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Bearbeiter: Rocco Beck

Zitiervorschlag: BGH, 1 StR 896/92, Urteil v. 11.05.1993, HRRS-Datenbank, Rn. X


BGH 1 StR 896/92 - Urteil vom 11. Mai 1993 (LG Freiburg/Breisgau)

BGHSt 39, 213; Straftatbestand des Menschenraubs (Verbringen in Sklaverei oder Leibeigenschaft); besonders schwerer Fall des Diebstahls.

§ 234 StGB; Art. 4 EMRK; § 243 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 StGB

Leitsatz

§ 234 StGB in den Alternativen der beabsichtigten Verbringung in Sklaverei oder Leibeigenschaft setzt voraus, dass das Opfer nach der Absicht des Täters in den Geltungsbereich einer Rechtsordnung verbracht werden soll, in der Sklaverei oder Leibeigenschaft als Rechtsinstitute noch vorgesehen sind oder zumindest trotz eines formalen Verbots faktisch geduldet werden. (BGHSt)

Entscheidungstenor

1. Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Freiburg vom 1. September 1992 mit den jeweiligen Feststellungen aufgehoben

a) im Schuldspruch, soweit der Angeklagte wegen Menschenraubes in Tateinheit mit Nötigung, gefährlicher Körperverletzung und Missbrauch von Titeln verurteilt wurde (II 2 der Urteilsgründe).
b) im gesamten Strafausspruch.

2. Die weitergehende Revision wird verworfen.

3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Diebstahls sowie wegen Menschenraubes in Tateinheit mit Nötigung, gefährlicher Körperverletzung und Mißbrauch von Titeln zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt.

Seine hiergegen gerichtete Revision hat zum Schuldspruch überwiegend, zum Strafausspruch in vollem Umfang Erfolg.

1. Rechtlich nicht zu beanstanden ist der Schuldspruch wegen Diebstahls. Die auf die - zu diesem Punkt nicht näher ausgeführte - Sachrüge hin gebotene Überprüfung des Urteils hat insoweit keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten ergeben.

2. Der Schuldspruch wegen Menschenraubes kann dagegen auf die Sachrüge hin keinen Bestand haben.

a) Nach den Urteilsfeststellungen hat der Angeklagte den minderbegabten Obdachlosen W. J. unter der Vorspiegelung, er sei "Kommissar von der Polizei" (vgl. § 132a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 StGB), dazu veranlaßt, auf dem Kleingartengelände des Angeklagten für diesen einen Brunnen zu graben. Er erklärte dem Geschädigten, er dürfe sich nicht entfernen, da er "ihn überall finden, ihn zurückbringen und 'aufs Maul hauen'" werde. Diese mit gelegentlichen Schlägen unterstrichene Drohung hat der Geschädigte, wie vom Angeklagten beabsichtigt, ernst genommen. Er war überzeugt, "daß er gefangen und ein Entrinnen unmöglich war". Im Laufe des sich über mehrere Monate hinziehenden Geschehens ging der Angeklagte dabei auch dazu über, den Geschädigten in seiner - des Angeklagten - Abwesenheit in einen Geräteschuppen einzuschließen. Nach Abschluß der Arbeiten an dem Brunnen begann der Angeklagte, sich "daran zu erfreuen, W. J. zu peinigen und zu demütigen". Er schlug und trat den sich nicht wehrenden J. nahezu täglich und fügte ihm auch sonst vielfältige physische und psychische Mißhandlungen zu. So zwang er ihn etwa, mit seinen - des Angeklagten - Schäferhunden um das Futter in deren Napf zu kämpfen, wobei der Geschädigte von einem Hund gebissen wurde, oder er veranlaßte ihn zu gefährlichen Turnübungen an einer Teppichstange, wobei der Geschädigte abstürzte und sich verletzte.

b) Diese Feststellungen tragen die Annahme eines Verbrechens des Menschenraubes nicht.

Welche Alternative von § 234 StGB nach Auffassung der Strafkammer erfüllt sein soll, ist nicht ausdrücklich dargelegt. Der Angeklagte hat offensichtlich nicht gehandelt, um den Geschädigten in hilfloser Lage auszusetzen oder um ihn in auswärtige Kriegs- oder Schiffsdienste zu bringen. Daher geht das Landgericht erkennbar davon aus, daß der Angeklagte die - dann auch verwirklichte - Absicht hatte, den Geschädigten in "Sklaverei" oder "Leibeigenschaft" zu bringen. In diese Richtung deuten auch die im Rahmen der Sachverhaltsfeststellung gebrauchten Formulierungen, der Angeklagte habe J. "wie ein gefügiges Haustier" und als "minderwertiges 'Eigentum'" behandelt.

c) Damit hat das Landgericht das Ziel des Angeklagten (und den von ihm in Erreichung dieses Ziels herbeigeführten Zustand) rechtlich unzutreffend bewertet:

Die Begriffe der Sklaverei und Leibeigenschaft sind im geltenden Recht definiert, vgl. die am 19. Oktober 1972 aufgrund eines Gesetzes vom 8. September 1972 (BGBl. 1972 II S. 1069) ergangene Bekanntmachung der Neufassung des Übereinkommens vom 25. September 1926 über die Sklaverei in der Fassung des Änderungsprotokolls vom 7. Dezember 1953 (BGBl. 1972 II S. 1473 ff.), sowie das am 4. Juli 1958 ergangene Gesetz über den Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zu dem Zusatzübereinkommen vom 7. September 1956 über die Abschaffung der Sklaverei, des Sklavenhandels und sklavereiähnlicher Einrichtungen und Praktiken (BGBl. 1958 II S. 203 ff.).

Sklaverei ist demnach

"die Rechtsstellung oder Lage einer Person, an der einzelne oder alle mit dem Eigentumsrecht verbundenen Befugnisse ausgeübt werden" (Artikel 1 Ziffer 1 des Übereinkommens vom 25. September 1926 i.d.F. der Bekanntmachung vom 19. Oktober 1972).

Leibeigenschaft ist

"die Lage oder Rechtsstellung eines Pächters, der durch Gesetz, Gewohnheitsrecht oder Vereinbarung verpflichtet ist, auf einem einer anderen Person gehörenden Grundstück zu leben und zu arbeiten und dieser Person bestimmte ... Dienste zu leisten, ohne seine Rechtsstellung selbständig ändern zu können (Teil I Artikel 1 lit. b des Zusatzübereinkommens vom 7. September 1956).

d) Bestätigt wird die Auffassung, daß Sklaverei und Leibeigenschaft i.S.d. § 234 StGB im gleichen Sinne wie in den genannten internationalen Vereinbarungen zu verstehen sind, dadurch, daß sie in § 234 StGB ebenso wie ausländische Kriegs- oder Schiffsdienste bewertet werden. Auch hierbei geht es darum, potentielle Opfer davor zu schützen, unfreiwillig einem mit nur sehr geringen eigenen Freiheitsrechten ausgestatteten, durch Über- und Unterordnung gekennzeichneten formalisierten Verhältnis unterworfen zu werden.

e) Die Absicht, einen anderen in Sklaverei oder Leibeigenschaft zu bringen, umfaßt daher auch die Absicht, das Opfer einer Rechtsordnung zu unterwerfen, die die Rechtsstellung eines Sklaven oder Leibeigenen noch kennt. Dabei kann es keinen Unterschied machen, ob in dieser Rechtsordnung die Rechtsinstitute der Sklaverei und Leibeigenschaft bestehen oder zwar formal verboten, faktisch aber von den zur Durchsetzung dieses Verbots berufenen Stellen geduldet werden (vgl. hierzu Meyers Enzyklopädisches Lexikon Bd. 21 <1977> Stichwort Sklaverei S. 800, 802).

f) In der Bundesrepublik Deutschland gibt es Sklaverei und Leibeigenschaft nicht. Sie sind gemäß Artikel 4 der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) vom 4. November 1950 (BGBl. 1952 II S. 686; 1968 II S. 1116, 1120) ausdrücklich verboten (zur inhaltlichen Identität der Begriffe Leibeigenschaft und Sklaverei in der EMRK und in den genannten völkerrechtlichen Abkommen zur Abschaffung der Sklaverei vgl. Frowein/ Peukert, EMRK Kommentar <1985>, Art. 4 Rdn. 2) und werden auch nicht etwa faktisch geduldet.

g) Aus alledem folgt, daß § 234 StGB in den in Rede stehenden Alternativen nicht erfüllt sein kann, wenn die Absicht des Täters nicht darauf gerichtet ist, daß das Opfer die Bundesrepublik Deutschland verlassen soll (vgl. Vogler in LK 10. Aufl. § 234 Rdn. 10; Schäfer in Dalcke/Fuhrmann/Schäfer, Strafrecht und Strafverfahren 37. Aufl. <1961> § 234 Fußn. 6; in vergleichbarem Sinne zu dem im Kern seit dem Inkrafttreten des RStGB unveränderten § 234 StGB auch die ganz überwiegende ältere Literatur, vgl. u.a. schon eingehend Hälschner, Das gemeine deutsche Strafrecht 2. Bd., 1. Abteilung <1884> S. 139 m.w.Nachw., auch für vereinzelte gegenteilige Auffassungen; v. Knitschky, Menschenraub und Kinderraub in: Der Gerichtssaal Bd. 44 <1891> S. 249, 295; Olshausen, Kommentar zum StGB 11. Aufl. <1927> § 234 Anm. 8c; Ebermayer in LK 4. Aufl. <1929> § 234 Anm. 7b). Da der Angeklagte sich J.'s nicht bemächtigt hat, um ihn in dem aufgezeigten Sinne in Sklaverei oder Leibeigenschaft zu verbringen, kann der Schuldspruch insoweit keinen Bestand haben. Da die Strafkammer hinsichtlich des Verhaltens des Angeklagten gegenüber J. von rechtlich einer Handlung ausgeht, bedeutet der Wegfall der Verurteilung gemäß § 234 StGB, daß der Schuldspruch insoweit insgesamt aufzuheben ist (vgl. Pikart in KK 2. Aufl. § 353 Rdn. 12 m.w.Nachw.).

3. Diese schon auf die Sachrüge hin gebotene Aufhebung des Schuldspruchs führt dazu, daß die nur auf diesen Teil des Urteils bezogenen Verfahrensrügen auf sich beruhen können.

Der Senat weist jedoch auf folgendes hin:

Die Strafkammer hat bei der Würdigung der Aussagen des Geschädigten erwogen, daß bei diesem früher in Zusammenhang mit einem schizophrenen Schub wahnhafte Verfolgungsideen aufgetreten waren. Sie ist jedoch, hauptsächlich gestützt auf die Ausführungen zweier Diplom-Psychologinnen, zu dem Ergebnis gekommen, daß der Geschädigte "weder im Tatzeitraum noch danach unter der Einwirkung eines schizophrenen Schubs stand und eine progredient verlaufende Schizophrenie gleichfalls nicht vorlag". Dementsprechend hat sie einen Beweisantrag auf Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens unter Hinweis auf ihre eigene Sachkunde abgelehnt; zugleich hat sie darauf abgestellt, daß einem psychiatrischen Sachverständigen wegen der Weigerung des Zeugen, sich einer psychiatrischen Untersuchung zu unterziehen, keine hinlängliche Beurteilungsgrundlage zur Verfügung stünde. Grundsätzlich verlangt die Beurteilung der Frage, ob eine geistige Erkrankung vorliegt, und gegebenenfalls die Beurteilung von deren Auswirkungen auf die Aussagetüchtigkeit medizinische und nicht aussagepsychologische Kenntnisse (vgl. BGHSt 23, 8, 12 f.), so daß die Vermittlung medizinischer Sachkunde durch psychologische Gutachten in der Regel nicht in Betracht kommt. Unabhängig davon ist hier aber auch unklar, wieso die Erkenntnisse der Psychologinnen zwar geeignet waren, dem Gericht Sachkunde zur Beurteilung des Gesundheitszustandes des Geschädigten zu vermitteln, aber nicht geeignet gewesen wären, einem Psychiater die Beurteilung dieser Frage zu ermöglichen.

4. Die Aufhebung des Schuldspruchs wegen Menschenraubs und der tateinheitlich damit erfüllten Delikte führt zur Aufhebung der hierwegen verhängten Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten sowie der Gesamtstrafe.

Unabhängig von der Frage einer möglichen Beeinflussung durch die Einsatzstrafe kann aber auch die wegen Diebstahls verhängte Strafe von sechs Monaten keinen Bestand haben. Die Strafkammer hat diese Strafe dem Strafrahmen des § 243 StGB entnommen, da sie ein Regelbeispiel des § 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StGB als erfüllt ansieht. Diese Annahme wird jedoch von den bisherigen Feststellungen nicht getragen. Der Angeklagte entwendete einen Schlauch aus dem Regal eines Baumarkts, nachdem er einen den Baumarkt umschließenden Zaun überstiegen hatte. Nach Auffassung der Strafkammer ist damit ein Regelbeispiel des § 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StGB erfüllt, da der Angeklagte "in einen umschlossenen Raum" eingedrungen ist.

a) § 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StGB setzt allerdings nicht voraus, daß der Täter aus einem Gebäude stiehlt (vgl. OLG Köln MDR 1969, 237 <umzäunter Viehpferch>; BayObLG NJW 1973, 1205 <umzäunter Schrottplatz> jew.m.Nachw.). Dennoch ist die Alternative des "Eindringens" nicht erfüllt, weil der Angeklagte nicht mit einem falschen Schlüssel oder einem anderen nicht zur ordnungsmäßigen Öffnung bestimmten Werkzeug in das Grundstück eingedrungen ist.

b) In Betracht käme jedoch eine Tatbegehung durch "Einsteigen". Bei der Überwindung eines Zaunes ist nach der Rechtsprechung des´Bundesgerichtshofs hierfür aber erforderlich, daß der Zaun tatsächlich ein Hindernis bildet, das es Unbefugten nicht unerheblich erschwert, auf das von dem Zaun umgebene Grundstück zu gelangen (BGH StV 1984, 204 m.w.Nachw.).

Ausdrückliche Feststellungen zur Beschaffenheit des Zaunes sind nicht getroffen. Solche wären jedoch erforderlich gewesen, weil die von der Strafkammer mitgeteilte Bewertung des Zeugen S., der Zaun sei dort, wo ihn der Angeklagte überstiegen habe, "besonders niedrig und leicht zu übersteigen", gegen die Annahme spricht, daß die Voraussetzungen von § 243 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 StGB erfüllt sind.

c) Allerdings kann der Tatrichter einen Diebstahl auch dann als besonders schweren Fall behandeln, wenn die in den Beispielen des § 243 StGB enthaltenen Merkmale fehlen. Auch ohne eine Anknüpfung hieran kann je nach den Umständen des Falles eine solche Bewertung von Unrechts- und Schuldgehalt der Tat gerechtfertigt sein. Dies setzt jedoch eine Gesamtbewertung aller tat- und täterbezogenen Umstände voraus (vgl. BGH NJW 1970, 1196, 1197), an der es bisher fehlt.

d) Die Anwendbarkeit des Strafrahmens von § 243 StGB ist nach alledem bisher nicht hinreichend dargetan.

5. Darüber hinaus bemerkt der Senat für die neue Verhandlung:

Die Strafkammer hat festgestellt, daß der Angeklagte den Zeugen J. wiederholt gezwungen hat, sich zu entkleiden, und bei ihm dann After und Geschlechtsteil "kontrolliert" hat. Darüber hinaus versuchte er wiederholt, J. mit Faustschlägen dazu zu zwingen, sein - des Angeklagten - Glied in den Mund zu nehmen oder bei anwesenden männlichen Gästen deren Hose zu öffnen und deren Glied in den Mund zu nehmen. Gleichwohl erfolgte keine Verurteilung wegen sexueller Nötigung, weil "weder bei den Gliedkontrollen noch bei der Aufforderung zum Mundverkehr eine sexuelle Motivation des Angeklagten zugrunde lag". Die Auffassung, dies rechtfertige ein Absehen von einer Verurteilung wegen (versuchter) Verbrechen gemäß § 178 StGB, ist unzutreffend. Bei Handlungen, die nach ihrem äußeren Erscheinungsbild ausschließlich und eindeutig sexualbezogen sind, genügt es, wenn sich der Täter der Sexualbezogenheit seines Handelns bewußt ist. Ist dies der Fall, kommt es auf seine Motive nicht an. Sein Ziel muß nicht darauf gerichtet sein, eigene oder fremde Geschlechtslust zu erregen oder zu befriedigen. Wut oder aggressivsadistische Tendenzen schließen eine Sexualbezogenheit nicht aus (vgl. BGH NStZ 1983, 167; Lenckner in Schönke/Schröder, StGB 24. Aufl. § 184c Rdn. 7, 8 m.w.Nachw.). Gegebenenfalls stünde das Verbot der Schlechterstellung gemäß § 358 Abs. 2 StPO einem entsprechenden Schuldspruch nicht im Wege (BGHSt 14, 5, 7).

Externe Fundstellen: BGHSt 39, 212; NJW 1993, 2252; NStZ 1993, 490; StV 1993, 522

Bearbeiter: Rocco Beck