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HRRS
Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht
Mai 2015
16. Jahrgang
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1. Die Unschuldsvermutung kann auch durch ein freisprechendes Urteil verletzt werden. Es kommt nicht nur auf den Tenor der freisprechenden Entscheidung, sondern auch auf die Urteilsbegründung an. Eine Verletzung des Art. 6 Abs. 2 EMRK liegt – wie hier – vor, wenn die Urteilsgründe die Haltung des Gerichts zum Ausdruck bringen, dass der Angeklagte tatsächlich schuldig ist.
2. Eine Verletzung scheidet aus, wenn das Strafgericht lediglich einen nach der Beweiserhebung bestehenden Tatverdacht äußert. Es kommt insoweit entscheidend auf die gebrauchten Formulierungen an, die in den Kontext des konkreten nationalen Verfahrens einzubetten sind. Hierbei müssen die Strafgerichte besonders zurückhaltend formulieren, wenn absehbar gerichtliche Folgeverfahren (hier: familienrechtliche Verfahren) von ihren Äußerungen beeinflusst werden können.
3. Zum Einzelfall einer Verletzung durch Äußerungen, nach denen der freigesprochene Angeklagte sexuelle Übergriffe auf seine Tochter begangen habe, dem Gericht
wegen einer unzureichenden Zeugenaussage indes die hinreichende Gewissheit hinsichtlich eines bestimmten, für die Verurteilung erforderlichen Tatherganges fehlte.
4. Der Schutz der Unschuldsvermutung reicht über anhängige Strafverfahren hinaus. Er schützt den Freigesprochenen oder von einer Einstellung Betroffenen auch davor, dass staatliche Stellen ihn so behandeln, als habe er die Tat tatsächlich begangen. Dies gilt auch für familienrechtliche Sorgerechtsverfahren. Auch in diesen ist der freisprechende Tenor des Strafurteils zu beachten.
1. Das Tragen eines Ansteckers mit der Aufschrift „FCK CPS“ (als Abkürzung für „Fuck Cops“) bringt eine allgemeine Ablehnung der Polizei und ein Abgrenzungsbedürfnis gegenüber der staatlichen Ordnungsmacht zum Ausdruck und fällt damit in den Schutzbereich der Meinungsäußerungsfreiheit.
2. Der mit einer strafrechtlichen Verurteilung wegen Beleidigung verbundene Grundrechtseingriff ist nicht gerechtfertigt, wenn die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Anwendung und Auslegung des § 185 StGB als Schranke der freien Meinungsäußerung nicht beachtet worden sind.
3. Die Auslegung und Anwendung der Strafgesetze ist grundsätzlich Aufgabe der Fachgerichte. Gesetze, die in die Meinungsfreiheit eingreifen, müssen dabei jedoch so interpretiert werden, dass der prinzipielle Gehalt dieses Rechts in jedem Fall gewahrt bleibt. Es findet eine Wechselwirkung in dem Sinne statt, dass die Schranken zwar dem Wortlaut nach dem Grundrecht Grenzen setzen, ihrerseits aber aus der Erkenntnis der grundlegenden Bedeutung dieses Grundrechts im freiheitlich demokratischen Staat ausgelegt und so in ihrer das Grundrecht begrenzenden Wirkung selbst wieder eingeschränkt werden müssen.
4. Eine herabsetzende Äußerung, die nicht erkennbar auf bestimmte Personen bezogen ist, sondern ohne Individualisierung ein Kollektiv erfasst, kann unter bestimmten Umständen als Angriff auf die persönliche Ehre der Mitglieder des Kollektivs gewertet werden. Dabei ist die persönliche Betroffenheit des einzelnen Mitglieds des Kollektivs allerdings umso schwächer, je größer das Kollektiv ist.
5. Für die Annahme, eine alle Angehörigen einer Gruppe – hier: alle Polizeibeamten – erfassende Äußerung sei tatsächlich nur auf eine abgegrenzte Personengruppe bezogen – hier: bestimmte Kräfte eines örtlichen Polizeikommissariats – bedarf es außerdem konkreter Anhaltspunkte, die auf eine Individualisierung des negativen Werturteils schließen lassen. Hierfür genügt weder der Aufenthalt des Beschuldigten im öffentlichen Raum einer bestimmten Stadt, noch ein früheres Aufeinandertreffen des Beschuldigten mit konkreten Polizeibeamten, die erklärt hatten, das Tragen des Schriftzugs künftig nicht mehr tolerieren zu wollen.
1. Das Recht auf Achtung der Menschenwürde ist als tragendes Konstitutionsprinzip im System der Grundrechte zu beachten. Die Voraussetzungen eines menschenwürdigen Daseins müssen auch dem Gefangenen im Strafvollzug erhalten bleiben; der Staat ist zu den dafür erforderlichen Leistungen verpflichtet.
2. Die Unterbringung eines Strafgefangenen in einem besonders gesicherten Haftraum bei vollständiger Entkleidung und mit durchgehender Videoüberwachung berührt in besonderem Maße seine durch Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG geschützte Intimsphäre.
3. Die Unterbringung in einem besonders gesicherten Haftraum mit permanenter Videoüberwachung stellt schon für sich genommen einen erheblichen Eingriff in grundrechtlich geschützte Rechtspositionen dar. Die Wegnahme einzelner Kleidungsstücke kann in diesem Zusammenhang zwar gerechtfertigt sein, um erhebliche Gefahren für den Gefangenen wie insbesondere einen Suizid abzuwenden. Dem Gefangenen ist dann jedoch unmittelbar und gleichzeitig mit der Entkleidung Ersatzkleidung aus schnell reißendem Material zur Verfügung zu stellen, um ihm ein Mindestmaß an Intimsphäre zu bewahren und ihn nicht zum bloßen Objekt des Strafvollzuges zu degradieren.
4. Diese Wertungen decken sich auch mit der bei der Auslegung der Grundrechte des Grundgesetzes zu be-
rücksichtigenden Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sowie mit den Standards des Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe, denen bei der Überprüfung der Verhältnismäßigkeit von Haftbedingungen Indizwirkung zukommt.
5. Die verfassungsrechtlichen Vorgaben sind offensichtlich verletzt, wenn ein Gefangener nach Gewalttätigkeiten (nur) gegen die Zelleneinrichtung vollständig entkleidet und ihm Ersatzkleidung vorenthalten wird, ohne dass konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, er werde nun dazu übergehen, sich mit der Kleidung etwa selbst verletzen. Das vollständige Vorenthalten von Ersatzkleidung ist auch nicht durch bloße Ordnungsbelange zu rechtfertigen, wie etwa durch die – zumal ebenfalls durch keine konkreten Tatsachen begründete – Befürchtung, der Gefangene könnte die Kleidung zur Verstopfung der Toilette missbrauchen. Dies gilt umso mehr, wenn ein etwaiges gefährdendes Verhalten des Gefangenen angesichts einer bestehenden permanenten Videoüberwachung sofort hätte unterbunden werden können.
6. Das Recht auf effektiven Rechtsschutz ist verletzt, wenn grundrechtsrelevante Maßnahmen im Strafvollzug von den Gerichten ohne zureichende Sachverhaltsaufklärung als rechtmäßig bestätigt werden. Insbesondere dürfen die Gerichte entscheidungserhebliches Vorbringen des Gefangenen regelmäßig nicht unter Hinweis auf eine gegenteilige Sachverhaltsdarstellung der Justizvollzugsanstalt unberücksichtigt lassen. Dies gilt insbesondere, wenn der Vortrag des Gefangenen nicht abwegig erscheint und von der Anstalt – ohne substantiierten Gegenvortrag – lediglich in Abrede gestellt wird.
7. Ist die ausreichende Beheizung eines Haftraums streitig, ist regelmäßig aufzuklären, auf welche Temperatur der Raum geheizt worden ist und inwieweit die Temperatur regelmäßig kontrolliert worden ist.
8. Das Rechtsschutzinteresse eines Strafgefangenen, der sich mit der Verfassungsbeschwerde gegen Maßnahmen im Strafvollzug wendet, besteht auch nach der Entlassung des Beschwerdeführers aus der Haft fort, wenn gewichtige Grundrechtsverletzungen im Raum stehen.
9. Zur Wahrung des Grundsatzes der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde kann es erforderlich sein, im Rahmen einer Rechtsbeschwerde substantiiert zu der geltend gemachten Verletzung des materiellen Rechts vorzutragen, auch wenn nach dem Verfahrensrecht die Erhebung der allgemeinen Sachrüge ausreicht. Ein solcher Vortrag ist jedoch entbehrlich, wenn sich bereits aus dem angegriffenen Beschluss selbst eine Grundrechtsverletzung offensichtlich ergibt.
10. Der Subsidiaritätsgrundsatz erfordert es außerdem, dass der Beschwerdeführer, der eine Verletzung der gerichtlichen Amtsaufklärungspflicht geltend macht, im Rahmen seiner Verfahrensrüge vorträgt, welche Tatsachen zu ermitteln gewesen wären und auf welche Weise und aufgrund welcher Umstände dies hätte versucht werden müssen. Anderes gilt jedoch, wenn die angegriffene Entscheidung offensichtlich an einem durchgreifenden Aufklärungsmangel leidet.
11. In diesem Fall ist es mit Art. 19 Abs. 4 GG unvereinbar, wenn das Beschwerdegericht dem Beschwerdeführer trotz des offensichtlich durchgreifenden Verfahrensmangels eine Sachprüfung mit dem bloßen Hinweis auf prozessuale Formerfordernisse versagt.
1. Die Durchsuchung eines Strafgefangenen stellt einen schwerwiegenden Eingriff in dessen allgemeines Persönlichkeitsrecht dar.
2. Von einer „körperlichen Durchsuchung“, die nach § 84 Abs. 2 StVollzG nur unter engeren Voraussetzungen als eine einfache Durchsuchung zulässig ist, ist von Verfassungs wegen jedenfalls dann auszugehen, wenn die Maßnahme mit einer expliziten visuellen Kontrolle des Körpers des Gefangenen einhergeht oder wenn dabei seine Genitalien entblößt werden.
3. Die hiervon abweichende Auffassung einer Strafvollstreckungskammer, von einer körperlichen Durchsuchung im Sinne des § 84 Abs. 2 StVollzG sei nur auszugehen, wenn unter anderem die Körperöffnungen des Gefangenen inspiziert werden, verkennt grundsätzlich die Bedeutung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Gefangenen.
4. Die mangelnde Rechtswegerschöpfung steht der Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde nicht entgegen, wenn dem Beschwerdeführer die Durchführung eines Rechtsbeschwerdeverfahrens unzumutbar ist, weil ihm insoweit Prozesskostenhilfe wegen Aussichtslosigkeit der Rechtsverfolgung verweigert worden ist.
5. Das Rechtsschutzbedürfnis für eine Verfassungsbeschwerde besteht bei gewichtigen Grundrechtseingriffen – wie der mit einer Entkleidung verbundenen Durchsuchung eines Strafgefangenen – fort, wenn sich die direkte Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt typischerweise auf eine Zeitspanne beschränkt, in welcher der Betroffene nach dem regelmäßigen Geschäftsgang eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts kaum erlangen kann.
1. Zum Rechtsweg, der vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde zu erschöpfen ist, gehören alle dem Beschwerdeführer gesetzlich zur Verfügung stehenden, nicht offensichtlich unzulässigen Rechtsbehelfe. Von einem Rechtsmittel ist grundsätzlich auch dann Gebrauch zu machen, wenn zweifelhaft ist, ob es statthaft ist und im konkreten Fall in zulässiger Weise eingelegt werden kann. In derartigen Fällen ist es grundsätzlich die Aufgabe der Fachgerichte, über offene Zulässigkeitsfragen zu entscheiden.
2. Die Beschwerde gegen eine sitzungspolizeiliche Anordnung nach § 176 GVG, wonach Bildaufnahmen des Angeklagten in einem Strafverfahren im Rahmen der Presseberichterstattung nur anonymisiert („verpixelt“) veröffentlicht werden dürfen, wird von einem nennenswerten Teil der neueren fachgerichtlichen Rechtsprechung und der Literatur nicht (mehr) als unstatthaft angesehen. Die Beschwerde gehört daher zu dem vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde zu erschöpfenden Rechtsweg.
1. Wenngleich das Grundgesetz den Staat verpflichtet, Grundrechte des Einzelnen zu schützen, so besteht doch regelmäßig kein grundrechtlich begründeter Anspruch auf eine Strafverfolgung Dritter.
2. Anderes kann allerdings gelten, soweit der Einzelne nicht in der Lage ist, erhebliche Straftaten gegen seine höchstpersönlichen Rechtsgüter – Leben, körperliche Unversehrtheit, sexuelle Selbstbestimmung und Freiheit der Person – abzuwehren und ein Verzicht auf die effektive Verfolgung solcher Taten zu einer Erschütterung des Vertrauens in das Gewaltmonopol des Staates und zu einem allgemeinen Klima der Rechtsunsicherheit und der Gewalt führen kann.
3. Ein verfassungsrechtlicher Anspruch auf effektive Strafverfolgung kann auch in Betracht kommen, wenn der Vorwurf im Raum steht, dass Amtsträger bei der Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben Straftaten begangen haben oder wenn sich Personen in einem strukturell asymmetrischen Rechtsverhältnis zum Staat befinden und diesem – wie etwa im Maßregel- oder Strafvollzug – eine spezifische Fürsorge- und Obhutspflicht obliegt.
4. Die verfassungsrechtliche Verpflichtung zur effektiven Strafverfolgung bezieht sich auf das Tätigwerden aller Strafverfolgungsorgane, die – nach Maßgabe eines angemessenen Ressourceneinsatzes – zu gewährleisten haben, dass Straftäter für von ihnen verschuldete Verletzungen von Rechtsgütern auch tatsächlich zur Verantwortung gezogen werden. Die Erfüllung der Verpflichtung unterliegt der gerichtlichen Kontrolle und setzt eine detaillierte und vollständige Dokumentation des Ermittlungsverlaufs ebenso voraus wie eine nachvollziehbare Begründung der Einstellungsentscheidungen.
5. Die Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen Polizeikräfte im Zusammenhang mit einer sogenannten „Blocksperre“ im Grünwalder Stadion in München wegen Eingriffen in die persönliche Freiheit von Fußballanhängern sowie wegen körperlicher Übergriffe auf diese ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, nachdem die Ermittlungen gewissenhaft geführt worden und verbliebene Erkenntnislücken erkennbar nicht auf eine Verweigerungshaltung der Ermittlungsbehörden zurückzuführen sind.
6. Die Ermittlungsbehörden waren insbesondere nicht gehalten, ohne konkrete Verdachtsmomente alle bei dem Vorfall im Einsatz befindlichen Polizeibeamten – unter Belehrung über ihr Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO – als Zeugen zu vernehmen.