Alle Ausgaben der HRRS, Aufsätze und Anmerkungen ab dem Jahr 2000.
HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Juni 2017
18. Jahrgang
PDF-Download
1. Der Satz „So seltsam es klingen mag, aber seit 1944 ist kein einziger Jude nach Auschwitz verschleppt worden“ kann nicht allein dahingehend verstanden werden, dass im gesamten Verlauf des Jahres 1944 kein Mensch jüdischen Glaubens durch das nationalsozialistische Unrechtsregime in das Konzentrationslager Auschwitz verschleppt worden sei. Ebenfalls möglich ist die Deutung, dass eine Verschleppung letztmalig im Jahr 1944 stattfand. Eine auf die erstgenannte Interpretation gestützte strafgerichtliche Verurteilung wegen der öffentlichen Verbreitung des Satzes verletzt daher die Meinungs-
freiheit des Betroffenen, wenn die Gerichte nicht darlegen, weshalb der Äußerung bei verständiger Würdigung gerade der zu einer Verurteilung führende Bedeutungsgehalt zukommt.
2. Der Schutzbereich der Meinungsfreiheit erfasst auch Tatsachenbehauptungen, soweit sie Voraussetzung für die Bildung von Meinungen und nicht bewusst oder erwiesen unwahr sind. Die Trennung tatsächlicher und wertender Bestandteile einer Aussage ist im Einzelfall nur zulässig, soweit dadurch der Sinn der Äußerung nicht verfälscht wird. Im Zweifel ist eine Äußerung im Interesse eines wirksamen Grundrechtsschutzes insgesamt als Meinungsäußerung anzusehen.
3. Das Grundrecht der Meinungsfreiheit unterliegt den Schranken, die sich aus den allgemeinen Gesetzen ergeben, die nicht eine Meinung als solche verbieten, sondern dem Schutz eines ohne Rücksicht auf eine bestimmte Meinung zu schützenden Rechtsguts dienen. Eine Ausnahme vom Erfordernis der Allgemeinheit meinungsbeschränkender Gesetze hat das Bundesverfassungsgericht für Vorschriften anerkannt, die auf die Verhinderung einer propagandistischen Affirmation der nationalsozialistischen Gewalt- und Willkürherrschaft zwischen den Jahren 1933 und 1945 zielen.
4. Bei der Auslegung und Anwendung meinungsbeschränkender Gesetze haben die Fachgerichte den wertsetzenden Gehalt des Grundrechts im freiheitlich demokratischen Staat zu berücksichtigen. Es findet eine Wechselwirkung in dem Sinne statt, dass die Schranken zwar dem Grundrecht Grenzen setzen, ihrerseits aber aus der Erkenntnis der grundlegenden Bedeutung dieses Grundrechts ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden müssen.
5. Die Feststellung, ob eine Äußerung den Schutz der Meinungsfreiheit genießt, setzt voraus, dass die Äußerung in ihrem Sinngehalt zutreffend erfasst worden ist. Daher verstößt die Verurteilung wegen einer Äußerung schon dann gegen Art. 5 Abs. 1 GG, wenn diese den Sinn, den das Gericht ihr beigemessen hat, nicht besitzt oder wenn bei mehrdeutigen Äußerungen die zur Verurteilung führende Deutung zugrunde gelegt worden ist, ohne dass andere, ebenfalls mögliche Deutungen mit überzeugenden Gründen ausgeschlossen worden sind. Dabei haben die Gerichte ausgehend vom Wortlaut der Äußerung auch deren Kontext und die sonstigen Begleitumstände zu beachten.
6. Einer verfassungsgerichtlichen Überprüfung der tatsächlichen Feststellungen stehen insoweit nicht diejenigen Umstände entgegen, die bei sonstigen Tatsachenfeststellungen regelmäßig zu einer Bindung an die Feststellungen der Fachgerichte führen.
Macht sich ein im Internet unter der Überschrift „Jamel ehrt die Helden des Nordens“ veröffentlichter Beitrag den Inhalt eines im öffentlichen Raum aufgestellten Schildes zu eigen, auf dem ein vor Ort lebendes, für sein Engagement gegen Rechtsextremismus ausgezeichnetes Ehepaar als Karikatur abgebildet und ohne spezifische politische Aussage als „dumm“ und „dreist“ bezeichnet wird, so verletzt eine darauf gestützte Verurteilung des Beitragsverfassers wegen Beleidigung nicht das Grundrecht der Meinungsfreiheit, wenn das Tatgericht nach der verfassungsrechtlich gebotenen Abwägung zu dem Ergebnis kommt, dass die Belange der persönlichen Ehre der Abgebildeten überwiegen.
1. Um den mit einer Durchsuchung verbundenen schwerwiegenden Eingriff in die grundrechtlich geschützte räumliche Lebenssphäre des Einzelnen messbar und kontrollierbar zu gestalten, muss der Durchsuchungsbeschluss den Tatvorwurf und die konkreten Beweismittel so beschreiben, dass der äußere Rahmen für die Durchsuchung abgesteckt wird. Der Richter muss die aufzuklärende Straftat, wenn auch kurz, doch so genau umschreiben, wie es nach den Umständen des Einzelfalls möglich ist.
2. Der Schutzbereich des Art. 13 Abs. 1 GG erstreckt sich auch auf juristische Personen des Privatrechts, soweit deren Büro- und Geschäftsräume betroffen sind.
3. Ein Durchsuchungsbeschluss genügt den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht, wenn er keine ausreichend konkreten Angaben zum Tatzeitraum enthält. Dies ist der Fall, wenn in dem Beschluss lediglich ausgeführt ist, es beständen Anhaltspunkte für eine „über Jahre hinweg“ betriebene Beihilfe zur Steuerhinterziehung durch mehrere Mitarbeiter einer Vermögensverwaltungsgesellschaft, von denen einer im Jahre 2006 zu der Gesellschaft gewechselt habe.
4. Selbst wenn einem Durchsuchungsbeschluss stets eine Beschränkung auf nichtverjährte Straftaten immanent sein sollte, so genügt dies für eine ausreichende Konkretisierung des Tatzeitraumes jedenfalls nur dann, wenn der Beschluss die erforderlichen Angaben enthält, um für jeden Tatverdächtigen und dessen Tatbeitrag den nichtverjährten Zeitraum zu bestimmen.
Eine Aussetzung der durch das Gesetz zur Einführung einer Speicherpflicht und einer Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten (Vorratsdatenspeicherungsgesetz) neu geschaffenen strafprozessualen Vorschriften im Wege einer einstweiligen Anordnung kommt auch nach dem Urteil des EuGH vom 21. Dezember 2016 – Rs. C-203/15, „Tele2 Sverige“ – nicht in Betracht. Insoweit ist nach wie vor auf der Grundlage einer Folgenabwägung zu entscheiden (Bezugnahme auf BVerfG, Beschlüsse vom 8. Juni 2016 – 1 BvQ 42/15 und 1 BvR 229/16 – [= HRRS 2017 Nr. 409 und Nr. 410]).
Das Rechtsbeschwerdegericht legt die Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 116 StVollzG in verfassungsrechtlich bedenklicher Weise aus, wenn es eine Beschwer des Strafgefangenen verneint, obwohl die Strafvollstreckungskammer auf dessen vollzugsrechtlichen Verpflichtungsantrag – gerichtet auf die Genehmigung monatlicher Ausführungen – lediglich eine Neubescheidung angeordnet hat und damit hinter dem Antragsbegehren zurückgeblieben ist.
Die Verfassungsbeschwerde des Vorstands eines nach eigenen Angaben salafistisch geprägten Vereins gegen Ermittlungsmaßnahmen wegen des Verdachts der Finanzierung islamistischer Terroristen rechtfertigt die Verhängung einer Missbrauchsgebühr, wenn die Beschwerdeschrift verschweigt, dass Verfahrensgegenstand nicht nur die Verbringung eines von dem Verein mit Spendenmitteln erworbenen Krankenwagens nach Syrien war, sondern dass der umgebaute Krankenwagen dort als Anschlagsmittel verwendet wurde. Grob unsachlich und diffamierend ist es in diesem Zusammenhang, wenn der Beschwerdeführer gegen die Ermittlungsbehörden den Vorwurf „rassistischer Diskriminierung“ erhebt.