HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 905
Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede
Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 386/23, Beschluss v. 18.04.2024, HRRS 2024 Nr. 905
Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Stade vom 6. März 2023 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Das Landgericht hat die Angeklagte wegen Rechtsbeugung in 15 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und neun Monaten verurteilt. Die auf die Rügen der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützte Revision der Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg (§ 349 Abs. 4 StPO).
Das Landgericht hat im Wesentlichen folgende Feststellungen und Wertungen getroffen:
1. Die Angeklagte trat 1995 in den höheren Justizdienst ein. Seit Mai 2006 ist sie als Richterin am Amtsgericht tätig. In der Zeit von Mai 2016 bis Dezember 2017 waren ihr Zivil- sowie Betreuungs- und Unterbringungssachen zugewiesen. Sie übernahm zudem vorübergehend drei weitere Endziffern aus dem Zivildezernat einer Kollegin, obwohl sie schon durch ihr bisheriges Pensum und mit privaten Problemen belastet war, was zu einer Anpassungsstörung (ICD-10: F43.2) führte. Hintergrund dessen waren einerseits die Symptome einer bei ihrer etwa vier Jahre alten Tochter diagnostizierten Mischform von Autismus und ADHS sowie andererseits die Folgen einer Demenzerkrankung ihrer 400 km entfernt lebenden Mutter. Um ihre beruflichen Aufgaben, insbesondere die von ihr gleichwohl erstrebte „umfassende und genaue Bearbeitung“ von Zivilsachen mit jeweils ausführlichen Urteilsgründen, und die bestehenden privaten Belastungen in Einklang zu bringen, bearbeitete die Angeklagte eine Vielzahl von Betreuungs- und Unterbringungssachen bewusst gesetzeswidrig. Von Mai 2016 bis Dezember 2017 genehmigte sie in 15 Fällen „vorübergehende“ und „dauerhaft geschlossene Unterbringungen“ bzw. ordnete solche an und verstieß dabei jeweils absichtlich gegen ihre Verpflichtung, die Betroffenen vor oder - bei „vorübergehenden“ Unterbringungen - unverzüglich nach der Entscheidung anzuhören. Leiten ließ sich die Angeklagte dabei von ihrer Rechtsauffassung, dass eine vorherige Anhörung „nicht wichtig“ und nicht in jedem Fall zwingend durchzuführen sei; diese könne auch in dringlich zu entscheidenden Fällen „irgendwann“ nachgeholt werden.
In sechs Fällen ordnete die Angeklagte „dauerhaft geschlossene Unterbringungen“ von bis zu drei Monaten (Fälle II.2 bis 4, 9, 13 der Urteilsgründe) und bis zu einem Jahr (Fall II.15 der Urteilsgründe) an bzw. genehmigte diese jeweils ohne vorherige persönliche Anhörung der Betroffenen. In vier Fällen holte sie diese nach (Fälle II.2, 4, 9, 13 der Urteilsgründe); in einem Fall an dem auf die Entscheidung folgenden Tag (Fall II.2 der Urteilsgründe).
In weiteren neun Fällen ordnete sie im Wege der einstweiligen Anordnung „vorläufige Unterbringungen“ an bzw. genehmigte solche, ohne die Betroffenen zuvor persönlich anzuhören (Fälle II.1, 5 bis 8, 10 bis 12 und 14 der Urteilsgründe). Dies begründete sie - mit Ausnahme der Fälle II.7 und 10 der Urteilsgründe - damit, dass Gefahr im Verzug bestanden habe, und verfügte zugleich die Wiedervorlage der Verfahrensakte zum Zwecke der Anhörung. Die persönliche Anhörung der Betroffenen holte sie trotz Wiedervorlage nur in vier Fällen nach (Fälle II.1, 5, 10 und 14 der Urteilsgründe). Dabei verstrichen zwischen neun (Fall II.5 der Urteilsgründe) und längstens 44 Tage (Fall II.10 der Urteilsgründe).
Den Entscheidungen lagen jeweils eine „ärztliche Stellungnahme“ und - außer im Fall II.10 der Urteilsgründe - ein Antrag der Betreuer zugrunde. Die Angeklagte bestellte in allen Fällen zugleich einen Verfahrenspfleger. Wenn sie die Betroffenen in den Wochen bzw. Monaten vor ihrer Anordnung wegen anderer Maßnahmen angehört hatte, wies sie in den Entscheidungsgründen zudem darauf hin, dass eine „erneute Anhörung“ nachgeholt werde (Fälle II.2 bis 4 und 7 der Urteilsgründe). Im Fall II.15 der Urteilsgründe nahm die Angeklagte - anders als in den übrigen Fällen - ausdrücklich auf eine Anhörung Bezug, die sie wegen einer anderen Entscheidung zuvor durchgeführt hatte.
2. Die Strafkammer hat durch jede Entscheidung den Tatbestand der Rechtsbeugung als erfüllt angesehen (§ 339 StGB). Die Angeklagte habe jeweils einen elementaren Verstoß gegen die Rechtsordnung begangen und sich subjektiv bewusst sowie aus sachfremden Erwägungen in schwerwiegender Weise von zentralen Verfahrensnormen entfernt. Den Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit hat es in der Genehmigung freiheitsentziehender Maßnahmen auf unzureichender Entscheidungsgrundlage erblickt.
Die Revision der Angeklagten ist begründet. Das angefochtene Urteil hält sachlich-rechtlicher Überprüfung in mehrfacher Hinsicht nicht stand.
1. Die Urteilsfeststellungen lassen eine revisionsgerichtliche Prüfung der in den Fällen II.1, 5 bis 8, 10 bis 12 und 14 der Urteilsgründe der Beschwerdeführerin zur Last gelegten Verfahrenshandlungen nicht zu.
a) Die Feststellungen zur Sache müssen erkennen lassen, welche Tatsachen das Tatgericht als seine Feststellungen über die Tat der rechtlichen Beurteilung zugrundegelegt hat. Fehlen sie oder sind sie in wesentlichen Teilen unvollständig, so ist dies ein Mangel des Urteils, der auf die Sachrüge zu dessen Aufhebung führt (vgl. BGH, Urteile vom 12. April 1989 - 3 StR 472/88, BGHR StPO § 267 Abs. 1 Satz 1 Sachdarstellung 3; vom 20. Oktober 2021 - 6 StR 319/21, NStZ 2022, 125; Beschluss vom 5. Dezember 2008 - 2 StR 424/08; KK-StPO/Bartel, 9. Aufl., § 267 Rn. 15; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 67. Aufl., § 267 Rn. 5 jeweils mwN).
b) Dem werden die Urteilsgründe nicht gerecht.
Diese beschränken sich auf die Mitteilung, dass die Angeklagte ohne inhaltliche Begründung wegen „Gefahr im Verzuge“ (Fälle II.1, 5, 6, 8, 11, 12 und 14 der Urteilsgründe) von einer vorherigen persönlichen Anhörung der Betroffenen abgesehen habe. Für eine Überprüfung des der Beschwerdeführerin jeweils angelasteten Verfahrensverstoßes war indes eine nähere Darstellung der tatsächlichen Entscheidungsgrundlagen der Unterbringungsmaßnahme (vgl. § 312 FamFG) für die getroffene einstweilige Anordnung bedeutsam (§§ 331, 332 FamFG). Denn in Fällen von Gefahr im Verzug kann das Gericht eine einstweilige Anordnung bereits vor der grundsätzlich gebotenen Anhörung des Betroffenen (§ 331 Satz 1 Nr. 4 FamFG) sowie vor Anhörung und Bestellung des Verfahrenspflegers (§ 331 Satz 1 Nr. 3 FamFG) erlassen (vgl. § 332 Satz 1 FamFG).
Die den Urteilsgründen zu entnehmenden Hinweise auf schwere psychotische Zustände der jeweils Betroffenen belegen, dass die Voraussetzungen der gesetzlichen Eilkompetenz jedenfalls nicht fernlagen. Das Landgericht hätte deshalb im Einzelnen darstellen müssen, ob der durch die vorherige Anhörung bedingte zeitliche Aufschub der Unterbringungsmaßnahme die Gefahr erheblicher Nachteile für die Betroffenen oder Dritte mit sich gebracht hätte (vgl. BVerfG, FamRZ 2020, 1864). Dass die Angeklagte die gesetzliche Eilkompetenz in unvertretbarer Weise angenommen oder gar ohne Prüfung wahrheitswidrig in den Akten vermerkt hätte, hat das Landgericht nicht festgestellt. Vor diesem Hintergrund vermag der Senat nicht zu überprüfen, ob die Angeklagte möglicherweise mit Recht von einer vorherigen Anhörung abgesehen und durch eine verspätet nachgeholte oder gänzlich unterbliebene Anhörung gegen das gesetzliche Gebot aus § 332 Satz 2 FamFG, die Anhörung unverzüglich nachzuholen, verstoßen [und sich deshalb möglicherweise wegen eines pflichtwidrigen Unterlassens (§ 13 StGB) strafbar gemacht] hat.
2. Auch die Beweiswürdigung hält revisionsgerichtlicher Prüfung nicht in jeder Hinsicht stand. Die Annahme des Landgerichts, die Angeklagte habe systematisch und nicht aufgrund einer „Überlastungssituation“ die ihr obliegenden Anhörungspflichten verletzt, ist - auch eingedenk des begrenzten revisionsgerichtlichen Prüfungsmaßstabs - nicht tragfähig belegt.
a) Die Strafkammer hat ihre Überzeugung insoweit unter anderem auf von ihr ausgewertete 41 weitere Entscheidungen der Angeklagten in Verfahren „zur Anordnung und Genehmigung“ von Unterbringungsmaßnahmen gestützt. Einschließlich der abgeurteilten 15 Fälle habe die Angeklagte bei 56 im Tatzeitraum getroffenen Entscheidungen in 39 Fällen die Anhörungspflicht verletzt. Teilweise habe sie die Anhörungen nachgeholt. Eine Überlastung sei als Ursache auszuschließen, weil sich keine „Anhaltspunkte dafür ergeben“ haben, dass die Angeklagte im Tatzeitraum Zivilsachen „fehlerhaft bearbeitet“ hätte; vielmehr seien die jeweiligen Entscheidungsgründe überdurchschnittlich lang und sorgsam begründet worden.
b) Diese Erwägungen sind lückenhaft.
Der Senat vermag - korrespondierend mit den unzureichenden Feststellungen zu den abgeurteilten Tathandlungen - schon nicht nachzuvollziehen, auf welcher Rechtsgrundlage die 41 weiteren Unterbringungsentscheidungen getroffen wurden. Sollten wiederum einstweilige Anordnungen (§ 331 FamFG) zugrundegelegen haben, wären auch die Voraussetzungen von § 332 Satz 1 FamFG zu würdigen gewesen, um die angenommene systematische Gesetzesverletzung tragfähig zu belegen.
Ungeachtet der Frage, ob aus einer „fehlerfreien“ und besonders sorgsamen Bearbeitung allgemeiner Zivilsachen auf eine fehlende Überlastung der Angeklagten im Tatzeitraum insgesamt geschlossen werden könnte, ist die Würdigung jedenfalls insoweit lückenhaft. Die Strafkammer deckt nicht den gesamten Tatzeitraum ab. Sie stützt sich allein auf die Aussage einer zur Tatzeit in Teilzeit und als Richterin auf Probe tätigen Kollegin der Beschwerdeführerin, deren Vertreterin und Ansprechpartnerin sie nur für den kurzen Zeitraum von etwa vier Monaten war.
3. Schließlich fehlt es an einer wertenden Betrachtung aller objektiven und subjektiven Umstände des Einzelfalles.
a) Nicht jede unrichtige Rechtsanwendung beugt das Recht. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs erfasst § 339 StGB vielmehr nur den Rechtsbruch als elementaren Verstoß gegen die Rechtspflege, bei dem sich der Amtsträger bewusst in schwerwiegender Weise zugunsten oder zum Nachteil einer Partei vom Gesetz entfernt und sein Handeln als Organ des Staates statt an Recht und Gesetz an seinen eigenen Maßstäben ausrichtet (st. Rspr.; vgl. BGH, Urteile vom 9. Mai 1994 - 5 StR 354/93, BGHSt 40, 169, 178; vom 6. Oktober 1994 - 4 StR 23/94, BGHSt 40, 272, 283; vom 21. Januar 2021 - 4 StR 83/20 Rn. 22). Ob ein elementarer Rechtsverstoß vorliegt, ist auf der Grundlage einer wertenden Gesamtbetrachtung aller Umstände zu entscheiden. Bei einem Verstoß gegen Verfahrensrecht kann neben dessen Ausmaß und Schwere insbesondere auch Bedeutung erlangen, welche Folgen dieser für die Partei hatte, inwieweit die Entscheidung materiell rechtskonform blieb und von welchen Motiven sich der Richter leiten ließ (vgl. BGH, Urteile vom 5. Dezember 1996 - 1 StR 376/96, BGHSt 42, 343; vom 18. August 2021 - 5 StR 39/21 Rn. 32; Beschlüsse vom 14. September 2017 - 4 StR 274/16, BGHSt 62, 312, 315; vom 29.November 2022 - 4 StR 149/22, JR 2024, 249, 251).
b) Daran fehlt es.
aa) Im Ausgangspunkt ist das Landgericht mit Recht davon ausgegangen, dass in einem Verstoß gegen die Anhörungspflicht vor einer Unterbringungsmaßnahme regelmäßig ein schwerer Rechtsverstoß zu erblicken ist (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Juni 2009 - 1 StR 201/09, NStZ 2010, 92). Die persönliche Anhörung der Betroffenen nach § 319 Abs. 1 Satz 1, § 331 Satz 1 Nr. 4 FamFG gehört zu den besonders bedeutsamen Verfahrensgarantien, deren Beachtung Art. 104 Abs. 1 GG fordert und zum Verfassungsgebot erhebt (vgl. BVerfG, NJW 1990, 2309, 2310 zum baden-württembergischen Unterbringungsgesetz; BGH, Beschluss vom 29. Januar 2014 - XII ZB 330/13, NJW-RR 2014, 642, 644). Es ist unverzichtbare Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG), auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht (vgl. BVerfGE 58, 208, 222; 70, 297, 308). Der Richter muss danach die beabsichtigte Maßnahme eigenverantwortlich prüfen; er muss dafür Sorge tragen, dass die sich aus der Verfassung und dem einfachen Recht ergebenden Voraussetzungen beachtet werden (vgl. BVerfGE 103, 142, 151).
bb) Weder das besondere Gewicht der Rechtsverletzung noch die festgestellte systematische Rechtsverletzung enthoben die Strafkammer hier von der Pflicht zur wertenden Betrachtung der weiteren Tatumstände. Soweit sie anderes aus einer Unterbringungsmaßnahmen betreffenden Entscheidung des 1. Strafsenats des Bundesgerichtshofs gefolgert hat (vgl. BGH, Beschluss vom 24. Juni 2009 - 1 StR 201/09 Rn. 4), geht sie fehl.
Das Landgericht hat in objektiver Hinsicht nicht in den Blick genommen, ob die Entscheidungen der Angeklagten materiell rechtskonform blieben (vgl. BGH, Urteile vom 5. Dezember 1996 - 1 StR 376/96, BGHSt 42, 343, 353; vom 13. Mai 2015 - 3 StR 498/14 Rn. 12; vom 18. August 2021 - 5 StR 39/21 Rn. 40; Beschluss vom 29. November 2022 - 4 StR 149/22, JR 2024, 249, 251). Angesichts der in den Urteilsgründen teilweise mitgeteilten erheblichen psychotischen Erkrankungen der Betroffenen, der jeweiligen „ärztlichen Stellungnahmen“ und der bestellten Verfahrenspfleger liegt, auch eingedenk des hier jeweils gewahrten Grundsatzes der Aktenwahrheit (vgl. BGH, Beschluss vom 29. November 2022 - 4 StR 149/22, JR 2024, 249, 252 mwN), eine Rechtmäßigkeit der Maßnahmen nicht fern. Im Übrigen hat die Strafkammer die Folgen der Rechtsverletzung, etwa ob und über welchen Zeitraum jeweils eine Freiheitsentziehung erfolgte, nicht eingestellt. Dies gilt gleichermaßen für den Umstand, dass die Angeklagte in Einzelfällen die Anhörung kurz nach ihrer Entscheidung nachgeholt oder die Betroffenen kurz zuvor angehört hat.
HRRS-Nummer: HRRS 2024 Nr. 905
Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede