HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 620
Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 550/23, Beschluss v. 06.03.2024, HRRS 2024 Nr. 620
Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 29. Juni 2023 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat die Angeklagte R. wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung, wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit Körperverletzung in drei Fällen, wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit Bedrohung, wegen Vergewaltigung in acht Fällen, wegen gefährlicher Körperverletzung in drei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit schwerem sexuellen Übergriff, wegen sexuellen Übergriffs mit Gewalt und wegen Körperverletzung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 13 Jahren und sechs Monaten verurteilt und ihre Unterbringung in der Sicherungsverwahrung angeordnet. Den Angeklagten R. hat es wegen Vergewaltigung in sechs Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung und in einem Fall in Tateinheit mit Bedrohung, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die Revisionen der Angeklagten dringen mit der Sachrüge durch. Auf die von der Angeklagten R. erhobenen Verfahrensrügen kommt es nicht mehr an.
1. Nach den Feststellungen vergewaltigte die Angeklagte R. in der Zeit von März 2021 bis Juli 2022 wiederholt die Nebenklägerin, ihre eigene Tochter. Sie beging die Taten überwiegend gemeinschaftlich mit weiteren Personen, unter anderem mit dem Angeklagten R., ihrem Ehemann. An mehreren Taten war auch die Lebensgefährtin der Nebenklägerin, die Zeugin A., beteiligt.
2. Das Landgericht hat die Verurteilung der Angeklagten im Wesentlichen auf die Angaben der Nebenklägerin gestützt, deren Vernehmung in der Hauptverhandlung durch die Vorführung der Bild-Ton-Aufzeichnung ihrer ermittlungsrichterlichen Vernehmung ersetzt worden ist. Sachverständig beraten hat es eine Persönlichkeitsstörung der Nebenklägerin ausgeschlossen. Die Nebenklägerin leide allerdings an einer „komplexen posttraumatischen Belastungsstörung mit Stressreaktionen bei extremer psychischer Belastung“.
Die Beweiswürdigung des Landgerichts hält revisionsgerichtlicher Nachprüfung nicht stand.
1. Die Beweiswürdigung ist grundsätzlich Sache des Tatgerichts. Die revisionsgerichtliche Überprüfung beschränkt sich darauf, ob diesem bei der Beweiswürdigung Rechtsfehler unterlaufen sind. Das Tatgericht ist verpflichtet, die wesentlichen Beweiserwägungen in den Urteilsgründen so darzulegen, dass seine Überzeugungsbildung durch das Revisionsgericht nachvollzogen und auf Rechtsfehler überprüft werden kann (vgl. BGH, Beschluss vom 18. November 2020 - 2 StR 152/20, NStZ-RR 2021, 114, 115).
Bei einer schwierigen Beweissituation - die vorliegend schon deshalb besteht, weil sämtliche Feststellungen zum Kerngeschehen auf den Angaben der Nebenklägerin beruhen - können sich gesteigerte Darstellungsanforderungen ergeben (vgl. BGH, Beschlüsse vom 16. Januar 2024 - 4 StR 428/23; vom 11. April 2023 - 4 StR 497/22 Rn. 9; vom 22. November 2022 - 2 StR 311/22). Um dem Revisionsgericht in einem solchen Fall die sachlich-rechtliche Überprüfung der Beweiswürdigung zu ermöglichen, ist es regelmäßig erforderlich, die maßgeblichen Teile der Zeugenaussage in Form einer geschlossenen Darstellung in den Urteilsgründen wiederzugeben (vgl. BGH, Urteil vom 10. August 2011 - 1 StR 114/11 Rn. 13; Beschluss vom 20. Dezember 2017 - 1 StR 408/17). Die Darstellung hat grundsätzlich auch vorangegangene, frühere Aussagen des Zeugen zu umfassen, weil das Revisionsgericht sonst nicht überprüfen kann, ob das Tatgericht eine fachgerechte Konstanzanalyse vorgenommen und Abweichungen zutreffend gewichtet hat (vgl. BGH, Urteil vom 10. August 2011 - 1 StR 114/11 Rn. 15; Beschlüsse vom 21. November 2023 - 4 StR 352/23 Rn. 5; vom 20. Dezember 2017 - 1 StR 408/17 Rn. 11).
2. Diesen Anforderungen werden die Urteilsgründe nicht gerecht.
a) So fehlt eine Darstellung der Aussagen der Nebenklägerin bei ihrer staatsanwaltlichen Vernehmung vom 19. Oktober 2022 und bei ihrer polizeilichen Vernehmung vom 28. Juli 2021.
aa) Die beiläufige Erwähnung der Strafkammer, die Angaben der Nebenklägerin bei der staatsanwaltlichen Vernehmung vom 19. Oktober 2022 stimmten dem aussagepsychologischen Sachverständigen zufolge mit ihren übrigen Angaben überein, genügt nicht, weil sie eine Überprüfung der vom Landgericht angenommenen Aussagekonstanz durch den Senat nicht ermöglicht.
bb) Entsprechendes gilt für die Aussage der Nebenklägerin bei ihrer polizeilichen Vernehmung vom 28. Juli 2021. Die Darstellung in den Urteilsgründen, weshalb die Nebenklägerin bei der polizeilichen Vernehmung teilweise abweichende Angaben gemacht habe, ersetzt die gebotene Wiedergabe des wesentlichen Inhalts ihrer Aussage schon deshalb nicht, weil diese Ausführungen sich lediglich auf eine einzige Tat beziehen und damit ebenfalls keine Überprüfung der Aussagekonstanz insgesamt ermöglicht.
cc) Eine Darstellung der wesentlichen Angaben der Nebenklägerin im Rahmen ihrer staatsanwaltschaftlichen und polizeilichen Vernehmungen war auch nicht deshalb entbehrlich, weil sich die Strafkammer dem Ergebnis des aussagepsychologischen Gutachtens angeschlossen hat. Eine psychologische Glaubwürdigkeitsbegutachtung kann eine rechtsfehlerfreie Beweiswürdigung durch das Tatgericht nicht ersetzen (vgl. BGH, Urteil vom 30. Juli 1999 - 1 StR 618/98, BGHSt 45, 164, 178; Beschluss vom 18. November 2020 - 2 StR 152/20, NStZ-RR 2021, 114).
b) Zudem ist die Beweiswürdigung zur Aussagetüchtigkeit der Nebenklägerin lückenhaft.
aa) Die Strafkammer hat sachverständig beraten eine Persönlichkeitsstörung der Nebenklägerin trotz bestehender Anhaltspunkte für eine Borderline-Störung ausgeschlossen, ohne die die Bewertung tragenden Anknüpfungs- und Befundtatsachen in ausreichendem Umfang und in einer Weise wiederzugeben, die dem Senat eine rechtliche Prüfung ermöglichen.
(1) Dem Senat erschließt sich bereits nicht, worauf der aussagepsychologische Sachverständige seinen fachlichen Eindruck konkret gestützt hat. Die einzige in diesem Zusammenhang im Urteil genannte Erwägung, dass bei der Nebenklägerin im Rahmen ihrer mehrjährigen Begleitung durch psychiatrisch geschultes Personal einer Fachklinik zu keinem Zeitpunkt die Diagnose einer Persönlichkeitsstörung gestellt worden sei, lässt besorgen, dass der Sachverständige und ihm folgend das Landgericht lediglich eine fremde Diagnose übernommen haben.
(2) Zudem fehlt es sowohl an einer geschlossenen Darstellung der Krankheitsgeschichte der Nebenklägerin als auch an einer näheren Darlegung der für einen Ausschluss einer Persönlichkeitserkrankung maßgeblichen Gesichtspunkte. Dies wäre jedoch in Anbetracht des Umstands, dass eine Borderline-Störung wegen des heterogenen Störungsbildes schwierig zu diagnostizieren ist und mit anderen Formen der Persönlichkeitsstörungen zusammentreffen kann, geboten gewesen (vgl. BGH, Urteil vom 10. Mai 2023 - 2 StR 373/22 Rn. 24; Kröber, NStZ 1998, 80, 81).
bb) Auch die Erwähnung in den Urteilsgründen, dass der die Nebenklägerin behandelnde Psychiater - den die Kammer als sachverständigen Zeugen in der Hauptverhandlung vernommen hat - die Einschätzung des aussagepsychologischen Sachverständigen bestätigt habe, kann diesen Darstellungsmangel nicht beheben (vgl. zur Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Psychiaters BGH, Urteile vom 11. Mai 1993 - 1 StR 896/92, NJW 1993, 2252; vom 21. Mai 1969 - 4 StR 446/68, BGHSt 23, 8, 13; Beschlüsse vom 29. Oktober 1996 - 4 StR 508/96, NStZ-RR 1997, 106; vom 2. März 1995 - 4 StR 764/94, NStZ 1995, 558). Denn auch diesbezüglich teilen die Urteilsgründe die Befund- und Anknüpfungstatsachen, auf denen die Beurteilung des sachverständigen Zeugen beruht, nicht mit.
Zwar wird in den Urteilsgründen die Aussage des sachverständigen Zeugen in der Hauptverhandlung umfassend wiedergegeben. Die Darstellung beschränkt sich aber auf eine Dokumentation des Aussageinhalts, der neben fachlichen Bewertungen auch zeugenschaftliche Bekundungen des sachverständigen Zeugen enthält. Eine eigenverantwortliche Würdigung des Aussageinhalts, die durch die Darstellung der erhobenen Beweise nicht ersetzt werden kann (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 8. August 2023 - 6 StR 243/23; vom 23. April 1998 - 4 StR 106/98, NStZ-RR 1998, 277; vom 1. September 2015 - 3 StR 227/15), nimmt die Strafkammer nicht vor.
3. Für die neue Hauptverhandlung weist der Senat auf Folgendes hin:
a) Es wird naheliegen, für die Frage der Aussagetüchtigkeit der Nebenklägerin zusätzlich einen psychiatrischen Sachverständigen hinzuzuziehen (vgl. BGH, Urteil vom 16. Dezember 2020 ? 2 StR 209/20 Rn. 28).
b) Sofern auch das neue Tatgericht die Anordnung der Sicherungsverwahrung in Erwägung zieht, wird es deutlicher als bislang geschehen zwischen der Frage eines Hangs und der Gefahrenprognose zu unterscheiden haben (vgl. BGH, Urteil vom 9. Mai 2019 - 4 StR 511/18, NStZ-RR 2020, 10). Kontakte der Angeklagten in ein auf sadistisch-sexuellen Missbrauch orientiertes Milieu, die ihr erneut Zugriff auf psychisch oder physisch manipulierbare Opfer ermöglichen könnten, wird es nur berücksichtigen können, wenn es solche Kontakte tatsächlich festgestellt hat. Entsprechendes gilt für die Annahme, die Nebenklägerin werde bereits seit ihrer Kindheit von der Angeklagten und einem Netzwerk an Mittätern sexuell missbraucht und systematisch unterdrückt.
HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 620
Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede