HRRS

Onlinezeitschrift für Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Strafrecht

Mai 2012
13. Jahrgang
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Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Die Aussetzung durch "Im-Stich-Lassen in hilfloser Lage" (§ 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB) im Kontext der Unterlassungsdelikte

Zugleich Besprechung von BGH v. 19.10.2011 – 1 StR 233/11, HRRS 2011 Nr. 1164

Von Prof. Dr. Georg Freund und wiss. Mitarbeiterin Dr. Frauke Timm, Philipps-Universität Marburg

I. Das Urteil des BGH (HRRS 2011 Nr. 1164) zum "Balkonsturz-Fall"

Die Entscheidung des BGH (HRRS 2011 Nr. 1164) wirft in mehrfacher Hinsicht Fragen auf. Ihr liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Der Angeklagte und das spätere Opfer lebten in einer gemeinsamen Wohnung, in der es zumindest noch einen weiteren Mitbewohner gab. Für die sieben Jahre jüngere Frau hatte der Angeklagte die "Verantwortung übernommen", was sich z. B. darin äußerte, dass er ihr Bemühen, den Schulabschluss nachzuholen, unterstützte. Bei einem gemeinsamen Gaststättenbesuch klagte das spätere Opfer über Schwindelanfälle, weshalb der Angeklagte sie nach Hause begleitete. Dort gerieten beide in Streit über die Entdeckung eines ihrer Slips bei dem erwähnten Mitbewohner, der darin endete, dass sie ins Schlafzimmer ging. Gegen 2:35 Uhr kippte die Frau über ein 84 cm hohes Balkongeländer. Wie es dazu kam, ließ sich nicht aufklären. Das Opfer hielt sich von außen mit den Händen am Balkon fest und hing dabei etwa 12 m über der darunter liegenden Straße. Die Frau schrie mehrfach laut um Hilfe und appellierte dabei namentlich an den Angeklagten. Als Reaktion war dessen Lachen zu vernehmen. Er erkannte nach den Feststellungen der Strafkammer die Todesgefahr, vertraute aber auf einen guten Ausgang. In das Geschehen griff er nicht ein, obwohl ihm dies ohne Weiteres möglich gewesen wäre,[1] sondern verließ die Wohnung. Das Opfer konnte sich nicht länger halten, stürzte in die Tiefe und verstarb beim Aufprall.

Die Strafkammer verurteilte den Angeklagten gemäß § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB i. V. m. § 221 Abs. 3 StGB wegen Aussetzung mit Todesfolge in der Form des "Im-Stich-Lassens in hilfloser Lage". Der BGH widmet sich in seiner Entscheidung maßgeblich der Fragestellung, ob die vom Instanzgericht nicht in Erwägung gezogene Strafrahmenmilderung gemäß § 13 Abs. 2 StGB im konkreten Fall in Betracht kommt, verneint dies aber unter Bezugnahme auf die "Rechtsnatur" von § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB.[2] Dabei rekurriert er auf die Unterscheidung von

"echten" und "unechten" Unterlassungsdelikten. Nur bei den letzteren soll der Täter in den Genuss der fakultativen Strafrahmenmilderung des § 13 Abs. 2 StGB kommen. Dem Täter der Aussetzung in der hier relevanten Verwirklichungsform kann nach Auffassung des Senats eine solche Privilegierung nicht zuteilwerden – handele es sich bei ihr doch um ein "echtes" Unterlassungsdelikt. Zu dieser Einschätzung gelangt der BGH auf der Grundlage des von ihm postulierten Unterscheidungskriteriums des vom Täter zu verantwortenden Taterfolgs, dessen Vorliegen allein für "unechte" Unterlassungsdelikte erforderlich sei. Weil aber das pflichtwidrige Garantenverhalten des § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB nur eine Verantwortlichkeit für die nicht abgewendete konkrete Gefahr, nicht jedoch für den daraus resultierenden Verletzungserfolg zeitige, müsse es sich bei diesem Delikt um ein "echtes" Unterlassungsdelikt handeln. Diese Schlussfolgerung für den Deliktscharakter schlage konsequenterweise auf die Klassifizierung des Qualifikationstatbestandes des § 221 Abs. 3 StGB als "echtes" Unterlassungsdelikt durch. Um indes Friktionen gerade im Vergleich zu einer Strafbarkeit gemäß § 212 StGB zu vermeiden, auf den § 13 Abs. 2 StGB anwendbar ist,[3] will der Senat eine Sperrwirkung der Mindeststrafe eines auf Konkurrenzebene zurücktretenden Delikts annehmen. Konkret würde das bedeuten: Wenn ein Totschlag durch begehungsgleiches Unterlassen unter den Bedingungen der Aussetzung durch "Im-Stich-Lassen in hilfloser Lage" begangen wird, könnte § 13 Abs. 2 StGB die ihm für sonstige Fälle des Totschlags durch begehungsgleiches Unterlassen zukommende Funktion nur sehr eingeschränkt entfalten. Die Mindeststrafe betrüge drei statt zwei Jahre. Zwei Jahre als mögliche Mindeststrafe würden dagegen wieder gelten, wenn der Totschlag durch begehungsgleiches Unterlassen unter den Bedingungen der Aussetzung durch "Versetzen in eine hilflose Lage" (§ 221 Abs. 1 Nr. 1 StGB) durch begehungsgleiches Unterlassen begangen wird.[4]

II. Einfache (aber irrelevante) Differenzierung zwischen Tun und Unterlassen – Kritik der Schwerpunktformel

1. Die Verhaltensdifferenz in empirisch-deskriptiver Hinsicht

Das Problem der Unterscheidung zwischen (aktivem) Tun und (passivem) Unterlassen ist ein leidiges.[5] Man denke etwa an den klassischen Ziegenhaarfall, den Fall des Radfahrens bei Dunkelheit ohne Licht oder des Autofahrens mit und ohne Tempomat. Die Abgrenzungsschwierigkeit entpuppt sich – wie noch zu zeigen sein wird (s. dazu unten III) – bei angemessenem Verständnis der gesetzlichen Tatbestände als normativ vollkommen irrelevantes Scheinproblem. Man kann diesen Nebenkriegsschauplatz getrost verlassen, ohne etwas Wichtiges zu versäumen.[6] Erfreulicherweise hat das zumindest für einen Teilbereich mittlerweile auch der Bundesgerichtshof anerkannt: Im Kontext der sog. Sterbehilfe spricht er der Verhaltensdifferenz zwischen Tun und Unterlassen für die rechtliche Bewertung als tatbestandsmäßiges und nicht gerechtfertigtes Tötungsverhalten keine Bedeutung zu.[7]

Dabei ist in Bezug auf den in der Außenwelt anzutreffenden empirisch-deskriptiven Befund die Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen sogar in den von manchen als problematisch empfundenen Grenzfällen bei exakter Analyse stets klar und eindeutig durchführbar: Um (aktives) Tun handelt es sich nicht nur dann, wenn jemand durch eine Körperbewegung in der Außenwelt den Ablauf eines Geschehens beeinflusst, mag er dabei auch nur geringfügige Energie aufwenden. Vielmehr liegt ein aktiver Eingriff in den sonstigen Ablauf der Welt – trotz äußerer Regungslosigkeit – selbst noch im Fall desjenigen vor, der etwa einen anderen festhält. Die Entsprechung zu derartigem (aktiven) Tun ist die Nichtbeeinflussung eines Geschehensablaufs (das "Unterlassen"). Um ein solches Unterlassen handelt es sich eindeutig etwa im Falle des Autofahrens bei eingeschaltetem Tempomaten, soweit es um das Nichtabbremsen geht,[8] oder im Falle des Schwergewichtigen, der nach dem Abklingen eines Schwächeanfalls erkennt, dass er mit seinem Körpergewicht den unter ihm liegenden Menschen zu erdrücken droht. Auch der zuletzt Genannte muss den sonstigen Ablauf der Welt ggf. i. S. der Abwendung einer bereits bestehenden Schädigungsmöglichkeit positiv beeinflussen. Das Untätig­bleiben wendet die Gefahr nicht ab. Und genau dieses Untätigbleiben ist der in Frage stehende Gegenstand rechtlicher Bewertung. Im Gegensatz dazu liegt ein klarer Fall des (aktiven) Tuns vor, wenn jemand eigene Rettungsbemühungen tätig abbricht – etwa den lebensrettenden Brief wieder vernichtet, den der Sekretär sonst auftragsgemäß am nächsten Tag zur Post gebracht hätte.[9] Diese Vernichtung schafft eine neue

Schädigungsmöglichkeit durch die Außerkraftsetzung des rettenden Kausalverlaufs. Insofern verhält es sich auf empirischer Ebene nicht anders als im Falle dessen, der den die Haltekraft für einen Lastkran erzeugenden Magneten ausschaltet und dadurch bewirkt, dass der Passant von der herabfallenden Last erschlagen wird.

Nicht selten hängt es in unserer technisierten und arbeitsteilig organisierten Welt von Zufälligkeiten ab, ob an ein Tun oder an ein Unterlassen angeknüpft werden kann, wenn es um das Vermeiden bestimmter Schädigungsmöglichkeiten geht. Das zeigt etwa der schon genannte Fall des Autofahrens mit oder ohne Tempomat. Als weiteres Beispiel kann der Produzent eines Arzneimittels oder eines Ledersprays dienen, der die Produktion und den Vertrieb ungeachtet ernstzunehmender Schadensmeldungen einfach weiterlaufen lässt, so dass es später zu einer Reihe von Todesfällen kommt. Pflegt der Produzent in seinem kleinen Betrieb noch selbst Hand anzulegen, kann an dieses aktive Tun angeknüpft werden. Ist der Betrieb dagegen größer und deshalb stärker arbeitsteilig organisiert, kommt regelmäßig nur ein Unterlassen in Betracht. Weitere Beispiele lassen sich unschwer finden.[10]

Nochmals auf den Punkt gebracht: Es kann bei der Unterscheidung von Tun und Unterlassen ausschließlich darauf ankommen, in welchem Verhältnis ein Verhalten zu den relevanten Schädigungsmöglichkeiten im jeweiligen Fall steht. (Aktives) Tun schafft – bislang nicht vorhandene – Schädigungsmöglichkeiten – (passives) Unterlassen wendet – bereits vorhandene – Schädigungsmöglichkeiten nicht ab. Die Schaffung oder die Nichtabwendung ganz bestimmter Schädigungsmöglichkeiten durch spezifisches Verhalten (als Oberbegriff für Tun und Unterlassen) bildet den sinnvollen Gegenstand rechtlicher Verhaltensbewertung, die darauf gerichtet ist, den sonst zu erwartenden Ablauf des Geschehens (im Rechtsgüterschutzinteresse) positiv zu beeinflussen. Im Hinblick auf diesen Bewertungsgegenstand sind die normativen Kriterien der Verhaltensbewertung und der Verwirklichung ganz bestimmter Tatbestände klärungsbedürftig. Nur die klare Benennung dessen, was empirisch gesehen "abläuft", bietet eine solide Basis für die notwendig werdende rechtliche Wertung der vorgenommenen oder unterlassenen Geschehensbeeinflussung durch eine bestimmte Person.[11]

Für den konkret zu besprechenden Fall ergibt sich in dieser empirisch-deskriptiven Hinsicht folgender Befund: Das Nichtergreifen von Maßnahmen zur Rettung der sich von außen am Balkon mit den Händen festhaltenden Frau aus ihrer lebensgefährlichen Lage stellt ein Unterlassen dar. Für das Opfer bestehen konkrete Schädigungsmöglichkeiten (durch Herabstürzen), die der Angeklagte nicht abwendet. Genau dieses Unterlassen ist als solches rechtlich zu bewerten. Was der in dieser Hinsicht Unterlassende ansonsten tut, spielt für diese Unterlassungsqualität keine Rolle. Das Unterlassen mutiert nicht kontrafaktisch zu einem aktiven Tun, nur weil der die Rettungsmaßnahmen Unterlassende stattdessen etwas anderes tut.[12]

Für den Gegenstand des rechtlichen Vorwurfs ist es unerheblich, ob jemand den Ort (aktiv) verlässt, an dem Rettungsmaßnahmen zu leisten sind. Eine rechtlich legitimierbare Verhaltensnorm kann auch in einem solchen Fall lediglich verlangen, das zur Rettung Erforderliche und Angemessene zu tun. Im Fall des Angeklagten bedeutet das: Er hatte unverzüglich Maßnahmen zu ergreifen, um die Frau aus ihrer gefährlichen Lage zu befreien. Und eine solche Rettungspflicht ist zumindest unter dem Blickwinkel des § 323c StGB von Bedeutung – bei anzunehmender Garantenverantwortlichkeit auch unter dem des § 221 Abs. 1 Nr. 2 und der §§ 212 Abs. 1, 13 Abs. 1 StGB.

Freilich kann sich ergeben, dass jemand zur Gefahrenvermeidung etwas zu unterlassen hat – z. B. einen bestimmten Ort zu verlassen, an dem seine bloße Anwesenheit bewirkt, dass schlimmes Unheil verhütet wird. Man stelle sich etwa vor, die Person P ist mit dem poten-

tiellen Opfer O zusammen in einem Raum. P erkennt, dass bei O eine lebensbedrohliche Panikattacke ausgelöst wird oder sich erheblich zu verschlimmern droht, wenn sie O allein lässt. Dennoch verlässt sie den Raum und lässt O hilflos zurück. Wie zu erwarten war, stirbt O. Trotz missbilligter Risikoschaffung durch aktives Tun von P liegt bei zutreffendem Tatbestandsverständnis mangels Sonderverantwortlichkeit für die zu vermeidende Gefahr (der Panikattacke[13] ) kein Tötungsdelikt nach § 212 Abs. 1 StGB vor.[14] Selbst in einem solchen Fall kann jedoch kein Zweifel daran bestehen, dass das Verlassen des Ortes den zu erwartenden Verlauf des Geschehens nachteilig verändert und eine Schädigungsmöglichkeit erzeugt, die zuvor (noch) nicht vorhanden war. Es ist nicht ratsam, diesen empirisch-deskriptiven Befund um des erwünschten Ergebnisses willen (keine Verantwortlichkeit wegen einer Tötung) kontrafaktisch zu leugnen und im Wege einer Wertung ein ("normatives") Unterlassen zu fingieren. Vielmehr gilt es, den empirischen Befund so zu nehmen, wie er ist, und die auf Tatbestandsebene notwendigen Wertungen dogmatisch angemessen "unterzubringen". An einem für die Tatbestandserfüllung durch (aktives) Tun notwendigen gefahrschaffenden Verhalten fehlt es jedenfalls nicht.[15] Wenn die Erfüllung des Tatbestands einer Tötung letztlich zu verneinen ist, muss dies anders begründet werden als damit, dass das Verhalten kein aktives (gefahrschaffendes) Tun sei. Als tragfähige – den Wertungsgesichtspunkt offenlegende – Begründung kann nur die fehlende Sonderverantwortlichkeit für die erzeugte – durch das Weggehen nicht vermiedene – Gefahr dienen. Die bei einer im Rechtsgüterschutzinteresse legitimierbaren Rechtspflicht zur Gefahrenvermeidung gegebene (allgemeine) Verantwortlichkeit für die nicht vermiedene Gefahr (und ggf. deren Folgen) genügt durchaus für eine Strafbarkeit wegen unterlassener Hilfe­leistung. Dieser Straftatbestand kann nicht etwa nur durch ein Unterlassen, sondern genauso durch entsprechend hilfspflichtwidriges aktives Tun erfüllt werden.[16]

2. Die Formel vom "Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit" als untaugliches Lösungsinstrument

Nicht weiterführend bei der Abgrenzung zwischen Tun und Unterlassen ist die leider nach wie vor verbreitete Formel vom "Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit". Zur Bewertung von Verhaltensweisen unter dem Blickwinkel, ob strafbares Tun oder strafbares Unterlassen vorliegt, soll unter Berufung auf die entsprechende ständige Rechtsprechung darauf abzustellen sein, worin der "Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit" liegt.[17] Dieser Schwerpunkt sei bei der Aussetzung durch "Im-Stich-Lassen" darin zu erblicken, dass der Täter die gebotene Hilfeleistung unterlasse, ohne dass es darauf ankomme, ob er sich (zusätzlich) entferne.[18] Das zuletzt Gesagte mag sogar zum zutreffenden Ergebnis führen, setzt je-

doch ebenso wie die Schwerpunktformel ganz allgemein voraus, dass bereits entschieden ist, welche Verhaltensweisen ein (aktives) Tun und welche ein Unterlassen darstellen. Nur wer weiß, was unter einem Tun und was unter einem Unterlassen zu verstehen ist, kann klären, worin ein "Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit" liegt.

Die Schwerpunktformel liefert also gerade kein Kriterium zur Beantwortung der aufgeworfenen Abgrenzungsfrage. Zudem setzt sie auch unter Wertungsaspekten die Lösung genau des Problems voraus, das sie zu lösen vorgibt: Bevor über einen "Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit" nachgedacht werden kann, muss vorrangig geklärt sein, ob und wenn ja, an welches Verhalten (sei es nun ein Tun oder ein Unterlassen) überhaupt ein Vorwurf geknüpft werden kann. Erst wenn bekannt ist, welches Verhalten einen spezifischen Vorwurf nach sich zieht, kann ernstlich die Entscheidung getroffen werden, worin der "Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit" zu erblicken ist. In diesem Zusammenhang ist mitunter auch festzustellen, dass ein Vorwurf z. B. überhaupt nur an ein Tun oder überhaupt nur an ein Unterlassen geknüpft werden kann oder dass der an beide Verhaltensweisen zu knüpfende Vorwurf (ungefähr) gleich gewichtig ist. In diesen Fällen liegt die Schwerpunktformel offensichtlich neben der Sache.

Wenn nun aber die nähere Untersuchung tatsächlich die Berechtigung eines unterschiedlich gewichtigen Vorwurfs in Bezug auf ein Tun und ein Unterlassen ergibt, ließe sich immerhin überlegen, ob die Formel des Schwerpunkts der Vorwerfbarkeit als eine Art Konkurrenzregel eine sinnvolle Funktion erfüllen könnte. Jedoch ist selbst das zu verwerfen: Hat jemand durch unterschiedliche Verhaltensweisen mehrere Straftatbestände oder denselben Straftatbestand mehrfach verwirklicht, muss das im Schuldspruch zum Ausdruck kommen. Es wäre verfehlt, nicht unerhebliches Unrecht nur deshalb gleichsam unter den Tisch fallen zu lassen, weil der Betreffende noch gewichtigeres begangen hat.[19] Einer Modifikation der allgemeinen Konkurrenzregeln speziell mit Blick auf ein Nebeneinander von tatbestandsverwirklichendem Tun und Unterlassen bedarf es nicht. Entsprechendes gilt – vor allem im Kontext der Strafzumessung – für die Verwirklichung eines Straftatbestands durch mehrere Handlungen oder Unterlassungen. Niemand käme (hoffentlich) auf die Idee, dem Täter einer Körperverletzung i. S. einer "Schwerpunktsetzung" nur die schwersten Schläge anzulasten, die er gegen sein Opfer geführt hat. Dementsprechend ist aber auch zu berücksichtigen, dass das tatbestandsmäßige Fehlverhalten, das zu Verletzungen des Opfers geführt hat, aus einer dem Täter insgesamt vorzuwerfenden Kombination von Tun und Unterlassen bestehen kann. Dies zeigt eindrucksvoll folgender Fall: Der Täter hat sein Opfer mit Tötungsvorsatz ins Wasser gestoßen und lässt es anschließend ertrinken. Eine Orientierung an irgendwelchen "Schwerpunkten" würde dem in dieser Konstellation verwirklichten Unrecht nicht gerecht. Der Täter hat sowohl durch tatbestandsmäßiges Tun als auch durch tatbestandsmäßiges Unterlassen ein Tötungsverhalten vorgenommen.[20] Es wäre unangemessen, ihm nur ein bestimmtes Verhalten – Tun oder Unterlassen – zum Vorwurf zu machen.[21] In der Sache handelt es sich zwar nur um eine einzige vollendete Tötung. Diese wurde jedoch durch aktives Tun und durch begehungsgleiches Unterlassen begangen und ist daher auch als solche – gerade mit Blick auf die strafzumessungsrechtliche Bedeutung beider Verhaltensmomente – vorzuwerfen. Pro­bleme mit dem Verständnis eines derartigen Delikts hat nur, wer bei Tun und Unterlassen mit verschiedenen Tatbestandskriterien arbeitet.

III. Identische Kriterien der Tatbestandsverwirklichung bei Tun und Unterlassen

Was genau vorwerfbar ist, ergibt sich primär aus der spezifischen Verhaltensnormwidrigkeit bestimmten (aktiven) Tuns und Unterlassens; sekundär fungieren als tauglicher Vorwurfsgegenstand ggf. spezifische Fehlverhaltensfolgen (z. B. als Gefährdungs- oder Verletzungserfolg). Wenn von spezifischer Verhaltensnormwidrigkeit die Rede sein soll, muss geklärt sein, wie bzw. wodurch Verhaltensnormen legitimiert werden können.

1. Rechtsgüterschutz als Legitimationsgrund für Verhaltensnormen (Ver- und Gebote)

Der kleinste allen Tatbestandsverwirklichungen gemeinsame Nenner liegt im Verstoß gegen eine rechtlich legitimierte Verhaltensnorm. Eine Straftat ohne Verhaltensnormverstoß ist undenkbar. Verhaltensnormen bedürfen aber in einem auf die Ermöglichung von Freiheit angelegten Rechtssystem, wie es unsere Verfassung vorsieht, der sachlichen Legitimation gegenüber ihrem Adressaten.[22] Eine derartige Legitimation kann überzeugend nur durch die Bezugnahme auf einen Nutzen der Normeinhaltung für berechtigte Belange des Rechtsgüterschutzes geleistet werden. Als legitimer Zweck der Etablierung von Verhaltensnormen dienen etwa der Schutz des Lebens oder der Gesundheit anderer Personen. Klärungsbedürftig ist insofern zunächst, ob bestimmte berechtigte Belange des Rechtsgüterschutzes benannt werden können und diese so gewichtig sind, dass zu ihrer Wahrung eine Verhaltens-

norm in Gestalt eines Ver- oder Gebots begründet werden kann.[23] Erst im Anschluss stellt sich die strafrechtliche Frage, ob der Verstoß gegen eine solche Verhaltensnorm tatbestandsmäßig im Sinne einer spezifischen Sanktionsnorm ist. Für deren Beantwortung muss man wissen, welcher Rechtsgüterschutzaspekt von dieser Sanktionsnorm erfasst werden soll.[24]

Beispielsweise geht es beim Tatbestand eines Tötungsdelikts nach §§ 212, 222 StGB unter Rechtsgüterschutzaspekten zunächst um das Vermeiden-Müssen einer Schädigungsmöglichkeit bezüglich fremden Menschenlebens. Für die Vollendungstat ist es zusätzlich erforderlich, dass sich die zu vermeidende Schädigungsmöglichkeit realisiert. Dabei kann die zu vermeidende Schädigungsmöglichkeit durch ein aktives Tun des Täters selbst geschaffen oder aber – falls bereits vorhanden – durch sein Unterlassen nicht abgewendet werden. Sachlich ist dabei die Legitimation einer Verhaltensnorm im Interesse des Rechtsgüterschutzes, hier des menschlichen Lebens, erforderlich, nach der die entsprechende Schädigungsmöglichkeit vermieden werden muss. Diese Legitimation einer Verhaltensnorm in Gestalt eines Ver- oder Gebots erfordert, dass die Schädigungsmöglichkeit für den konkret Handelnden oder Unterlassenden überhaupt vorhersehbar und vermeidbar ist und auch von Rechts wegen vermieden werden muss. Dabei bedarf es einer Güter- und Interessenabwägung mit nicht unerheblichen Wertungsproblemen, die jedoch sachbedingt sind. Für die Legitimation einer Verhaltensnorm ist es notwendig zu begründen, dass die Interessen des von der Schädigungsmöglichkeit Bedrohten unter den konkreten Bedingungen Vorrang vor der allgemeinen Handlungsfreiheit desjenigen haben, der sich an ein bestimmtes Ver- oder Gebot halten soll.[25] Gelingt die Legitimation einer Verhaltensnorm nicht, liegt kein tatbestandsmäßiges Tötungsverhalten vor. Dass das Verhalten (quasi-)kausal für den Tod werden kann oder geworden ist, genügt dafür nicht. Fällt die Interessenabwägung zugunsten des von einer Schädigungsmöglichkeit Bedrohten aus, sodass eine Verhaltensnorm im Lebensschutzinteresse eines anderen Menschen legitimiert ist, heißt das jedoch noch lange nicht, dass bei entsprechender Normwidrigkeit bereits ein tatbestandsmäßiges Tötungsverhalten im Sinne der §§ 212, 222 StGB vorliegt.

2. Sonderverantwortlichkeit des Normadressaten als zusätzlicher Legitimationsgrund und weiteres Spezifizierungskriterium – Das Verhaltensnormmodell der zwei Säulen

Die Existenz der unterlassenen Hilfeleistung nach § 323c StGB als Straftat – Entsprechendes gilt für § 138 StGB – zeigt, dass ein wichtiger Aspekt nicht fehlen darf, wenn ein tatbestandsmäßiges Tötungsverhalten angenommen werden soll: Wer zufällig mit einer Situation konfrontiert wird, in der ein Unfallopfer zu verbluten droht, ist zwar Adressat einer Verhaltensnorm, die im Interesse des Lebensschutzes (also des Rechtsgüterschutzes) legitimiert werden kann. Er muss also weitergehende Schädigungen des Verletzten vermeiden, sofern er dieser Pflicht ohne zu große Belastung genügen kann. Jedoch "tötet" er nicht im Sinne der §§ 212, 222 StGB, wenn er gegen eine so legitimierte Verhaltensnorm verstößt. Er verwirklicht kein entsprechendes Verhaltensunrecht. Für die versuchte und auch für die vollendete Tötung im Sinne dieser Vorschriften bedarf es der Verletzung einer besonderen Rechtspflicht.[26]

Was das Besondere an manchen Rechtspflichten (Verhaltensnormen) ist, wird bei näherer Betrachtung der Legitimationsgründe von Verhaltensnormen deutlich. Dann zeigt sich, dass es zwei Typen von Verhaltensnormen gibt, die sich unter Legitimationsaspekten klar unterscheiden. Grundlegend für die Legitimation einer jeden Verhaltensnorm ist, wie gesagt, zunächst der Rechtsgüterschutz – genauer: der Nutzen der Normeinhaltung für die Belange des Rechtsgüterschutzes. Z. B. legitimiert sich die Norm "Rette den Verletzten" durch die auf diese Weise mögliche Rettung menschlichen Lebens. Dabei handelt es sich um eine Verhaltensnorm, die auf einer Säule – und zwar der des Rechtsgüterschutzes – ruht. Das ist der Verhaltensnorm-Typ 1. Nun gibt es aber auch Verhaltensnormen, die sich zusätzlich auf eine zweite Säule stützen. Wer z. B. die Lebensgefahr, die es abzuwenden gilt, pflichtwidrig heraufbeschworen hat, ist für diese Gefahrenabwendung besonders verantwortlich (im Beispielsfall: Sonderverantwortlichkeit kraft Ingerenz). Ebenso sonderverantwortlich für die in Frage stehende Gefahrenabwendung sind die Eltern, die ihr Kind verhungern lassen. Hier wird nicht irgendjemand im Güterschutzinteresse in die Pflicht genommen, sondern derjenige, der für die in Frage stehende Gefahrenvermeidung aus einem besonderen Sachgrund speziell einstehen

muss. Entsprechend verhält es sich bei dem, der sich bereit erklärt hat, bestimmte Gefahren abzuwenden. Mit seiner Inpflichtnahme wird er beim Wort genommen und eben als insofern Sonderverantwortlicher – als entsprechender "Garant" – mit einer qualifizierten Verhaltensnorm belastet. Er verstößt gegen den Verhaltensnorm-Typ 2, also gegen eine Verhaltensnorm, die auf zwei Säulen ruht: dem Rechtsgüterschutz und der Sonderverantwortlichkeit.[27]

Für die Verwirklichung der Tatbestände des Totschlags, der fahrlässigen Tötung, der Körperverletzung usw. ist ein Verstoß gegen den Normtyp 2 nötig, der sich durch den Rechtsgüterschutz und die Sonderverantwortlichkeit für die in Frage stehende Gefahrenvermeidung legitimiert. Bei einfach fundierten Verhaltensnormen kommen nur die unterlassene Hilfeleistung und die Nichtanzeige geplanter Straftaten in Betracht.[28] Töten, Verletzen usw. meint nur Verstöße gegen das Leben und die Köperintegrität schützende Verhaltensnormen, die sich zugleich auf die Sonderverantwortlichkeit ("Garantenverantwortlichkeit") des Normadressaten stützen. Ob ein Verstoß gegen ein Ver- oder Gebot vorliegt, ist dagegen unerheblich.

Als Beispiel kann eine Konstellation der schon in die Wege geleiteten Anzeige eines geplanten Mordes dienen: Jemand hat die entsprechende Anzeige bereits in einem Brief verschlossen auf seinen Schreibtisch gelegt und den Sekretär beauftragt, den Brief am nächsten Tag zur Post zu bringen. In der Nacht zuvor vernichtet der Betreffende jedoch den Brief, der ansonsten das Leben des Bedrohten gerettet hätte. In einem solchen Fall wird zwar das Vernichten des Briefes als aktives Tun durchaus (quasi-)kausal für die Nichtanzeige und den späteren Tod des Opfers. Mangels begründbarer Sonderverantwortlichkeit für das in Frage stehende Vermeiden der dem Opfer drohenden Lebensgefahr liegt aber nur ein Verstoß gegen eine einfach fundierte Verhaltensnorm vor. Es handelt sich also auch hier nur um ein scheinbares "Begehen" im Sinne eines Tötungsdelikts (bzw. einer entsprechenden Beihilfe). Tatsächlich verwirklicht der Verhaltensnormverstoß durch aktives Tun nur den Unwertgehalt der unterlassenen Verbrechensanzeige nach § 138 StGB, die selbstverständlich neben dem aktiven Tun auch nach dem Wortlaut ohne Weiteres gegeben ist.[29] Daneben ist allenfalls noch an eine unterlassene Hilfeleistung zu denken.

Ein weiteres Beispiel betrifft die interessante Konstellation der Ingerenz beim Begehungsdelikt:[30] Jemand entzieht dem Stolpernden den bereits ausgestreckten rettenden Arm durch – in der Erscheinungsform unproblematisches – aktives Tun, indem er ihn schnell wieder zurücknimmt. Infolgedessen stürzt das Opfer und verletzt sich, was der Handelnde vorausgesehen hat. In einem solchen Fall wird zwar das Entziehen des Armes als aktives Tun kausal für den bei dem Opfer eintretenden Körperverletzungserfolg. Indessen lässt sich eine Sonderverantwortlichkeit des den Arm Wegziehenden für die dem Stolpernden aufgrund des Stolperns (!) drohende Körperverletzungsgefahr nicht begründen (es sei denn, es handelte sich z. B. um Mutter und Kind). Mangels Sonderverantwortlichkeit liegt in einem solchen Fall nur eine Tatbestandsverwirklichung nach § 323c StGB vor. Eine andere Beurteilung ergibt sich jedoch bei phänomenologisch identischem Verhalten, wenn der den Arm Wegziehende den anderen zuvor fahrlässig stolpern ließ. Trotz naturalistisch identischen Verhaltens verwirklicht er den Tatbestand der Körperverletzung nach § 223 Abs. 1 StGB in der Form des aktiven Tuns. Denn die für die Tatbestandsverwirklichung normativ entscheidende Sonderverantwortlichkeit ergibt sich aus dem pflichtwidrigen Vorverhalten.

3. Begriffliche Verwirrungen des BGH: "Echtes" und "unechtes" Unterlassen – Schein und Sein strafrechtlicher Verantwortlichkeit für Fehlverhalten und spezifische Fehlverhaltensfolgen

In der zu würdigenden Entscheidung des BGH finden sich gleich mehrere Aussagen, die nicht unwidersprochen bleiben dürfen. Diese beruhen entweder auf nicht hinterfragten Prämissen oder erweisen sich bei näherer Betrachtung als strafrechtsdogmatisch nicht haltbar: Der BGH möchte die Entscheidung über die Anwendbarkeit der (fakultativen) Rahmenmilderung des § 13 Abs. 2 StGB davon abhängig machen, ob es sich um ein "echtes" oder um ein "unechtes" Unterlassungsdelikt handelt. Für "echte" Unterlassungsdelikte gelte § 13 StGB nicht. "Echte" Unterlassungsdelikte müssten "keinen Taterfolg" aufweisen.[31] Und genau so verhalte es sich bei der Aussetzung. Das "pflichtwidrige Garantenverhalten" führe im Rahmen von § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB "nicht zu einer Verantwortlichkeit für den daraus resultierenden Verletzungserfolg, sondern (nur) zur strafrechtlichen Haftung für die nicht abgewendete konkrete Gefahr". Sei aber "aus diesen Gründen § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB echtes Unterlassungsdelikt, sodass § 13 StGB nicht anwendbar" sei, könne für den Qualifikationstatbestand des § 221 Abs. 3 StGB nichts anderes gelten.[32] Dem drohenden Wertungswiderspruch bei Vorsatz hinsichtlich der Todesfolge mit der Möglichkeit, § 13 Abs. 2 StGB anzuwenden, möchte der BGH mit einer angenommenen Sperrwirkung

des zurücktretenden Delikts der Aussetzung mit Todesfolge begegnen.[33]

Zu beanstanden ist an diesen Aussagen bereits die gerade mit Blick auf die dafür aufgestellten Prämissen erheblich missverständliche Verwendung der Begriffe "echte" und "unechte" Unterlassungsdelikte. Der BGH geht davon aus, "unechte" Unterlassungsdelikte seien durch das Kriterium eines tatbestandlichen (Verletzungs-)Erfolgs, für den der Täter die Verantwortung trage, zu erkennen. "Echte" Unterlassungsdelikte seien demgegenüber dadurch zu identifizieren, dass bei ihnen ein solcher vom Unterlassungstäter zu verantwortender Taterfolg in Gestalt eines Verletzungserfolgs fehle bzw. fehlen könne. Indessen drängt sich nicht nur die Frage auf, weshalb der für die "unechten" Unterlassungsdelikte als spezifisch angesehene Taterfolg nicht auch in einem konkreten Gefahrerfolg liegen kann. Dann wäre nämlich die Aussetzung schon als Grunddelikt nach den Prämissen des BGH ein "unechtes" Unterlassungsdelikt.[34] Ebenso naheliegend ist die Nachfrage, wie es zu erklären sein soll, dass ein pflichtwidriges Garantenverhalten zwar eine Verantwortlichkeit für den aussetzungsrelevanten Gefahrerfolg begründet, aber keine für den Verletzungserfolg, der genau aus der zu verantwortenden Gefahr als Durchgangsstadium resultiert. Nicht mehr nachvollziehbar ist daher nach den Vorgaben des BGH die Verurteilung eines Täters wegen Aussetzung mit Todesfolge, wenn er für den Todeserfolg doch angeblich gar nicht verantwortlich sein soll. Hier drängt sich der Eindruck auf, dem BGH sei es vorrangig um die Erzielung eines bestimmten Ergebnisses (der Ablehnung einer Strafrahmenmilderung) gegangen. Von einer wünschenswerten strafrechtsdogmatischen Problembehandlung bleibt am Ende wenig übrig. Konkret: Mit dem "Kriterium" des BGH, "echte" Unterlassungsdelikte seien daran zu erkennen, dass sie keinen Taterfolg aufweisen (müssen), wären beispielsweise die versuchte Tötung oder Köperverletzung durch begehungsgleiches Unterlassen als "echte" Unterlassungsdelikte zu klassifizieren. Damit verlöre die angestrebte Differenzierung zwischen "echten" und "unechten" Unterlassungsdelikten aber offensichtlich jeglichen Sinn.

Auf eine in diesem Zusammenhang wichtige Differenzierung darf aber keinesfalls verzichtet werden: Die Differenzierung zwischen begehungsgleichem und nichtbegehungsgleichem Unterlassen. Soweit ersichtlich ist die Kennzeichnung des begehungsgleichen (Garanten-)Unterlassens als "unechtes" Unterlassen und die des nichtbegehungsgleichen (Jedermanns-)Unter­lassens als "echtes" Unterlassen am weitesten verbreitet. Es ist zwar dringend ratsam, klarer zu sagen, was man meint.[35] Aber wenn schon die überkommenen Begriffe des "unechten" und des "echten" Unterlassungsdelikts verwendet werden, dann sollte sich ihr Gebrauch zumindest an den Kriterien des begehungsgleichen und des nichtbegehungsgleichen Unterlassens orientieren.[36] Andernfalls ist die Begriffsverwirrung perfekt – wie die Entscheidung des BGH erneut eindrucksvoll belegt.

Begehungsgleiches Unterlassen ist durch den Verstoß gegen eine Verhaltensnorm gekennzeichnet, die nicht allein durch die berechtigten Belange des Rechtsgüterschutzes legitimiert ist, sondern auch durch die Sonderverantwortlichkeit (Garantenverantwortlichkeit) des Normadressaten für die in Frage stehende Gefahrenvermeidung. Nichtbegehungsgleiches Unterlassen erfordert dagegen lediglich den Verstoß gegen eine Verhaltensnorm, die das Vermeiden-Müssen einer bestimmten Schädigungsmöglichkeit im Rechtsgüterschutzinteresse verlangt. Derartiges nichtbegehungsgleiches Unterlassen wird im StGB – soweit ersichtlich – nur in den §§ 138, 323c StGB erfasst.[37] Aussetzung durch "Im-Stich-Lassen in hilfloser Lage" (§ 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB) ist demnach selbstverständlich ein begehungsgleiches Unterlassungsdelikt. Den Tatbestand verwirklicht ausschließlich derjenige, der das Opfer "in seiner Obhut hat oder ihm sonst beizustehen verpflichtet ist". Die zugrunde liegende Verhaltensnorm fußt damit zweifelsohne auf zwei Säulen: Ohne das gleichzeitige Vorliegen einer rechtlichen Sonderverantwortlichkeit desjenigen, der einen anderen im Stich lässt, verhält sich dieser nicht tatbestandsmäßig-missbilligt im Sinne der Aussetzung.

Für diesen Deliktstyp des begehungsgleichen Unterlassens gibt es eine lediglich klarstellende Regelung in § 13 Abs. 1 StGB. Entsprechendes begehungsgleiches Unterlassen erfüllt auch ohne diese Regelung z. B. den Tatbestand des Totschlags nach § 212 Abs. 1 StGB. Wenn etwa die Eltern ihr kleines Kind bei bitterer Kälte aus dem warmen Haus in den Wald laufen lassen, begehen sie eine Aussetzung nach § 221 Abs. 1 Nr. 1 StGB; wenn das Kind im Wald erfriert, sind sie verantwortlich wegen Aussetzung mit Todesfolge (§ 221 Abs. 1 Nr. 1, Abs. III StGB); lassen sie es mit Tötungsvorsatz zu, dass das Kind in den Wald läuft, begehen sie jedenfalls auch einen Totschlag nach § 212 Abs. 1 StGB. § 13 Abs. 1 StGB stellt das nur klar, begründet jedoch nicht erst die entsprechende Strafbarkeit. § 13 Abs. 2 StGB ermöglicht im Grundsatz für alle Fälle begehungsgleichen Unterlassens eine Milderung des Strafrahmens. Ob und inwieweit eine solche unterlassungsspezifische Strafmilderung letztlich sachgerecht ist, muss im Einzelfall geklärt werden.[38] Eine Einschränkung des Anwendungsbereichs des § 13 Abs. 2 StGB kann sich nur durch eine die allgemeine Norm verdrängende speziellere Regelung ergeben.[39]

4. Zum Stellenwert des Gesetzlichkeitsgrundsatzes für ein angemessenes Tatbestandsverständnis

Nach dem Gesagten können zumindest im Grundsatz alle Tatbestände sowohl durch aktives Tun als auch durch Unterlassen erfüllt werden. Die dafür maßgeblichen Kriterien sind für beide naturalistischen Verwirklichungsformen vollkommen identisch. Wer das bestreitet und behauptet, im Falle des Unterlassens seien andere – vor allem zusätzliche – Kriterien maßgeblich,[40] muss eine dann auftretende Unstimmigkeit erklären:

Der Gesetzlichkeitsgrundsatz des Art. 103 Abs. 2 GG verlangt eine gesetzliche Anordnung der Strafbarkeit durch die Normierung eines bestimmten Straftatbestands, der festzulegen hat, bei Erfüllung welcher Tatbestandsvoraussetzungen die Rechtsfolge eingreifen soll. Beispielsweise erfasst § 212 Abs. 1 StGB die (vorsätzliche rechtlich missbilligte) Tötung eines anderen Menschen – und zwar abstrakt formuliert durch die Normierung der Tatbestandsvoraussetzungen T1 bis T3. Wer nun behauptet, im Fall des Unterlassens seien die Tatbestandsvoraussetzungen T1, T2 und T4 zu erfüllen, kreiert dadurch einen neuen – gesetzlich so nicht vorgesehenen – Tatbestand und verstößt gegen den Gesetzlichkeitsgrundsatz.

Diese Unstimmigkeit mit ihrem Verstoß gegen den Gesetzlichkeitsgrundsatz kann auch nicht durch den Hinweis auf die angeblich durch § 13 Abs. 1 StGB "normierte" Garantenstellung bzw. Garantenverantwortlichkeit als zusätzliches Merkmal begehungsgleichen Unterlassens beseitigt werden. Denn § 13 Abs. 1 StGB hat – worauf die Rechtsprechung zutreffend großen Wert legt – zumindest regelmäßig ohnehin keine strafbarkeitskonstitutive Bedeutung.[41] Vielmehr ist nach Wortlaut und Ratio bereits des jeweiligen Straftatbestands (auch ohne Heranziehung des § 13 Abs. 1 StGB) bestimmtes Unterlassen genauso tatbestandserfüllend wie entsprechendes Tun. Wäre dem nicht so, läge in der Bestrafung nach diesem Tatbestand ein Verstoß gegen das Erfordernis einer gesetzlichen Strafbarkeitsanordnung. Die bloße – ungefähre – Gleichwertigkeit des Unterlassens änderte nichts daran, dass ein Tatbestand erfüllt würde, der gesetzlich nicht vorgesehen ist. Dabei kann § 13 Abs. 1 StGB kaum als ausreichende Ermächtigungsgrundlage für eine strafbarkeitsbegründende Analogie zu den Tatbeständen der Begehungsdelikte gesehen werden. Die verbreitete Auffassung, der Täter des Begehungsdelikts und der Täter des begehungsgleichen Unterlassungsdelikts erfüllten verschiedene Tatbestände,[42] ist daher mit Art. 103 Abs. 2 GG schwerlich in Einklang zu bringen, da im StGB – bzw. in strafrechtlichen Nebengesetzen – regelmäßig nur ein Tatbestand normiert ist (wie z. B. in § 212 Abs. 1 StGB).

Ein solcher Verstoß gegen den Gesetzlichkeitsgrundsatz kann nur vermieden werden, wenn es gelingt aufzuzeigen, dass derselbe gesetzlich normierte Tatbestand – z. B § 212 Abs. 1 StGB – ganz genauso durch begehungsgleiches Unterlassen erfüllt wird wie im Falle aktiven Tuns. Dazu ist nur das hier vorgestellte Konzept in der Lage.[43] Das Unterlassungsdelikt ist nach dem Gesagten nicht etwa ein aliud gegenüber dem entsprechenden Handlungsdelikt oder auch nur ein Minus. Vielmehr sind die Kriterien der Tatbestandsverwirklichung für Tun und Unterlassen vollkommen identisch. Für fast alle Tatbestände des Besonderen Teils ist ein Verstoß gegen eine auf zwei Säulen gegründete Verhaltensnorm nötig. Tötung, Körperverletzung, Sachbeschädigung usw. erfor-

dern den Verstoß gegen eine qualifizierte Verhaltensnorm. Diese Tatbestände erfordern das Vermeiden-Müssen einer entsprechenden Schädigungsmöglichkeit bei gegebener Sonderverantwortlichkeit ("Garantenverantwortlichkeit"). Bei fehlender Sonderverantwortlichkeit liegt trotz aktiven Tuns allenfalls ein tatbestandsmäßiges Verhalten im Sinne der §§ 323c, 138 StGB vor. Die Verwirklichung dieser Tatbestände ist nicht nur in der Verhaltensform des Unterlassens möglich. Auch Handeln im Sinne von aktivem Tun kann diese Tatbestände erfüllen. Das begehungsgleiche Unterlassen und das Begehen im Sinne der Tötung, Körperverletzung usw. beinhalten im Verhältnis zum nichtbegehungsgleichen Unterlassen und zum – mangels Sonderverantwortlichkeit – ausnahmsweise nichtbegehungsgleichen (nur scheinbaren) "Begehen" ein spezifisches Mehr.[44] Da Tun und Unterlassen einheitlichen normativen Kriterien der Tatbestandsverwirklichung genügen, sind sie auch vollkommen gleichwertige Verwirklichungsformen. Das Unterlassungsdelikt ist nicht etwa per se von minderem Unwertgehalt.

IV. Die Problematik der Straf-(Rahmen-)Milderung beim Unterlassen

1. § 13 Abs. 2 StGB und Erschwerung normgemäßen Verhaltens als Strafmilderungsgrund

In dem Beitrag des Mitautors in der FS Herzberg[45] mit einem Gesetzesvorschlag zur Reform des § 13 StGB wurde bewusst auf eine dem bisherigen § 13 Abs.  2 StGB entsprechende fakultative Strafrahmenmilderung verzichtet.[46] Würde diesem Vorschlag Folge geleistet, wären nicht wenige Scheinprobleme erledigt, deren Bearbeitung für die angemessene strafrechtliche Reaktion nicht wirklich hilfreich ist. Verbreitet findet sich der Gedanke, ein Verhaltensnormverstoß durch Unterlassen wiege weniger schwer als ein solcher durch aktives Tun: Beim Unterlassen sei eine größere Anstrengung für normgemäßes Verhalten erforderlich als bei der Tatbestandsverwirklichung durch Tun. Verhaltensnormwidriges Unterlassen falle in der Regel oder zumindest oft leichter.[47]

Als Beispiel für einen gegenüber dem Unterlassen angeblich erhöhten Unwertgehalt aktiven Tuns taucht bisweilen der Vergleich des Ertränkens mit dem Ertrinkenlassen auf.[48] Indessen leitet dieses Beispiel schon durch die suggestive Begriffswahl leicht in die Irre. Der Begriff des Ertränkens deutet auf eine längerdauernde Einwirkung auf das Opfer hin – etwa auf ein andauerndes Drücken des Kopfes unter Wasser. Jedoch umfasst die Herbeiführung des Ertrinkungstodes gerade auch den – in der Versuchung des Augenblicks nahezu reflexartig vorgenommenen – leichten Schubs, auf den hin das Opfer in einen reißenden Strom fällt und darin der Naturgewalt durch Ertrinken erliegt. Wird dieser Fall nunmehr mit dem Verhalten der Mutter verglichen, die ihr Kleinkind, das sie zum Baden mit ins Wasser genommen hat, seelenruhig über eine gewisse Zeit bei dessen Todeskampf in einem stillen Gewässer beobachtet, wird schnell klar: Der Unwertgehalt einer Deliktsbegehung durch aktives Tun ist nicht automatisch größer. Dementsprechend wäre die Annahme offensichtlich verfehlt, in Fällen der Tatbestandsverwirklichung durch Unterlassen sei der Unwertgehalt immer geringer.[49] Hingegen ist es durchaus denkbar, dass die Deliktsverwirklichung durch Unterlassen im Unwertgehalt derjenigen durch aktives Tun jedenfalls vollkommen entspricht. Mindestens muss der Unwertgehalt der jeweiligen Tatbestandsverwirklichung uneingeschränkt vorliegen, weil andernfalls schon die entsprechende Strafbarkeit zu verneinen wäre.

Eine auch nur fakultative Strafrahmenmilderung speziell für Unterlassungsfälle könnte vor diesem Hintergrund allenfalls dann noch berechtigt sein, wenn sich ergäbe, dass bestimmte Erschwerungen normgemäßen Verhaltens ausschließlich in manchen Unterlassungsfällen vorkommen. Sobald sich entsprechende Erschwerungsgründe auch bei manchen Tatbestandsverwirklichungen finden lassen, die durch (aktives) Tun erfolgen, verliert eine unterlassungsspezifische Milderungsvorschrift ihre Berechtigung. Diese brächte zumindest die Gefahr mit sich, wesentlich Gleiches ungleich zu behandeln. Der "Ausweg" einer analogen Anwendung des § 13 Abs. 2 StGB auf solche Tatbestandsverwirklichungen durch Tun wäre zwar gangbar, aber eine Notlösung. Sachgerechte Gesetzgebung sollte hier von vornherein mit einer dem Pro­blem Rechnung tragenden allgemeinen Regelung arbeiten.

Dass es auch bei Tatbestandsverwirklichungen durch (aktives) Tun herkömmlich als "unterlassungsspezifisch" aufgefasste Erschwerungen normgemäßen Verhaltens geben kann, wird deutlich, wenn man sich von einem verbreiteten Vorurteil löst, welches lautet: Jeder könne doch immer die Tatbestandsverwirklichung durch (aktives) Tun ganz einfach durch ein Unterlassen vermeiden; das koste jedenfalls keine besondere Anstrengung. Dagegen könnten spezielle Probleme auftreten, die Tatbestandsverwirklichung durch (begehungsgleiches) Unterlassen zu vermeiden, weil es u. U. schwer falle, das erkanntermaßen[50] rechtlich Gebotene in die Tat umzusetzen. Indessen lehrt die Erfahrung, dass es durchaus mit erheblicher Anstrengung verbunden sein kann, bestimmte Handlungen nicht vorzunehmen. Schon der Volksmund sagt nicht ohne Grund, jemandem sei z. B. "die Hand ausgerutscht", er habe sich "nicht ausreichend im Griff gehabt" oder er "hätte sich besser zügeln müssen". Insbesondere im Zusammenhang mit "Affekttaten" ist es ein geläufiges Phänomen, dass sich der Täter u. U. sogar erheblich anstrengen muss, wenn er die Tatbestandsverwirklichung vermeiden möchte.[51] In dieselbe Richtung weisen ganz allgemein Erkenntnisse der Verhaltensforschung: Danach laufen nicht wenige Körperbewegungen in gewisser Weise "automatisiert" ab – jedenfalls sind diese nicht (aktuell) willensgesteuert. Vielmehr muss sich der Betreffende aktiv einmischen, wenn er an dem ansonsten "natürlich" ablaufenden Geschehen etwas ändern möchte.[52] In derartigen Fällen liegt zwar rein äußerlich klar ein aktives Tun vor. Auch werden gegenwärtig wohl nur wenige bereit sein, wegen des "internen" Verhaltenssteuerungsproblems ein begehungsgleiches Unterlassungsdelikt anzunehmen, auf das § 13 Abs. 2 StGB (direkt) Anwendung finden könnte. Dennoch muss für die angemessene strafrechtliche Reaktion die vorhandene spezifische Erschwerung normgemäßen Verhaltens berücksichtigt werden, die – was zu zeigen war – gerade nicht auf Fälle der Tatbestandsverwirklichung durch (begehungsgleiches) Unterlassen im traditionellen Sinne beschränkt ist.

In der Sache handelt es sich hierbei um die – allgemein für die Bemessung der Strafe relevante – Frage der Einschränkung von Normbefolgungsfähigkeit: Sowohl beim Tun als auch beim Unterlassen können sich dem Einzelnen auch unterhalb der Schwelle der §§ 20, 21 StGB in unterschiedlichem Maße Gründe entgegenstellen, die ihm individuell die Befolgung der konkreten Verhaltensnorm erschweren. Dabei spielen sowohl Personeninterna (eine besonders rechtsfeindliche Gesinnung oder aber ein stark ausgeprägtes Gewissen)[53] als auch äußere Umstände des Falles (reißender Strom/stilles Gewässer) eine Rolle. Damit geht es sachlich allein um die Strafzumessungsfrage, ob im Einzelfall ein spezieller Milderungsgrund eingreift und wie groß ggf. der Abschlag von der ansonsten verwirkten Strafe zu sein hat. Mit einer Strafrahmenmilderung ist insoweit wegen der begrenzten Orientierungsleistung der einzelnen Strafrahmen bei der konkreten Strafzumessungsentscheidung kein weiterführender Erkenntnisgewinn verbunden.[54] Die Gewährung der Strafrahmenmilderung droht vielmehr zu einem Scheinsieg des Verurteilten zu werden, weil jedenfalls nicht ausgeschlossen ist, dass das Gericht bisweilen zwar die Strafrahmenmilderung zugesteht, dann aber doch genau die Strafe verhängt, die auch ohne Rahmenmilderung verhängt worden wäre.[55] Auch fehlt praktisch durchweg ein Bedürfnis für eine solche Strafrahmenverschiebung. Denn die Strafrahmen sind ohnehin regelmäßig "nach unten" offen. Damit ist es auch ohne eine vorangegangene Strafrahmenmilderung leicht möglich, auf das begehungsgleiche Unterlassen angemessen zu reagieren und einen etwa geminderten Verhaltensunwert bei der Strafzumessung genauso zu berücksichtigen wie in entsprechenden Fällen der Tatbestandsverwirklichung durch aktives Tun.[56] W enn jedoch das Mindestmaß der angedrohten Strafe zu hoch angesetzt sein sollte, muss einem Milderungsbedürfnis de lege ferenda durch eine allgemeine und gerade nicht durch eine unterlassungsspezifische Vorschrift Rechnung getragen werden. Denn mögliche Gründe für eine Erschwerung normgemäßen Verhaltens sind vollkommen unabhängig von der Klassifizierung als Begehen, begehungsgleiches oder nichtbegehungsgleiches Unterlassen. Schon de lege lata ist notfalls im Wege der verfassungskonformen Restriktion der zu streng geratenen Strafvorschrift die angemessene Rechtsfolge sicherzustellen.

Eine alleinige Begrenzung von Fragen der eingeschränkten Normbefolgungsfähigkeit unterhalb der Schwelle der §§ 20, 21 StGB auf den Bereich der Unterlassungsproblematik in Gestalt von § 13 Abs. 2 StGB setzt überdies falsche Signale: Die gerade auch für zahlreiche Konstellationen der Deliktsverwirklichung durch aktives Tun strafzumessungsrelevante Einschränkung individueller Normbefolgungsfähigkeit gerät leicht ins Vergessen,

wenn der Gesetzgeber sie lediglich im Bereich des Unterlassens hervorhebt.

2. Zum Umgang mit § 13 Abs. 2 StGB de lege lata

Da § 13 Abs. 2 StGB de lege lata nun einmal eine "unterlassungsspezifische" Strafrahmenmilderung vorsieht, muss geklärt werden, wann eine solche grundsätzlich in Betracht kommt. Um die gesetzgeberische Entscheidung nicht zu hintertreiben, müssen alle nach Wortlaut und Ratio erfassbaren Unterlassungsfälle einbezogen werden. Ausgrenzungen mit der fragwürdigen Ãœberlegung, § 13 Abs. 2 StGB gelte nicht für "echte" Unterlassungsdelikte bei gleichzeitigem Fehlen echter Differenzierungskriterien gegenüber den "unechten" Unterlassungsdelikten, liegen neben der Sache. Wenn man überhaupt davon ausgeht, dass im Falle der Tatbestandsverwirklichung durch Unterlassen mit besonderen Erschwernissen normgemäßen Verhaltens verstärkt zu rechnen ist, gilt das für sämtliche Unterlassungsfälle – seien diese nun "echt" oder "unecht" bzw. treffender: begehungsgleich oder nichtbegehungsgleich. Das normgemäße Verhalten bei der unterlassenen Hilfeleistung fällt mit Sicherheit nicht per se leichter als das des Totschlags durch begehungsgleiches Unterlassen. Der Sachgrund ist – wenn überhaupt – gleichermaßen vorhanden. Entsprechendes gilt aber auch für die Aussetzung in der Form des Versetzens in eine hilflose Lage durch begehungsgleiches Unterlassen nach § 221 Abs. 1 Nr. 1 StGB und ganz genauso für die Aussetzung durch "Im-Stich-Lassen in hilfloser Lage" nach § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB.

Ein tragfähiger Grund für den Ausschluss der fakultativen Strafmilderung des § 13 Abs. 2 StGB bei bestimmten Unterlassungstatbeständen kann daher nur in einem liegen: Der Gesetzgeber hat denkbaren unterlassungsspezifischen Erschwerungen normgemäßen Verhaltens bereits bei der Zuordnung eines speziellen Strafrahmens zu ganz bestimmten Unterlassungsfällen Rechnung getragen. Plausibel und hinreichend sicher gilt das aber allenfalls für die Tatbestände der §§ 138, 323c StGB. Bei diesen Tatbeständen kann immerhin vermutet werden, dass der Gesetzgeber den dort vorgesehenen Strafrahmen für die praktisch ganz im Vordergrund stehenden Unterlassungsfälle mit ausreichender Deutlichkeit angeordnet hat.

Dieser Ãœberlegung entsprechend hält der BGH die Rahmenmilderung z. B. bei der Untreue durch (begehungsgleiches) Unterlassen nach § 266 StGB mit Blick auf die auch dabei denkbaren unterlassungsspezifischen Erschwerungen normgemäßen Verhaltens für grundsätzlich möglich.[57] Nach allgemeiner Auffassung – und damit auch nach Ansicht des BGH – ist § 13 Abs. 2 StGB selbstverständlich anwendbar auf die Aussetzung in der Form des Versetzens in eine hilflose Lage durch begehungsgleiches Unterlassen nach § 221 Abs. 1 Nr. 1 StGB. Beispiel: Das Kindermädchen lässt es zu, dass der Kinderwagen einen Abhang hinunterrollt.[58] Ein abweichendes Ergebnis speziell für die Aussetzung durch "Im-Stich-Lassen in hilfloser Lage" nach § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB ist damit aber nicht verträglich. Beispiel: Das Kindermädchen hilft dem Kind nicht, das in seinem Kinderwagen einen Abhang hinuntergerollt ist.[59] Dass der Gesetzgeber für die zuletzt genannte Verwirklichungsform eine das Strafmaß betreffende abschließende Regelung treffen wollte, ist ihm nicht zu unterstellen. Gerade im Vergleich zur Aussetzung durch Versetzen in eine hilflose Lage durch begehungsgleiches Unterlassen ließe sich dies ohne den gleichzeitigen Vorwurf gesetzgeberischer Willkür nicht halten. Die gegenteilige Auffassung des BGH in der zu besprechenden Entscheidung findet jedenfalls im Gesetz keine Stütze.[60]

V. Folgerungen für die Aussetzung durch "Im-Stich-Lassen in hilfloser Lage" (§ 221 I Nr. 2 StGB)

Die Aussetzung durch "Im-Stich-Lassen in hilfloser Lage" gemäß § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB ist angesichts des Erfordernisses des Verstoßes gegen eine dem Rechtsgüterschutz dienende Verhaltensnorm bei Vorliegen einer rechtlichen Sonderverantwortlichkeit für die Tatbestandsverwirklichung als begehungsgleiches Unterlassungsdelikt einzustufen.[61] Für die Entscheidung des BGH heißt

das konkret, dass § 13 Abs. 2 StGB ohne sachliche Rechtfertigung ausgeschlossen wurde. Denn § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB enthält gerade keine die fakultative Strafrahmenmilderung des § 13 Abs. 2 StGB ausschließende Spezialregelung. Mit der Annahme einer derartigen Ausschlusswirkung würde dem Gesetzgeber ohne zwingenden Grund Willkür unterstellt und die für den gesamten Abs. 1 des § 221 StGB getroffene generelle Strafrahmenregelung überinterpretiert.

Dennoch hat das den konkreten Angeklagten verurteilende Gericht keinen Rechtsfehler begangen, auf dem das Urteil beruhen kann. Ob die Strafrahmenmilderung zu gewähren ist, hängt davon ab, ob im konkreten Fall herkömmlich als "unterlassungsspezifisch" aufgefasste Erschwerungen normgemäßen Verhaltens vorhanden sind oder zumindest nicht ausgeschlossen werden können. Indessen spricht nach Sachlage im Falle des Angeklagten nichts für eine im Verhältnis zur typischen Tatbestandsverwirklichung durch (aktives) Tun gegebene Einschränkung. Der Aufwand an Zeit und Kraft für ein dem Angeklagten ohne Weiteres mögliches Eingreifen fällt angesichts der akuten Lebensgefahr nicht so stark ins Gewicht, dass dafür eine Strafrahmenmilderung auch nur ernsthaft in Erwägung zu ziehen ist. Auch sind keine Täterinterna ersichtlich, die dem Angeklagten die Normbefolgung in psychischer Hinsicht stärker als bei einer Verwirklichung des Aussetzungstatbestandes durch Tun erschwert hätten. Von einem signifikant "erhöhten Motivationsaufwand"[62] ist nach Sachlage ebenfalls nicht auszugehen. Die um Hilfe rufende Frau in der lebensgefährlichen Situation "hängen zu lassen", bleibt unter dem maßgeblichen Blickwinkel des personalen Verhaltensunrechts in keiner Weise hinter einer etwa in affektiver Erregung begangenen Verwirklichung des Aussetzungstatbestandes durch aktives Tun zurück.

Die Rechtsfrage, ob die Strafrahmenmilderung im speziellen Fall des Angeklagten zu gewähren war, hätte der BGH ohne Zurückverweisung selbst ablehnend entscheiden können. Es kann ausgeschlossen werden, dass sich die Nichterörterung des § 13 Abs. 2 StGB auf die Strafzumessung ausgewirkt hat. Dem BGH kann es daher nicht als gangbare "Notlösung" zugestanden werden, die Aussetzung durch "Im-Stich-Lassen in hilfloser Lage" kurzerhand zum "echten" Unterlassungsdelikt umzudeklarieren, für das die fakultative Rahmenmilderung des § 13 Abs. 2 angeblich nicht gelte.

VI. Die Notwendigkeit eines strengeren Strafrahmens für qualifizierte Fälle der unterlassenen Hilfeleistung de lege ferenda

Im Fall des BGH stellt sich vor dem Hintergrund des bislang Gesagten eine weitere Schwierigkeit, die nicht unerwähnt bleiben soll. Die Angaben zur Garantenverantwortlichkeit des Angeklagten bleiben dünn – eine Verantwortungsübernahme lediglich aufgrund der Sorge um das Gelingen des Schulabschlusses erscheint eher fernliegend. Interessant ist an dieser Stelle die Frage, wie sich der Angeklagte bei Ablehnung der für § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB erforderlichen Garantenverantwortlichkeit strafbar gemacht hätte. Ohne die vom Instanzgericht mehr als "großzügig" angenommene Beschützerverantwortlichkeit[63] des Angeklagten wäre nur der Tatbestand des § 323c StGB erfüllt. Blickt man auf das unter Rechtsgüterschutzaspekten gewichtige Fehlverhalten des Angeklagten und dessen schwerwiegende Folgen, springt das evident niedrige Strafmaß bei der unterlassenen Hilfeleistung ins Auge: Dass eine Person aufgrund des Unterlassens zumindest leichtfertig zu Tode gekommen ist, lässt sich bei dem vorgegebenen Höchstmaß von nur einem Jahr Freiheitsstrafe nicht angemessen berücksichtigen. Eine sachliche Rechtfertigung für eine solche strafzumessungsrechtliche Vernachlässigung der schweren Folgen der unterlassenen Hilfeleistung ist indes nicht ersichtlich. Die Autoren erheben daher die Forderung nach Schaffung eines strengeren Strafrahmens für qualifizierte Fälle der unterlassenen Hilfeleistung.[64] Verglichen mit

den Strafrahmen des ebenfalls nichtbegehungsgleichen Unterlassungsdelikts des § 138 StGB (Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe) und des begehungsgleichen Gefährdungsdelikts des § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB (Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren) wäre dabei wohl Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe als gesetzlicher Strafrahmen durchaus angemessen. Zu erwägen ist auch eine Anhebung der Strafrahmenobergrenze bereits des Grunddelikts auf zwei Jahre mit Blick auf Fälle, in denen der Unterlassungstäter den Tod oder eine erhebliche Körperverletzung des Hilfsbedürftigen als mögliche Folge seines Fehlverhaltens in Kauf nimmt oder leichtfertig verdrängt.[65] Auf Einzelheiten der Ausgestaltung ist hier nicht näher einzugehen.

VII. Fazit

Die Abgrenzung von Tun und Unterlassen ist in empirisch-deskriptiver Hinsicht ganz einfach: (Aktives) Tun schafft – bislang nicht vorhandene – Schädigungsmöglichkeiten; dagegen wendet (passives) Unterlassen – bereits vorhandene – Schädigungsmöglichkeiten nicht ab. Die Schaffung oder die Nichtabwendung ganz bestimmter Schädigungsmöglichkeiten durch ein spezifisches Verhalten (als Oberbegriff für Tun und Unterlassen) bildet den sinnvollen Gegenstand rechtlicher Verhaltensbewertung, die darauf gerichtet ist, den sonst zu erwartenden Ablauf des Geschehens (im Rechtsgüterschutzinteresse) positiv zu beeinflussen.

Ob ein Tun bzw. ein Unterlassen vorwerfbar ist und welches Gewicht ein gegenüber dem Einzelnen zu erhebender Vorwurf hat, richtet sich nach den legitimierbaren Verhaltensnormen (Ver- bzw. Geboten) und deren Legitimationsgründen.

Verhaltensnormen bedürfen vor verfassungsrechtlichem Hintergrund zu ihrer Legitimation jedenfalls eines legitimen Zwecks – eines Nutzens der Normeinhaltung für berechtigte Belange des Rechtsgüterschutzes in Gestalt des Vermeidens ganz bestimmter Schädigungsmöglichkeiten. Bei den meisten Verhaltensnormen kann deren Legitimation auch auf die Sonderverantwortlichkeit des Normadressaten für die zu vermeidende Schädigungsmöglichkeit gestützt werden (Verhaltensnormmodell der zwei Säulen).

Der Verstoß gegen eine allein im Interesse des Rechtsgüterschutzes legitimierte Verhaltensnorm (vom Typ 1) genügt für die Tatbestandsverwirklichung nur in den Fällen, in denen das dem Strafgesetz zu entnehmen ist. Das sind im StGB – soweit ersichtlich – nur die §§ 138, 323c StGB.

Sofern sich aus dem Strafgesetz nichts anderes ergibt, wird eine Straftat durch aktives Tun oder Unterlassen nur begangen, wenn es eine im Interesse des Rechtsgüterschutzes und durch die Sonderverantwortlichkeit des Normadressaten legitimierte besondere Rechtspflicht zum Handeln oder Unterlassen gibt (Garantenrechtspflicht) . Nur der Verstoß gegen eine solche auf zwei Säulen gegründete Verhaltensnorm (vom Typ 2) genügt für eine Tatbestandsverwirklichung durch Begehen und begehungsgleiches Unterlassen bei Tatbeständen wie §§ 212, 222, 223, 229, 303 StGB etc.

Eine sinnvolle und auch sachlich wichtige Differenzierung innerhalb des Unterlassens und der Unterlassungsdelikte ist die zwischen dem nichtbegehungsgleichen (Jedermanns-)Unterlassen und dem begehungsgleichen (Garanten-)Unterlassen. Nichtbegehungsgleiches Unterlassen erfordert nur (aber immerhin) den Verstoß gegen eine im Interesse des Rechtsgüterschutzes legitimierte Verhaltensnorm. Dagegen erfordert begehungsgleiches Unterlassen den Verstoß gegen eine auch durch die Sonderverantwortlichkeit des Normadressaten legitimierte Verhaltensnorm.

Begehungsgleiche Unterlassungsdelikte unterscheiden sich von den nichtbegehungsgleichen Unterlassungsdelikten der §§ 138, 323c StGB (den "Jedermanns-Unterlassungsdelikten") allein durch die besondere Verantwortlichkeit (Sonderverantwortlichkeit) des Täters für die in Frage stehende Gefahrenvermeidung.

Wie die in mehreren Punkten neben der Sache liegende Entscheidung des BGH erneut belegt, ist es nicht ratsam, weiterhin an den Termini des "echten" und des "unechten" Unterlassungsdelikts festzuhalten. Bei sämtlichen Unterlassungsdelikten wird echt unterlassen. Es hilft auch nicht weiter, nach dem Standort der Regelung, aus der sich die Strafbarkeit ergibt, differenzieren zu wollen – etwa davon auszugehen, die von § 13 Abs. 1 StGB erfassten Fälle seien die des "unechten" Unterlassens, dagegen die durch die jeweiligen Strafvorschriften unmittelbar erfassten Fälle die des "echten" Unterlassens. Das ergibt schon deshalb keinen Sinn, weil – wie sogar der BGH zutreffend festgestellt hat – § 13 Abs. 1 StGB zumindest im Wesentlichen gar keine strafbarkeitskonstitutive Bedeutung hat, sondern z. B. der Totschlag durch (begehungsgleiches) Unterlassen bereits unmittelbar von § 212 Abs. 1 StGB erfasst wird.

Aussetzung durch "Im-Stich-Lassen in hilfloser Lage" (§ 221 I Nr. 2 StGB) ist ein begehungsgleiches Unterlassungsdelikt (sog. "Garantenunterlassungsdelikt").

Auch bei den nichtbegehungsgleichen Unterlassungsdelikten der §§ 138, 323c StGB kann sich eine Verantwortlichkeit des Unterlassungstäters für die spezifischen Fehlverhaltensfolgen ergeben. Wenn z. B. die unterlassene Hilfeleistung zum Tod des Opfers führt, ist der Nichthelfende dafür durchaus verantwortlich. Er ist nur nicht (zwingend) sonderverantwortlich und begeht daher keine Tötung. Weil die Regelung des § 323c StGB bislang keine angemessene Behandlung solcher Fälle bereithält, in denen eine ausschließliche Strafbarkeit nach dieser Vorschrift in Frage kommt, sollte de lege ferenda ein strengerer Strafrahmen für qualifizierte Fälle der unterlassenen Hilfeleistung vorgesehen werden. Zu erwägen ist auch eine Anhebung der Strafrahmenobergrenze bereits des Grunddelikts der unterlassenen Hilfeleistung.

Bei der Aussetzung durch "Im-Stich-Lassen in hilfloser Lage" ist der Unterlassungstäter für die nicht abgewendete Gefahr sonderverantwortlich (garantenverantwortlich). Dementsprechend ist er es bei der Aussetzung durch "Im-Stich-Lassen in hilfloser Lage" mit Todesfolge auch für den Tod des Opfers.

Für sämtliche begehungsgleichen Unterlassungsdelikte – also alle Tatbestandsverwirklichungen durch begehungsgleiches Unterlassen – ist in § 13 Abs. 1 StGB eine lediglich klarstellende allgemeine Regelung enthalten. Dementsprechend ist auch § 13 Abs. 2 StGB in all diesen Fällen nicht von vornherein ausgeschlossen.

§ 13 Abs. 2 StGB ist nur dann formal "gesperrt", wenn eine gesetzliche Regelung der Strafbarkeit in Bezug auf den Strafrahmen als insofern abschließend aufgefasst werden kann. Das trifft allenfalls auf §§ 138, 323c StGB zu, weil nur bei deren Strafrahmen eine ausreichende Berücksichtigung etwaiger Besonderheiten des Unterlassens einigermaßen plausibel erscheint.

§ 13 Abs. 2 StGB ist immer dann nicht "gesperrt", wenn der Gesetzgeber einen bestimmten Strafrahmen pauschal Tatbestandsverwirklichungen durch Tun und Unterlassen zuordnet und nicht ausgeschlossen werden kann, dass er sich dabei primär an den Tatbestandsverwirklichungen durch aktives Tun orientiert hat. Das gilt nicht nur für die Untreue nach § 266 StGB, sondern etwa auch für § 340 Abs. 1 StGB (Körperverletzung im Amt durch Begehenlassen einer Körperverletzung), für § 315c Abs. 1 Nr. 2 Buchst. g StGB (nicht ausreichendes Kenntlichmachen eines liegengebliebenen Fahrzeugs) und die Aussetzung durch "Im-Stich-Lassen in hilfloser Lage" gemäß § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB, sofern diese Straftaten durch (begehungsgleiches) Unterlassen begangen werden.

Auch wenn die fakultative Strafrahmenmilderung des § 13 Abs. 2 StGB prinzipiell eröffnet und nicht formal "gesperrt" ist, muss deren Berechtigung im Einzelfall geprüft werden. Im vom BGH konkret zu entscheidenden Fall sind indessen keine sachlichen Gründe für eine "unterlassungsspezifische" Strafmilderung ersichtlich. Weder der zur Rettung der am Balkon hängenden Frau nötige körperliche Aufwand noch die dafür erforderliche motivatorische Anstrengung und psychische Ãœberwindungskraft begründen eine die Strafrahmenmilderung rechtfertigende Einschränkung der Normbefolgungsfähigkeit des Täters. Genau dies hätte der BGH sogleich (aktiv) feststellen und die strafrechtsdogmatischen Verwirrungen – sei es nun "echt" oder "unecht" – jedenfalls tunlichst unterlassen sollen.


[1] Die Angaben sind in diesem Punkt unpräzise. Für die rechtliche Beurteilung wäre es wichtig, genauer zu erfahren, ob das dem Angeklagten ohne Weiteres mögliche Eingreifen auch tatsächlich mit "an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit" zur Rettung der Frau geführt hätte. Im Folgenden soll davon ausgegangen werden, dass dies zutrifft. – Zur heftigen Kritik am Umgang speziell des 1. Strafsenats des BGH mit problematischen tatrichterlichen Feststellungen s. unlängst Erb GA 2012, 72 ff.

[2] S. dazu und zum Folgenden BGH HRRS 2011 Nr. 1164, Rn. 15 ff.

[3] Zu dieser Unstimmigkeit s. etwa Struensee, in: Dencker/Struensee/Nelles/Stein, Einführung in das 6. Strafrechtsreformgesetz (1989) S. 27, 44; ferner Heger ZStW 119 (2007), 593, 615.

[4] Zur Möglichkeit, die Aussetzung durch "Versetzen in eine hilflose Lage" (§ 221 Abs. 1 Nr. 1 StGB) durch begehungsgleiches Unterlassen zu begehen, näher Wielant, Die Aussetzung nach § 221 Abs. 1 StGB (2009), S. 212 ff., 372 f.; s. auch Schönke/Schröder/Eser, 28. Aufl. (2012), § 221 Rn. 5; Wessels/Hettinger, BT 1, 35. Aufl. (2011), Rn. 199; ferner etwa Heger ZStW 119 (2007), 593, 625 f.

[5] Näher dazu etwa Bringewat, Grundbegriffe des Strafrechts, 2. Aufl. (2008), Rn. 352 ff.; Kühl, AT, 6. Aufl. (2008), § 18 Rn. 14 ff.

[6] Das gilt auch mit Blick auf die gegenwärtig noch im Gesetz vorgesehene fakultative Strafrahmenmilderung. Diese trägt nichts bei zur Lösung eines mitunter auftauchenden Strafzumessungsproblems. Außerdem stellen sich ganz entsprechende Strafzumessungs­probleme auch bei Tatbestandsverwirklichungen durch aktives Tun. Zur de lege ferenda abzuschaffenden Strafrahmenmilderung des § 13 Abs. 2 StGB vgl. noch unten IV. – Mit Recht krit. zur oft überschätzten Relevanz der Unterscheidung von Tun und Unterlassen etwa Volk, FS Tröndle (1989), S. 219 ff.

[7] BGHSt 55, 191, 201 ff. = HRRS 2010 Nr. 704. – I. S. einer Relevanz der Verhaltensdifferenz zwischen Tun und Unterlassen freilich unlängst wieder Kuhlen, FS Puppe (2011), S. 669 ff.

[8] Anders insofern etwa Kuhlen, FS Puppe (2011), S. 669, 683, der in einem solchen Fall die kontrafaktische Annahme eines Handelns "durch das Auto" zulassen möchte.

[9] Kuhlen, FS Puppe (2011), S. 669, 683 hält in einem solchen Fall wiederum die kontrafaktische Annahme eines Unterlassens und die Ablehnung eines erfolgskausalen Tuns für möglich. Beweggrund dürfte dabei die andernfalls innerhalb der Prüfung einer Tatbestandsverwirklichung durch aktives Tun in der dogmatischen Konzeption Kuhlens kaum umzusetzende (wenngleich gebotene) Verneinung der Strafbarkeit nach § 212 Abs. 1 StGB aufgrund des Fehlens einer Garanten- bzw. Sonderverantwortlichkeit sein: In der Sache kann hier nur eine Strafbarkeit wegen Nichtanzeige geplanter Straftaten bzw. wegen unterlassener Hilfeleistung in Betracht kommen (s. dazu noch unten III 2). Diese zutreffende Konsequenz darf aber nicht im Wege der willkürlichen Umdeutung aktiven Tuns in ein Unterlassen gezogen werden – die eigentliche Unterscheidung verlöre gerade angesichts ihrer (hier in der Tat erfolgenden) ausschließlichen Orientierung am erwünschten Ergebnis ihren dogmatischen Sinngehalt.

[10] S. dazu etwa Gimbernat Ordeig ZStW 111 (1999), 307, 327 f. m. w. N. – Der Umfang relevanter Beispiele nimmt nochmals erheblich zu, wenn man berücksichtigt, dass ein Vorwurf mitunter gar nicht an die aktive Vornahme der in der Außenwelt wirksamen Körperbewegung anknüpfen kann, sondern allenfalls an das unterlassene steuernde Eingreifen des Subjekts in den sonst "natürlich" ablaufenden körpereigenen Vorgang. Beispielsweise ist es im Zusammenhang mit "Affekttaten" durchaus geläufig, dass sich der Täter u. U. sogar erheblich anstrengen muss, wenn er die Tatbestandsverwirklichung vermeiden möchte. Weiterführend dazu Frisch ZStW 101 (1989), 538 ff., 575 ff. – Ãœberlegenswert erscheint überdies, ob nicht vielleicht aufgrund mancher Ergebnisse moderner Hirnforschung (Vetomöglichkeit) ein Vorwurf mitunter nur mit Blick auf ein unterlassenes Eingreifen des Subjekts erhoben werden kann. – Näher zur Frage der Konsequenzen der modernen Hirnforschung für das Strafrecht etwa Hillenkamp JZ 2005, 313 ff., 318 ff.; Mosbacher JR 2005, 61 f.; vgl. auch Detlefsen, Grenzen der Freiheit – Bedingungen des Handelns – Perspektive des Schuldprinzips (2006), S. 207, 307 f., 311, 323 f.; Freund GA 2005, 321, 322 f. – Zum in der Umgangssprache oft zutreffend erfassten Unterlassungs­aspekt bei aktivem Tun s. auch die schönen Beispiele bei Herzberg JuS 1996, 377, 383.

[11] Dass auf der Wertungsebene trotz äußerlichen aktiven Tuns Probleme der Unterlassungsverantwortlichkeit auftreten können, zeigt sich beispielsweise an der Affekttatproblematik (vgl. dazu oben Fn. 10).

[12] Sachlich übereinstimmend insofern etwa Kuhlen, FS Puppe (2011), S. 669, 682 (bezogen auf drei Personen, die auf einer Bank am Seeufer sitzen und einen Ertrinkenden nicht retten, wofür es keine Rolle spielt, ob sie für irgendetwas anderes "Ressourcen wie Zeit und Aufmerksamkeit einsetzen").

[13] Die Sonderverantwortlichkeit für die vom eigenen Körper ausgehenden Gefahren darf selbstverständlich nicht als Einstehenmüssen für sämtliche Folgen, die sich aus einer gewillkürten Körperbewegung ergeben, missverstanden werden (so aber wohl Kuhlen, FS Puppe [2011], S. 669, 676 f.; ähnlich Merkel, FS Herzberg[2008], S. 193, 199 Fn. 13) . Eine solche Kategorie wäre funktionslos: Ein über das Vorliegen von Kausalität hinausgehender Erkenntnisgewinn ließe sich dadurch nicht erzielen. Maßgeblich für das Verständnis auch dieser Erscheinungsform der Sonderverantwortlichkeit ist vielmehr, dass damit mehr gemeint ist als das reine Vermeiden-Müssen eines schadensträchtigen Verlaufs. Sachlich geht es um die angemessene Konturierung von speziellen Verantwortungsbereichen. Ebenso wenig wie die bloße Auslösung der Herzattackengefahr durch einfaches (körperliches) Verlassen des gefährdeten Opfers bereits eine besondere Verantwortlichkeit für dieselbe zu begründen vermag, genügt dafür die Vernichtung des lebensrettenden Briefs durch (körperliches) Zerreißen mit den Händen, aber innerhalb des eigenen Organisa­tionsbereichs, der für andere eine Tabuzone bildet. Erst recht fehlt die besondere Verantwortlichkeit für die abzuwendende Ertrinkungsgefahr bei demjenigen, der die erforderliche Rettung des Opfers mit seinem offensichtlich ungefährlichen Körper unterlässt. Ein­deutig zu bejahen ist die besondere Verantwortlichkeit für die Abwendung der in Frage stehenden Gefahr dagegen etwa im Falle des Schwergewichtigen, der nach dem Abklingen eines Schwächeanfalls erkennt, dass er mit seinem Körpergewicht den unter ihm liegenden Menschen zu erdrücken droht. Insoweit gilt: Dabeisein oder Wirksamsein ist nicht alles. Es kommt gerade auf die begründbare (!) besondere Verantwortlichkeit des Betreffenden an.

[14] S. zu diesem Fall und weiteren vergleichbaren Fällen Freund, FS Herzberg (2008), S. 225, 232 ff.; Georgy, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Amtsträgern für Arzneimittelrisiken (2011), S. 24 ff.; inst ruktiv in diesem Zusammenhang auch die von Merkel, FS Herzberg (2008), S. 193 ff. diskutierten Fallkonstellationen.

[15] Nicht überzeugend insofern Kuhlen, FS Puppe (2011), S. 669, 681 ff., der bei der Unterscheidung von Tun und Unterlassen den empirisch-deskriptiven Aspekt nur als "naturalistischen Kern" betrachtet (S. 681) und es zulassen möchte, dass aufgrund offen normativer Wertungen aus einem Unterlassen kontrafaktisch ein Tun und aus einem Tun ein Unterlassen wird: Ein Autofahrer, der das von einem Automaten gewählte Fahrtempo nicht verringere, "handle" "durch das Auto" (S. 683). – Der tätige Abbruch eigener Rettungsbemühungen müsse nicht als erfolgskausale Handlung, sondern könne auch als bloße Unterlassung aufgefasst werden (S. 683). – Demgegenüber gilt: Auch und gerade wenn offen normative Wertungen angestellt werden (sollen), muss eine angemessene Straftatdogmatik im Interesse der Transparenz die bewerteten empirischen Gegenstände so nehmen, wie sie sind, und genau den Stellenwert herausarbeiten, den das zur Lösung anstehende Wertungsproblem hat. In der Sache geht es nicht um die (naturalistische) Verhaltensform Tun oder Unterlassen, sondern um die vorhandene oder fehlende Sonderverantwortlichkeit des Verhaltensnormadressaten für ganz bestimmte (mögliche) schadensträchtige Verläufe, die dieser rechtlich missbilligt schafft oder nicht abwendet.

[16] S. zu solchen Fällen nichtbegehungsgleichen aktiven Tuns Freund, FS Herzberg (2008), S. 225, 232 ff.; vgl. auch Georgy, Die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Amtsträgern für Arzneimittelrisiken (Fn. 14), S. 24 ff. – Nicht weiter nachzugehen ist hier der Frage, ob in Fällen nichtbegehungsgleichen aktiven Tuns eine Straf-(Rahmen-)Schärfung deshalb angezeigt sein könnte, weil sich der Betreffende, um die angemessene Hilfe zu leisten, überhaupt nicht (körperlich) anstrengen muss. – Zur aus anderen Gründen erforderlichen Strafrahmenreform bei § 323c StGB s. noch unten VI.

[17] BGH HRRS 2011 Nr. 1164, Rn. 14; vgl. etwa auch BGH NStZ 1990, 607 f.: Für die Entscheidung der Frage, ob ein Tun oder ein Unterlassen vorliegt, soll es auf den Schwerpunkt des Täterverhaltens ankommen; ferner Wessels/Beulke, AT, 41. Aufl. (2011), Rn. 700 m. w. N.

[18] BGH HRRS 2011 Nr. 1164, Rn. 14.

[19] Eine nur unerhebliche Relativierung des Gesagten ergibt sich aus der prozessualen Möglichkeit der Beschränkung der Strafverfolgung nach §§ 154, 154a StPO.

[20] Die auch für das Ertrinkenlassen als Tötungsverhalten nötige Sonderverantwortlichkeit resultiert nach Sachlage selbstverständlich aus dem vorsätzlichen gefährdenden Vorverhalten. Näher zu dieser – ganz zu Unrecht – umstrittenen Frage der "vorsätzlichen Ingerenz" Freund, in: MüKo-StGB, 2. Aufl. (2011), § 13 Rn. 130 ff. m. w. N. – Zur Gegenauffassung vgl. Hillenkamp, FS Otto (2007), S. 287 ff.

[21] Die gängige Regel des "Vorrangs" der Tatbestands­verwirklichung durch Tun (vgl. etwa Kuhlen, FS Puppe[2011], S. 669, 682; ferner auch Freund, AT, 2. Aufl. [2009], § 11 Rn. 40) ist daher zumindest missverständlich.

[22] Näher dazu Freund, in: MüKo-StGB (Fn. 20), Vor § 13 Rn. 133 ff.; Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs (1988), S. 74 f., 129 ff., 137 ff.; vgl. auch Rudolphi, in: SK-StGB, 26. Lfg. (Stand Juni 1997), Vor § 1 Rn. 15 (allerdings zur Angemessenheit der Strafe, die aber allemal die Angemessenheit der Verhaltensnorm voraussetzt, auf deren Miss- oder Nichtachtung mit Strafe reagiert werden soll).

[23] Freund, in: MüKo-StGB (Fn. 20), Vor § 13 Rn. 40, 153 ff. – Näher zur nach wie vor aktuellen Diskussion um die Rechtsgutsproblematik etwa Hefendehl GA 2007, 1 ff. m. w. N.

[24] Freund, in: MüKo-StGB (Fn. 20), Vor § 13 Rn. 69, 154.

[25] Näher dazu – jew. m. w. N. – etwa Freund, Erfolgsdelikt und Unterlassen – Zu den Legitimationsbedingungen von Schuldspruch und Strafe (1992), S. 51 ff.; Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs (Fn. 22), S. 70 ff.; ders., Vorsatz und Risiko (1983), S. 139 ff. et passim.

[26] Das ist in der Sache unbestritten und wird für den Bereich des begehungsgleichen Unterlassens sogar in mehreren ausländischen Rechtsordnungen explizit gesagt; vgl. zur Gesetzeslage etwa in der Schweiz, in Österreich und in Spanien Freund, in: MüKo-StGB (Fn. 20), § 13 Rn. 38, 42, 44. – S. ergänzend Rudolphi/Stein, in: SK-StGB, 119. Lfg. (Stand Sept. 2009), § 13 Rn. 17 (zur Differenzierung zwischen Verhaltensnormen, die nur durch den Rechtsgüterschutz zu legitimieren sind, und solchen, bei denen ein zusätzlicher besonderer Inpflichtnahmegrund besteht); ferner Kölbel (JuS 2006, 309, 310), der von einem "sonderverantwortlichen Personenkreis" spricht, "der das betreffende Unterlassungsdelikt überhaupt begehen kann", und damit ebenfalls vom Erfordernis einer besonderen Rechtspflicht ausgeht.

[27] Zu diesem "Zwei-Säulen-Modell" der Legitimation von Verhaltensnormen s. Freund, AT (Fn. 21), § 2 Rn. 16 ff.; dens., in: MüKo-StGB (Fn. 20), Vor § 13 Rn. 152 ff., 171 ff.; ferner bereits dens., Erfolgsdelikt und Unterlassen (Fn. 25), S. 54 ff., 68 ff. – Selbstverständlich ist das Vorliegen der nötigen Sonderverantwortlichkeit als Straftatkriterium jeweils konkret begründungsbedürftig – die bloße Behauptung, jemand sei sonderverantwortlich, genügt nicht den Anforderungen. Vielmehr bedarf es einer tragfähigen Argumentation, die tatsächlich einen zusätzlichen Inpflichtnahmegrund im Verhältnis zum (potentiellen) Verhaltensnormadressaten ergibt. Mit diesem zutreffenden Verständnis wird ein klares Argumentationsziel normativ vorgegeben (vgl. dazu noch unten Fn. 40).

[28] Freund, in: MüKo-StGB (Fn. 20), Vor § 13 Rn. 176.

[29] Sachlich übereinstimmend etwa Bringewat, Grund­begriffe des Strafrechts (Fn. 5), Rn. 358; Herzberg JuS 1996, 377, 382; ders., Die Unterlassung im Strafrecht und das Garantenprinzip (1972), S. 39 ff.; vgl. auch Roxin, FS Engisch (1969), S. 380, 382 ff.

[30] Beispiel nach Jakobs, in: El sistema funcionalista del Derecho penal, hrsg. v. Jakobs und Cancio Meliá, Lima, Perú (2000), S. 133, 164.

[31] BGH HRRS 2011 Nr. 1164, Rn. 15.

[32] BGH HRRS 2011 Nr. 1164, Rn. 16.

[33] BGH HRRS 2011 Nr. 1164, Rn. 17.

[34] Mit Blick auf den Gefahrerfolg stuft etwa Wielant, Die Aussetzung nach § 221 Abs. 1 StGB (Fn. 4), S. 166, 168 die Aussetzung durch Im-Stich-Lassen als "speziell vertatbestandlichtes unechtes Unterlassungsdelikt" ein.

[35] Die verbreitete Bezeichnung der begehungsgleichen (Garanten-)Unterlassungsdelikte als "unechte Unter­lassungsdelikte" ist anerkanntermaßen missverständlich (s. statt vieler Bringewat, Grundbegriffe des Strafrechts [Fn. 5], Rn. 343; Jescheck/Weigend, AT, 5. Aufl.[1996], S. 606).

[36] S. zu dieser Begriffsverwendung etwa Roxin, AT II, 1. Aufl. (2003), § 31 Rn. 16 ff. – Ein entsprechender Minimalkonsens wird auch festgestellt von Wielant, Die Aussetzung nach § 221 Abs. 1 StGB (Fn. 4), S. 164 (§§ 138, 323c StGB als die "klassischen echten Unterlassungs­delikte" – die "über § 13 Abs. 1 StGB gebildeten" als "unechte" Unterlassungsdelikte); im Ãœbrigen herrscht Begriffsverwirrung.

[37] Auch beim nichtbegehungsgleichen Unterlassen ist der Täter selbstverständlich für etwaige Folgen seines Fehlverhaltens verantwortlich; vgl. dazu noch unten Fn. 64.

[38] Vgl. dazu noch unten IV.

[39] Näher dazu unten IV 2.

[40] Aus jüngerer Zeit etwa Kuhlen, FS Puppe (2011), S. 669, 670, 671: "…unterscheiden sich nach geltendem Recht der Tatbestand des unechten Unterlassungsdelikts und der des Begehungsdelikts jedenfalls durch die jeweilige Verhaltensform sowie durch das Erfordernis der Garantenstellung, das nur beim unechten Unterlassungs­delikt besteht". – Immerhin räumt Kuhlen die Mög­lichkeit der hier vorgeschlagenen Systematisierung ein und erkennt an, dass "mit dem an die Systemspitze gestellten Verhaltensnormverstoß eine normativ wichtige gemeinsame Voraussetzung aller Straftaten betont wird" (S. 675). Bei seiner Würdigung vernachlässigt er freilich die kritische Funktion und das Problemlösungs-Potential, das mit der genauen Spezifizierung des tatbestands­mäßigen Verhaltensnorm­verstoßes verbunden ist. Dabei kann es nicht darum gehen, eine Formel für die Lösung aller Wertungs-Probleme anzubieten, sondern allein darum, diese Probleme möglichst auf den Punkt zu bringen. Insofern ist auch die von Kuhlen wohl kritisch gemeinte Aussage, das "Erfordernis der Sonderver­antwortlichkeit" als Spezifikum des Begehens und des begehungsgleichen Unterlassens (im Gegensatz zum nichtbegehungsgleichen Unterlassen der unterlassenen Hilfeleistung und der Nichtanzeige geplanter Straftaten) formuliere "nur ein Argumentationsziel" (Kuhlen, FS Puppe[2011], S. 669, 674, 679), durchaus positiv zu sehen: Insofern sind in der Tat Argumente gefordert, die einen solchen zusätzlichen Legitimationsgrund im Verhältnis zum potentiellen Normadressaten ergeben.

[41] § 13 Abs. 1 StGB ist jedenfalls in sehr weitgehendem Maße überflüssig (Freund, in: MüKo-StGB[Fn. 20], § 13 Rn. 300). Nach Auffassung des BGH ist diese Regelung sogar ohne jede strafbarkeitskonstitutive Bedeutung (BGHSt 36, 227 ff.).

[42] S. dazu statt vieler Gropp, AT, 3. Aufl. (2005), § 11 Rn. 4: "Der Obersatz eines unechten Unterlassungsdelikts setzt sich somit aus dem jeweiligen Tatbestand eines Erfolgsdelikts und den spezifischen Voraussetzungen in § 13 zusammen." – Hier wird offenbar mit grundverschiedenen Tatbeständen "gearbeitet". – Vgl. etwa auch die verschiedenen Prüfungsschemata bei Wessels/Beulke, AT (Fn. 17), Rn. 872, 876; Stratenwerth/Kuhlen, AT I, 5. Aufl. (2004), Vor § 13 Rn. 1 sprechen davon, dass die Grundsätze der strafrechtlichen Zurechnung beim Unterlassungsdelikt "wesentlich andere" seien als beim Handlungsdelikt.

[43] Dieses Konzept verstößt nicht etwa seinerseits gegen den nullum crimen-Satz angesichts der bei Fehlen einer Sonderverantwortlichkeit eröffneten Möglichkeit der "Verneinung der Tatbestandsmäßigkeit trotz erfolgs­kausalen Handelns" (in diese Richtung offenbar Kuhlen, FS Puppe[2011], S. 669, 674 m. Fn. 41) : Dass neben erfolgskausalem Handeln – unabhängig von der Sonder­verantwortlichkeit – auch bei der Tatbestands­verwirk­lichung durch (aktives) Tun ohnehin stets ein Mehr zur Bestrafung des Einzelnen nach dem jeweiligen Delikts­tatbestand erforderlich ist, bedarf kaum weiterer Begründung. Die entsprechenden Konkretisierungen tatbestandlicher Verhaltensmissbilligung sind vielmehr auch und gerade vor dem Hintergrund des Gesetzlich­keitsgrundsatzes unverzichtbar – sie tragen ihm Rech­nung. Nichts anderes gilt für die sachlich zwingend erforderliche weitere Konkretisierung anhand des Kriteriums der Sonderverantwortlichkeit beim Begehen und beim begehungsgleichen Unterlassen. Denn nur mit dessen angemessener Erfassung wird die Rechtskon­kretisierung dem gesetzlichen Auftrag gerecht.

[44] Freund, in: MüKo-StGB (Fn. 20), Vor § 13 Rn. 171 ff., 176, § 13 Rn. 67.

[45] Freund, FS Herzberg (2008), S. 225, 243 ff. (vgl. auch Freund, in: MüKo-StGB [Fn. 20], § 13 Rn. 32); zutreffend gegen die Berechtigung einer unterlassungsspezifischen Milderung etwa auch Lermann GA 2008, 78 ff.

[46] Mit Recht kritisch zu der bisherigen fakultativen Strafmilderungsmöglichkeit, die mit der Gefahr einer voreiligen Annahme begehungsgleichen Unterlassens einhergeht, Silva Sánchez, FS Roxin (2001), S. 641, 647 ff. m. w. N. Allerdings löst dessen Vorschlag einer "Dreiteilung der Unterlassungsdelikte" in einfache, verschärfte nichtbegehungsgleiche und begehungsgleiche Unterlassungsdelikte die im Ansatz erkannten Straf­zumessungsprobleme nicht angemessen. Denn die entsprechenden Strafzumessungsprobleme gibt es ganz genauso bei Tatbestandsverwirklichungen durch aktives Tun. Deshalb sollte insofern auch kein Gegensatz aufgebaut werden. Vielmehr bedarf es einer einheitlichen Strafzumessungsdogmatik zur sachgerechten Differen­zierung zwischen verschiedenen Unterfällen der Verwirk­lichung eines Tatbestands.

[47] Für eine Milderbestrafung "im Regelfall" Herzberg MDR 1971, 881, 883; tendenziell ähnlich etwa auch Kuhlen, FS Puppe (2011), S. 669, 680. – Bei Rudolphi/Stein, in: SK-StGB (Fn. 26), § 13 Rn. 67 wird die mögliche Strafrahmenmilderung auf den Gesichtspunkt des "zumeist" "höheren Motivationsaufwands" und der daher "geminderten Schuld i.e.S." gestützt.

[48] Das Beispiel findet sich etwa bei Kuhlen, FS Puppe (2011), S. 669, 680 (der sich auf Naucke, Strafrecht, 10. Aufl.[2002], § 7 Rn. 233 bezieht).

[49] Zutreffend etwa Horn, in: SK-StGB, 35. Lfg. (Stand Januar 2001), § 46 Rn. 68b; Vogel, Norm und Pflicht bei den unechten Unterlassungsdelikten (1993), S. 143 ff.; s. auch Freund, in: MüKo-StGB (Fn. 20), § 13 Rn. 295.

[50] Soweit es um die Konkretisierung des rechtlich Richtigen geht, wird etwaigen Unterschieden schon durch die ohne Weiteres möglichen Differenzierungen zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit sowie innerhalb der Fahrlässigkeit Rechnung getragen: Wer erkannt hat, was aus welchen Gründen genau zu tun oder was zu lassen ist, ist jeweils entsprechend verantwortlich. Wenn es mehr oder weniger schwer fällt, zu konkretisieren, was richtig ist, ist auch das für die angemessene strafrechtliche Reaktion schon unter dem allgemeinen Blickwinkel des personalen Verhaltensunrechts relevant. Und Erschwerungen in dieser Hinsicht gibt es auch bei Tatbestands­verwirklichungen durch (aktives) Tun bis hin zur Untergrenze des strafrechtlich überhaupt noch Bedeutsamen. Daher ist insofern kein Raum für eine unterlassungsspezifische Strafrahmenmilderung.

[51] Instruktiv dazu Frisch ZStW 101 (1989), 538 ff., 575 ff.

[52] Vgl. zu diesem Aspekt des unterlassenen Eingreifens in ansonsten ablaufende Verhaltensmuster auch Freund GA 1991, 387, 388.

[53] S. zur grundsätzlich möglichen Einschränkung der Normbefolgungsfähigkeit aus habituellen Gründen Timm, Gesinnung und Straftat – Besinnung auf ein rechts­staatliches Strafrecht (2012), C IV 3 a m. w. N.

[54] Zur beschränkten Leistungsfähigkeit der Strafrahmen bei der konkreten Rechtsfolgenbestimmung näher Freund GA 1999, 509, 516 ff.; sachlich übereinstimmend etwa Lackner/Kühl, 27. Aufl. (2011), § 46 Rn. 48; vgl. auch Wielant, Die Aussetzung nach § 221 Abs. 1 StGB (Fn. 4), S. 192 ff.

[55] Das lässt sich gewiss auch verbuchen unter "Rationalität oder Irrationalität der Strafzumessung". So der Titel des Beitrags von Grasnick in dem gleichnamigen Band, hrsg. von de Boor (1977), S. 1 ff.

[56] Näher zu dieser Problematik Frisch, Die Entscheidung über den Strafrahmen, unveröffentlichtes Manuskript, § 2 V; vgl. auch Freund, in: MüKo-StGB (Fn. 20), § 13 Rn. 304 ff.

[57] S. dazu BGHSt 36, 227 ff.; dem BGH zustimmend etwa Dierlamm, in: MüKo-StGB, 1. Aufl. (2006), § 266 Rn. 128. – Mehr als zweifelhaft ist allerdings der vom BGH (BGHSt 36, 227, 228 f.) angenommene Ausschluss der Rahmenmilderung z. B. für § 340 Abs. 1 StGB (Körperverletzung im Amt durch Begehenlassen einer Körperverletzung) und für § 315c Abs. 1 Nr. 2 Buchst. g StGB (nicht ausreichendes Kenntlichmachen eines liegengebliebenen Fahrzeugs). Auch in diesen Fällen kann nicht zwingend angenommen werden, der Gesetzgeber habe eine in der Sache angemessene Differenzierung bei den Rechtsfolgen ausschließen wollen. Vielmehr liegt es sogar nahe, dass er sich bei der Strafrahmenzuordnung der §§ 340 Abs. 1, 315c Abs. 1 StGB an den Hauptanwendungsfällen der Tatbestandsverwirklichung durch aktives Tun orientiert hat. – Sachlich wie hier etwa Rudolphi/Stein, in: SK-StGB (Fn. 26), § 13 Rn. 65 (keine Entscheidung des Gesetzgebers über den generellen Ausschluss der Strafmilderungsmöglichkeit).

[58] Vgl. dazu auch den oben erwähnten Fall der Eltern, die es zulassen, dass ihr Kind in den Wald läuft.

[59] Vgl. dazu ebenfalls den schon erwähnten Fall der Eltern, die ihr Kind hilflos im Wald lassen.

[60] Auf der Linie des BGH freilich etwa Hardtung, in: MüKo-StGB, 1. Aufl. (2003), § 221 Rn. 30; Heger ZStW 119 (2007), 593, 600; Horn/Wolters, in: SK-StGB, 54. Lfg. (Stand März 2002), § 221 Rn. 6 a.E.; Neumann, in: NK, 3. Aufl. (2010), § 221 Rn. 20; Struensee, in: Dencker/Struensee/Nelles/Stein, Einführung in das 6. Strafrechtsreformgesetz (Fn. 3), S. 27, 40 (der in § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB wie viele zu Unrecht eine die fakultative Strafrahmenmilderung des § 13 Abs. 2 StGB ausschließende Spezialregelung erblickt). – Zur zutreffenden Gegenauffassung s. etwa Jähnke, in: LK, 11. Aufl., 31. Lfg. (Stand Dez. 1999), § 221 Rn. 43; Roxin, AT II (Fn. 36), § 31 Rn. 250; Rudolphi/Stein, in: SK-StGB (Fn. 26), § 13 Rn. 65 (keine Entscheidung des Gesetzgebers über den generellen Ausschluss der Strafmilderungsmöglichkeit). – Mit Blick auf die sonst drohende Willkürlichkeit für eine möglichst weitgehende Anwendbarkeit der Milderungsmöglichkeit des § 13 Abs. 2 StGB mit Recht auch Wielant, Die Aussetzung nach § 221 Abs. 1 StGB (Fn. 4), S. 401 ff., 404.

[61] Küper, Strafrecht BT, Definitionen mit Erläuterungen, 7. Aufl. (2008), StW: "Im-Stich-Lassen in hilfloser Lage" S. 212 f. geht auch auf der Basis der durch das 6. StrRG (1998) geschaffenen Rechtslage geradezu als selbstverständlich davon aus, dass es sich bei der Verwirklichungsform des Im-Stich-Lassens in hilfloser Lage um einen Fall des sog. "unechten" – genauer: begehungsgleichen Unterlassens handelt, für den die Grundsätze des § 13 Abs. 1 StGB gelten (vgl. auch Küper ZStW 111[1999], 30, 56 ff. m. Fn. 104 [missverständlich ist freilich die Formulierung von Küper, S. 59 f., das pflichtwidrige Garantenverhalten führe im Rahmen des § 221 Abs. 1 Nr. 2 StGB nicht zu einer Verantwortlichkeit für den daraus resultierenden Verletzungserfolg, sondern lediglich zu einer solchen für die nicht abgewendete konkrete Gefahr; denn gäbe es den Abs. 3 als Spezialregelung nicht, wäre der unterlassende Garant selbstverständlich im Rahmen des Grundtatbestandes der Nr. 2 bei einem aus dem Gefahrerfolg hervorgehenden Todeserfolg strenger zu bestrafen.]; Struensee, in: Dencker/Struensee/Nelles/Stein, Einführung in das 6. Strafrechtsreformgesetz (Fn. 3), S. 27, 40[der freilich mit Blick auf die Eigenständigkeit der Regelung in Nr. 2 wie viele die fakultative Strafrahmenmilderung des § 13 Abs. 2 StGB als ausgeschlossen ansieht, was – wie gezeigt – voreilig ist]). Vom Charakter eines begehungsgleichen Unterlassungsdelikts ist auch der Reformgesetzgeber des 6. StrRG ausgegangen (BT-Drs. 13/8587, S. 34). Insbesondere wurde der schon immer vorhandene gesetzliche Hinweis auf die für die Tatbestands­verwirklichung erforderliche Garantenpflicht mit der Bezugnahme auf die "Obhut" oder sonstige "Beistandspflicht" lediglich sprachlich neu gefasst. Zum Vorschlag einer noch präziseren Fassung s. Freund ZStW 109 (1997), 455, 474. – Vgl. zum Charakter des "Im-Stich-Lassens" als Garantenunterlassen etwa auch S. Heinrich, Die geschichtliche Entwicklung des Aussetzungsdelikts (2004), S. 174 f.

[62] Auf diesen Aspekt wird die mögliche Strafrahmen­milderung gestützt bei Rudolphi/Stein, in: SK-StGB (Fn. 26), § 13 Rn. 67.

[63] Zum kritikwürdigen Umgang speziell des 1. Strafsenats des BGH mit problematischen tatrichterlichen Feststellungen s. bereits oben Fn. 1.

[64] Diese Forderung wurde bereits mit Recht von verschiedenen Seiten erhoben; s. etwa Kuhlen, FS Puppe (2011), S. 669, 680; Merkel, FS Herzberg (2008), S. 194, 216 Fn. 59 (Einfügung eines Abs. 2 des § 323c StGB für besonders schwere Fälle) . – Einen ganz anderen Hintergrund hat der Vorschlag für einen qualifizierten Fall der unterlassenen Hilfeleistung von Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte (1971), S. 381. Schünemanns Vorschlag vernachlässigt nicht nur die möglichen gravierenden Folgen der unterlassenen Hilfelei­stung, sondern beruht überdies auf dem Missverständnis, in den Ingerenzfällen sei eine weitergehende Strafbarkeit wegen begehungsgleichen Unterlassens nicht möglich. – Auch beim nicht­begehungsgleichen Unterlassen ist der Täter selbstver­ständlich für etwaige Folgen seines Fehlverhaltens verantwortlich. Der Unterschied liegt allein in der fehlenden besonderen Verantwortlichkeit, weil der Täter nur (aber immerhin) gegen eine allein im Rechtsgüter­schutzinteresse legitimierte Verhaltensnorm verstößt. Zur Folgenverantwortlichkeit auch bei unterlassener Hilfe­leistung näher Heil, Die Folgen der unterlassenen Hilfeleistung gemäß § 323c StGB – Zur Begründung der Hilfeleistungspflicht und der Bewertung der Unterlassensfolgen bei der Strafzumessung (2001); s. auch Freund, AT (Fn. 21), § 6 Rn. 11, 18.

[65] Diese Anhebung der Strafrahmenobergrenze bereits des Grunddelikts der unterlassenen Hilfeleistung könnte auch für Fälle relevant sein, die dem vom BGH entschiedenen "Balkonsturz-Fall" entsprechen. Denn in diesem Fall ist es keineswegs ganz sicher, dass die dem Angeklagten möglichen Rettungsmaßnahmen Erfolg gehabt hätten (vgl. dazu oben Fn. 1). Bei entsprechender Unsicherheit schiede nicht nur eine Verantwortlichkeit wegen Aussetzung mit Todesfolge aus, sondern auch bereits die Verwirklichung des Grunddelikts der Aussetzung wäre im Hinblick auf das Erfordernis des zu verantwortenden Gefahrerfolgs zweifelhaft.