Reichweite[13] der Selbstbelastungsfreiheit immer wieder Gegenstand rechtswissenschaftlicher Diskussionen.[14]
Zum 1. April 2018 war der deutsche Gesetzgeber durch die EU-Richtlinie (EU) 2016/343 vom 9.3.2016 gehalten, bezüglich dieser problembehafteten Umstände durch eine Kodifizierung der Selbstbelastungsfreiheit Abhilfe zu schaffen.
Die besagte Richtlinie dient ihren Erwägungsgründen gemäß der Erhaltung und Weiterentwicklung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts bezogen auf die Unschuldsvermutung und das Recht auf ein faires Verfahren.[15] Dies soll dadurch erfolgen, dass der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung zum Eckstein der justiziellen Zusammenarbeit in Zivil- und Strafsachen innerhalb der Union wird. Dies beinhaltet neben der gegenseitigen Anerkennung von Urteilen und anderen gerichtlichen Entscheidungen auch die "notwendige Annäherung der Rechtsvorschriften", um sodann die Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Behörden zu verbessern und den Schutz von Individualrechten durch die Justiz zu erleichtern.[16] Nach der Begründung der Richtlinie soll die Umsetzung des Grundsatzes auf dem Gedanken beruhen, dass die Mitgliedstaaten gegenseitiges Vertrauen in ihre jeweilige Strafrechtspflege haben. Dieses zwischen den Mitgliedsstaaten zu entwickelnde Vertrauen ist jedoch unter anderem davon abhängig, inwieweit den Rechten von Beschuldigten wirksamer Schutz gewährt wird.[17]
Nach den Erwägungsgründen ist die Selbstbelastungsfreiheit eines Beschuldigten ein "wichtiger Aspekt der Unschuldsvermutung"[18]. Sofern Beschuldigte aufgefordert werden, durch die Abgabe von Erklärungen oder die Beantwortung von Fragen auszusagen, sollten sie nicht gezwungen werden, Beweise beizubringen, die zu einer Selbstbelastung führen können.[19]
Der Geltungsbereich der Selbstbelastungsfreiheit umfasst diejenigen Fragen, die mit der in Rede stehenden Straftat im Zusammenhang stehen und gerade nicht für Fragen im Zusammenhang mit der Feststellung der Identität eines Beschuldigten.[20] Insoweit bestehen keine Unterschiede zum deutschen Recht, welches in § 111 OWiG die Verpflichtung zur Angabe von Personendaten kennt.[21]
Zudem soll die Selbstbelastungsfreiheit garantieren, dass die Ermittlungsbehörden keinen Zwang auf Beschuldigte ausüben, um sie gegen ihren Willen zu einer Aussage zu bewegen.[22]
Des Weiteren soll die Wahrnehmung des Schweigerechts durch den Beschuldigten keine beweisrechtliche Verwendung finden. Und zwar weder als Beweis dafür, dass die fragliche Person die betreffende Straftat begangen hat, noch als Indiz für die Begründung eines Anfangsverdachts oder ähnliches. Gleichwohl sollen nationale Vorschriften über die richterliche Beweiswürdigung davon unberührt bleiben, soweit die Verteidigungsrechte gewahrt bleiben.[23] Inwieweit es möglich ist, diese zwei auf den ersten Blick unvereinbaren Standpunkte in eine gesetzliche Vorschrift zu fassen, bleibt offen und wird eine der maßgeblichen Aufgaben des deutschen Gesetzgebers sein.
Denn nach den Erwägungsgründen sollen die Ermittlungsbehörden nicht gehindert sein, Beweise zu erheben, die durch Anwendung gesetzlich vorgesehener Zwangsmittel gegenüber dem Beschuldigten rechtmäßig erlangt werden können und zudem unabhängig vom Willen des Beschuldigten existieren. Als Beispiele werden hierfür das aufgrund einer gerichtlichen Anordnung erlangte Material oder das Material, zu dessen Abgabe auf Verlangen eine rechtliche Verpflichtung besteht, wie Atemluft-, Blut- oder Urinproben und Körpergewebe für einen DNA-Test.[24]
Getragen von diesen Erwägungsgründen statuiert die EU-Richtlinie 343/206 sodann Art. 7:
Recht, die Aussage zu verweigern, und Recht, sich nicht selbst belasten zu müssen
(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige und beschuldigte Personen das Recht haben, in Bezug auf die Straftat, deren sie verdächtigt oder beschuldigt werden, die Aussage zu verweigern.
(2) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass Verdächtige und beschuldigte Personen das Recht haben, sich nicht selbst belasten zu müssen.
(3) Die Wahrnehmung des Rechts, sich nicht selbst belasten zu müssen, steht nicht der Beschaffung von Beweismitteln durch die zuständigen Behörden entgegen, die mithilfe gesetzlich vorgesehener Zwangsmittel rechtmäßig erlangt werden können und unabhängig vom Willen der Verdächtigen oder beschuldigte Personen existieren.
(4) Die Mitgliedstaaten können es ihren Justizbehörden gestatten, kooperatives Verhalten von Verdächtigen und beschuldigten Personen bei der Verurteilung zu berücksichtigen.
(5) Die Wahrnehmung des Rechts, die Aussage zu verweigern, oder des Rechts, sich nicht selbst belasten zu müssen, durch Verdächtige und beschuldigte Personen, darf weder gegen sie verwendet werden noch als Beweis dafür gewertet werden, dass sie die betreffende Straftat begangen haben.
(6) Dieser Artikel hindert die Mitgliedstaaten nicht daran, eine Regelung zu treffen, wonach bei geringfügigen Zuwiderhandlungen das Verfahren oder bestimmte Verfahrensabschnitte in schriftlicher Form oder ohne Befragung des Verdächtigen oder der beschuldigten Person durch die zuständigen Behörden bezüglich der fraglichen Zuwiderhandlung durchgeführt werden können, sofern das Recht auf ein faires Verfahren gewahrt bleibt.
Da Art. 7 Abs. 2 und 3 naturgemäß nicht für sämtliche Einzelfälle eine rechtliche Lösung anbieten, soll bei der Prüfung, ob die Selbstbelastungsfreiheit rechtswidrig verletzt wurde, dem in Art. 6 EMRK verankerten und durch die Rechtsprechung des EGMR ausdifferenzierten Recht auf ein faires Verfahren maßgebliche Bedeutung zu kommen.[25]
Der EGMR sieht das Recht aus Art. 6 Abs. 1 EMRK, zu schweigen und sich nicht selbst bezichtigen zu müssen, sowie die Unschuldsvermutung nach Art. 6 II EMRK als eng miteinander verbunden. Der Gerichtshof statuiert aus beiden Absätzen einen gemeinsamen Schutzbereich[26].
Die EMRK beinhaltet das Verbot von Selbstbelastungszwang zwar nicht ausdrücklich, jedoch hat der EGMR in der Entscheidung Funke gegen Frankreich die Selbstbelastungsfreiheit als elementaren Ausdruck, als Kernstück, des fair-trial-Grundsatzes aus Art. 6 EMRK anerkannt.[27] Angesichts der nur in Deutschland anerkannten verfassungsrechtlichen Grundlage in der Menschenwürde und der unterschiedlichen Zwecksetzungen ist es wenig verwunderlich, dass die deutsche höchstrichterliche Rechtsprechung verschiedentlich zu anderen rechtlichen Ergebnissen kommt als der Gerichtshof:[28]
Hinsichtlich des Zwecks stellt der EGMR in der Entscheidung Saunders gegen Großbritannien fest: "Their rationale lies, inter alia, in the protection of the accused against improper compulsion by the authorities thereby contributing to the avoidance of miscarriages of justice and to the fulfilment of the aims of Article 6. The right not to incriminate oneself, in particular, presupposes that the prosecution in a criminal case seek to prove their case against the accused without resort to evidence obtained through methods of coercion or oppression in defiance of the will of the accused. In this sense the right is closely linked to the presumption of innocence contained in Article 6 para. 2 of the Convention. "
Entgegen dem ersten Anschein verfolgt die Selbstbelastungsfreiheit nach Auffassung des EGMR dabei keine gleichrangigen Schutzzwecke, sondern ein gestuftes System zum Schutz der Verfahrensfairness.[29] Die benannten Schutzgegenstände Autonomie und Wahrheitsfindung werden nur insoweit geschützt, wie es für die Verfahrensfairness und die darauf aufbauende Verfahrenslegitimation erforderlich ist.[30] Daher erstreckt sich der Schutz des Grundsatzes nach dem EGMR auch nicht auf Atem-, Blut- oder Urinproben, selbst wenn der Beschuldigte autonom entscheidet, diese nicht abzugeben.[31] Zulässig bleibt folglich die Verwertung derjenigen Beweismittel, deren Existenz vom Willen des Beschuldigten unabhängig ist, selbst wenn ein Beschuldigter diese den staatlichen Behörden erst infolge einer Zwangseinwirkung überlässt.[32] Damit ist die Reichweite des Grundsatzes in der Hinsicht beschränkt, dass nicht jedes durch staatlichen Zwang erlangte Beweismittel strafprozessual unverwertbar ist.[33] Der zentrale Unterschied des nemo tenetur-Grundsatzes nach deutschem Recht liegt darin, dass der EGMR aus der Selbstbelastungsfreiheit gerade kein absolut geschütztes Schweigerecht ableitet.[34]
Zudem hat der EGMR in der Entscheidung Murray gegen Großbritannien statuiert, dass auch beweisrechtliche Schlussfolgerungen zulasten des Beschuldigten rechtmäßig gezogen werden können.[35] Voraussetzung für eine Verwendung in der Beweiswürdigung ist nach dem Murray-Urteil, dass sich das Gericht nicht ausschließlich oder hauptsächlich darauf stützt, dass sich der Beschuldigte auf sein Schweigerecht berufen hat. Andernfalls läge ein Verstoß gegen Art. 6 EMRK vor. Konkretisiert wurde diese Rechtsprechung durch das Urteil im Verfahren Telfner gegen Österreich: In Situationen, die eine Erklärung erwarten lassen, und der Beschuldigte eine solche auch ohne weiteres abgegeben könnte, können Schlüsse aus dem Schweigen zulässig sein. Gestaltet sich die Beweislage jedoch als derart schwach, dass eine solche Erklärung des Beschuldigten nicht ohne weiteres zu erwarten sei, könne sich das Schweigen auch nicht zum Nachteil des Betroffenen auswirken.[36] Beruht die Beweiswürdigung auf dem Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (wie in Österreich) kann es zulässig sein, Schlüsse aus dem Schweigen eines Angeklagten zu ziehen, sofern die Beweislage derart gestaltet ist, dass dies der einzige nach gesundem Menschenverstand ("matter of common sense") mögliche Schluss ist.[37] Dies hat der EGMR in Krumpholz gegen Österreich ausdrücklich bestätigt: Es verletzt Art. 6 EMRK nicht notwendig, wenn
aus dem Schweigen eines Angeklagten nachteilige Schlüsse gezogen werden.[38]
Dem den Schutzbereich einschränkenden Verständnis des EGMR begegnete das BVerfG jüngst mit gewissen Verrenkungen: Zwar sei die Selbstbelastungsfreiheit "notwendiger Ausdruck einer auf dem Leitgedanken der Achtung der Menschenwürde beruhenden rechtsstaatlichen Grundhaltung"[39] und daher absolut geschützt, jedoch greife die für den Beschuldigten negative Beweiswürdigung aufgrund seines Schweigens nicht in den Menschenwürdegehalt ein. Daher sei Art. 1 Abs. 1 GG nicht verletzt.[40] Das BVerfG verschiebt die durch die Unabwägbarkeit der Menschenwürde im deutschen Recht bedingte Problematik in den Schutzbereich der Selbstbelastungsfreiheit und verkürzt so ihren Anwendungsbereich.
Nach Art. 14 Abs. 1 der Richtlinie hat der deutsche Gesetzgeber den Inhalt der Richtlinie, insbesondere Art. 7, umzusetzen. Nach der Rechtsprechung des EuGH verlangt die Umsetzung einer Richtlinie in innerstaatliches Recht nicht notwendigerweise, dass ihre Bestimmungen förmlich und wörtlich in einer ausdrücklichen besonderen Gesetzesvorschrift wiedergegeben werden. Je nach dem Inhalt der Richtlinie kann ein allgemeiner rechtlicher Rahmen genügen, wenn er tatsächlich die vollständige Anwendung der Richtlinie in so klarer und bestimmter Weise gewährleistet, dass – soweit die Richtlinie Ansprüche des einzelnen begründen soll – die Begünstigten in der Lage sind, von allen ihren Rechten Kenntnis zu erlangen und diese gegebenenfalls vor den nationalen Gerichten geltend zu machen.[41]
Eine Umsetzung, die sich ausschließlich auf bereits in der Rechtsordnung eines Mitgliedstaats vorhandene, mit der umzusetzenden Richtlinie konforme Bestimmungen stützt, ist nur in sehr engen Grenzen zulässig. Wenn die Richtlinie wie im vorliegenden Fall den Zweck verfolgt, die Beschuldigten durch eine Gewährung genau umschriebener Rechte zu schützen, muss die Umsetzung in expliziter und eindeutiger Form erfolgen.[42]
Nach dem EuGH klingt dies wie folgt: "Sowohl der Grundsatz der Rechtssicherheit als auch die Notwendigkeit, die volle Anwendung der Richtlinien in rechtlicher und nicht nur in tatsächlicher Hinsicht zu gewährleisten, verlangen nämlich, dass alle Mitgliedstaaten die Bestimmungen der betreffenden Richtlinie in einen eindeutigen, genauen und transparenten gesetzlichen Rahmen aufnehmen, der in dem von dieser Richtlinie betroffenen Bereich zwingende Bestimmungen vorsieht."[43] Dies hat umso mehr zu gelten, wenn der deutsche Gesetzgeber das derzeit in Deutschland herrschende Schutzniveau aufrechterhalten will.
Neben dem Europarecht selbst drängen aber auch demokratietheoretische und verfahrenslegitimatorische Erwägungen auf eine Umsetzung. Denn die Bestimmung des wesentlichen rechtlichen Inhalts und des Umfangs der verfahrensrechtlichen Befugnisse, die dem Beschuldigten einzuräumen sind, ist in erster Linie Sache des nationalen Gesetzgebers.[44] Dabei sollte er sich (nach verfassungsrechtlicher Möglichkeit) an den europarechtlichen, vereinheitlichenden Vorgaben orientieren. Dementsprechend muss sich die deutsche Strafverfahrenswissenschaft insbesondere mit der Rechtsprechung des EGMR und der neuen Richtlinie 2016/343 intensiv auseinandersetzen und eine darauf möglichst harmonisch abgestimmte Ausgestaltung des innerstaatlichen Rechts erarbeiten. Dabei dürfte es für die jene eine enorme Herausforderung darstellen, die EU-Richtlinie 2016/343 in die durch eine Abwägungsfestigkeit und eine verhaltensorientierte Schutzbereichsbestimmung abstellende Dogmatik einzufügen. Des Weiteren führt der Grundsatz gegenseitiger Anerkennung justizieller Entscheidungen dazu, dass die aktuelle Situation in Europa, welche durch unterschiedliche Schutzniveaus geprägt ist, kaum mehr tragbar erscheint. Wenn jeder EU-Staat die Entscheidungen der anderen anerkennt, hängt die Rechtmäßigkeit im Ausland erzielter Beweisergebnisse von der normativen Konstruktion des Beweisrechts des betreffenden Landes ab und kann daher stark variieren.[45] Dies kann die Legitimation des Beweisverfahrens im Strafrecht ganz erheblich desavouieren.
Sobald sich der deutsche Gesetzgeber entscheidet, die Regelungen der EU-Richtlinie 2016/343 hinsichtlich des nemo tenetur-Grundsatzes in nationales Recht umzusetzen, sollte er sich vor allem von den Grundsätzen der Rechtssicherheit und -klarheit leiten lassen.
Denn die Richtlinie verlangt in ihrem Erwägungsgrund Nr. 48 lediglich, dass auf nationalstaatlicher Ebene Mindestvorschriften festgelegt werden und überlässt es ausdrücklich den Mitgliedstaaten, die in der Richtlinie festgelegten Rechte auszuweiten, um ein höheres Schutzniveau zu gewährleisten. Der deutsche Gesetzgeber ist folglich nicht gehalten, das in Deutschland herrschende Niveau abzusenken. Insbesondere ist er deshalb nicht verpflichtet, eine gerichtliche Befugnis zu normieren, das Schweigen in der Beweiswürdigung oder der Strafzumessung zu berücksichtigen.[46] Ganz im Gegenteil ist der deutsche Gesetzgeber wegen der verfassungsrechtlichen Verankerung des nemo tenetur-Grundsatzes verpflichtet,
dessen Schutz nicht auf ein europäisches Mindestmaß herabzusetzen.[47]
Andererseits verlangt die grenzüberschreitende strafrechtliche Zusammenarbeit in Europa, dass – auch durch die ausdrückliche Normierung elementarer Verfahrensgrundsätze – Vertrauen in die Justiz anderer EU-Länder gefördert wird.[48] Ferner droht stets, dass der durch die Rechtsprechung des EGMR konkretisierte Art. 6 EMRK bei der Auslegung der strafprozessualen Selbstbelastungsfreiheit herangezogen wird und sich das Schutzniveau auf diese Weise verschiebt.
Sollte die Richtlinie zudem nicht rechtzeitig oder nur unzulänglich umgesetzt werden, ergibt sich aus der ständigen Rechtsprechung des EuGH, dass sich der Einzelne in all den Fällen, in denen die Bestimmungen einer Richtlinie inhaltlich unbedingt und hinreichend genau sind, vor nationalen Gerichten gegenüber dem Staat auf diese Bestimmungen berufen kann.[49] Dies droht insbesondere bei vom Willen des Beschuldigten abhängigen Beweismitteln, vgl. Art. 7 Abs. 3 der Richtlinie.
[*] Gubitz + Partner, Hamburg.
[1] Siehe hierzu Böse StV 2017, 754; Beukelmann NJW-Spezial 2018, 312.
[2] Buchholz, Der nemo tenetur-Grundsatz – eine rechtsethische Untersuchung, 2018, S. 85 f.
[3] Buchholz, Der nemo tenetur-Grundsatz – eine rechtsethische Untersuchung, 2018, S. 86 ff.
[4] Lorenz StV 1997, 172, 173.
[5] BVerfG StV 1995, 505.
[6] Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, 1977, S. 260.
[7] BGHSt 14, 358, 364; BGHSt 25, 325, 331.
[8] Lorenz StV 1997, 172, 173.
[9] Siehe Buchholz, Der nemo tenetur-Grundsatz – eine rechtsethische Untersuchung, 2018, S. 13 f.
[10] Siehe hierzu BVerfGE 111, 307; BVerfGE 128, 326; BVerfGE 109, 133; BVerfG NVwZ 2007, 811; Michael/Morlok, Grundrechte, 6. Aufl. 2017, Rn. 116; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 61. Aufl. 2018, Vorb. Art. 1 MRK Rn. 3.
[11] Stellvertretend Zerbes ZStW 2017, 1038 ff.
[12] Immer noch herrschend ist die Ansicht, dass der nemo tenetur-Grundsatz in der Menschenwürde verankert sei, vgl. nur Meyer-Mews StraFo 2018, 177, 183. Dies ist zweifelhaft. Einen Zusammenhang zur rechtsethischen Menschenwürde lässt sich jedenfalls nicht herstellen, vgl. Buchholz, Der nemo tenetur-Grundsatz – eine rechtsethische Untersuchung, 2018, S. 107 ff.
[13] Exemplarisch BVerfG NJOZ 2016, 1879 ff.
[14] Vgl. auch Matt GA 2006, 323; zudem Zerbes ZStW 2017, 1038 f., 1044.
[15] EU-Richtlinie (EU) 2016/343 vom 9.3.2016 – Erwägungsgrund 1.
[16] EU-Richtlinie (EU) 2016/343 vom 9.3.2016 – Erwägungsgrund 2.
[17] EU-Richtlinie (EU) 2016/343 vom 9.3.2016 – Erwägungsgrund 4.
[18] EU-Richtlinie (EU) 2016/343 vom 9.3.2016 – Erwägungsgrund 25.
[19] EU-Richtlinie (EU) 2016/343 vom 9.3.2016 – Erwägungsgrund 25.
[20] EU-Richtlinie (EU) 2016/343 vom 9.3.2016 – Erwägungsgrund 26.
[21] KK-OWiG/Rogall, 5. Aufl. 2018, § 111 Rn. 60 ff.
[22] EU-Richtlinie (EU) 2016/343 vom 9.3.2016 – Erwägungsgrund 27.
[23] EU-Richtlinie (EU) 2016/343 vom 9.3.2016 – Erwägungsgrund 28.
[24] EU-Richtlinie (EU) 2016/343 vom 9.3.2016 – Erwägungsgrund 29.
[25] EU-Richtlinie (EU) 2016/343 vom 9.3.2016 – Erwägungsgrund 27.
[26] EGMR, Slg. 1996-I Nr. 45, Rn. 57 f. – Murray ./. Großbritannien.
[27] EGMR StV 2003, 257, 259 – Allan ./. Großbritannien; Gleß, in: Satzger/Fahl/u.a. (Hrsg.) Festschrift Beulke, 2015, 723, 724; Safferling/Hartwig ZIS 2009, 784, 786.
[28] Matt GA 2006, 323, 327; vgl. auch Meyer-Mews StraFo 2018, 177, 181; Zerbes ZStW 2017, 1041 f.
[29] Buchholz, Der nemo tenetur-Grundsatz – eine rechtsethische Untersuchung, 2018, S. 228 ff.; andere Ansicht Schlauri, Das Verbot des Selbstbelastungszwangs im Strafverfahren, 2003, S. 97.
[30] Buchholz, Der nemo tenetur-Grundsatz – eine rechtsethische Untersuchung, 2018, S. 228 ff.; Safferling/Hartwig ZIS 2009, 784, 787.
[31] EGMR, Urt. v. 17.12.1996, 19187/91 Rn. 69 – Saunders ./. Vereinigtes Königreich; EGMR NJW 2006, 3117, 3123 – Jalloh ./. Deutschland = HRRS 2006 Nr. 562.
[32] Gleß, in: Festschrift Beulke, 2015, 723, 729.
[33] Gleß, in: Festschrift Beulke, 2015, 723, 729; siehe zu unter Verwaltungszwang erlangten Informationen auch Nieto Martín/Blumenberg, in: Festschrift Beulke, 2015, 855, 860.
[34] EGMR, Urt. v. 17.12.1996, 19187/91 Rn. 69 – Saunders ./. Vereinigtes Königreich; EGMR, Slg. 1996-I Nr. 45, Rn. 47 – Murray ./. Großbritannien; EGMR, Urt. v. 5.11.2002, 48539/99 Rn. 42 – Allan ./. Großbritannien; EGMR NJW 2006, 3117 ff. – Jalloh ./. Deutschland = HRRS 2006 Nr. 562.
[35] EGMR, Slg. 1996-I Nr. 45, Rn. 47 ff. – Murray ./. Großbritannien.
[36] EGMR, Urt. v. 20.3.2001, 33501/96 Rn. 17 f. – Telfner ./. Österreich.
[37] EGMR, Urt. v. 20.3.2001, 33501/96 – Telfner ./. Österreich.
[38] EGMR NJW 2011, 201, 202 – Krumpholz ./. Österreich = HRRS 2011 Nr. 1.
[39] BVerfG NJOZ 2016, 1879, 1882 mit zahlreichen Nachweisen = HRRS 2016, 267.
[40] BVerfG NJOZ 2016, 1879, 1884 = HRRS 2016, 268.
[41] Ständige Rechtsprechung, stellvertretend EuGH, Urt. v. 10.05.2001 – C-144/99, Rn. 14, 17; EuGH, Urt. v. 14.01.2010 – C-343/08, Rn. 34, 40.
[42] So zum Verbraucherrecht EuGH, Urt. v. 10.05.2001 – C-144/99, Rn. 14.
[43] EuGH, Urt. v. 14.01.2010 – C-343/08, Rn. 40.
[44] So zum fair-trial-Grundsatz auch Jahn ZStW 2015, 549 (577).
[45] Vergleiche auch hierzu Meyer GA 2007, 15, 24 f.
[46] EU-Richtlinie (EU) 2016/343 vom 9.3.2016 – Erwägungsgrund 48.
[47] Matt GA 2006, 323, 328.
[48] Kritisch, im Ergebnis aber ähnlich R. Esser StV 2017, 243.
[49] EuGH NJW 2004, 3547, 3548 mit weiteren Nachweisen.