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HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 853

Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede

Zitiervorschlag: BGH, 6 StR 124/23, Beschluss v. 18.04.2023, HRRS 2023 Nr. 853


BGH 6 StR 124/23 - Beschluss vom 18. April 2023 (LG Lüneburg)

Mitteilungspflicht über Verständigungsgespräche (Verfahrensrüge: Angabe der den Mangel enthaltenden Tatsachen, konkret behauptetes vollständiges Verfahrensgeschehen: keine bloße Wiedergabe vage erinnerter und nur möglicher Verfahrensabläufe); unverbindliche Erörterungen ohne Verständigungsbezug; Strafzumessung (Stufenverhältnis von sogenannten harten Drogen, Amphetamin: mittlere Gefährlichkeit).

§ 243 Abs. 4 Satz 2 StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 46 StGB

Leitsätze des Bearbeiters

1. Für die Rüge einer Verletzung von § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO ist erforderlich, dass Tatsachen vorgetragen werden, aus denen sich ergibt, dass ein nach dieser Vorschrift mitteilungspflichtiges Gespräch stattgefunden hat und dessen wesentlicher Inhalt in der Hauptverhandlung nicht oder nicht ausreichend mitgeteilt und protokolliert wurde.

2. Die bloße Wiedergabe vage erinnerter und nur möglicher Verfahrensabläufe ersetzt den notwendigen bestimmten Tatsachenvortrag nicht.

3. Bei Amphetamin handelt es sich - mit Blick auf das Stufenverhältnis von sogenannten harten Drogen wie Heroin und Kokain über Amphetamin - um ein Betäubungsmittel von lediglich „mittlerer Gefährlichkeit“ (st. Rspr.).

Entscheidungstenor

Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Lüneburg vom 9. November 2022 wird als unbegründet verworfen.

Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels zu tragen.

Gründe

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten verurteilt. Die auf die Rüge der Verletzung formellen wie materiellen Rechts gestützte Revision des Angeklagten bleibt ohne Erfolg (§ 349 Abs. 2 StPO).

1. Die Verfahrensrüge, das Landgericht habe seine Mitteilungspflicht aus § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO verletzt, greift nicht durch.

a) Der Beschwerdeführer trägt folgendes Verfahrensgeschehen vor:

Am ersten Sitzungstag regte der Strafkammervorsitzende ein „Rechtsgespräch“ an und unterbrach zu diesem Zweck die Hauptverhandlung. Bei dem sodann zwischen den Berufsrichtern, den Schöffen, der Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft und dem Verteidiger geführten „Rechtsgespräch“ wurde die „Frage des bewaffneten Handeltreibens mit Betäubungsmitteln in nicht geringer Menge erörtert“, wobei die Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft darauf hinwies, dass aus ihrer Sicht kein minder schwerer Fall vorliege. Über dieses Gespräch berichtete der Vorsitzende nach Fortsetzung der Hauptverhandlung nicht; die Sitzungsniederschrift enthält für den Zeitpunkt der Fortsetzung nach dem „Rechtsgespräch“ den Hinweis, dass „eine Verständigung jedoch nicht erzielt wurde“. Der Angeklagte machte keine Angaben zur Sache; zu einer Verfahrensabsprache kam es auch später nicht.

Der Beschwerdeführer macht geltend, Inhalt und Ablauf der Gespräche nicht näher vortragen zu können. Sein Verteidiger habe ihm im Anschluss an das „Rechtsgespräch“ lediglich mitgeteilt, dass es für ihn „nicht gut aussehe“ und die Staatsanwaltschaft nicht unter fünf Jahren Freiheitsstrafe beantragen werde. Deshalb habe er ihm geraten zu schweigen. Im Revisionsverfahren erbat der Beschwerdeführer Auskunft von der Sitzungsvertreterin der Staatsanwaltschaft über Inhalt und Ablauf des „Rechtsgesprächs“. Diese erklärte hierauf in einer E-Mail: „Da (…) aus meiner Sicht ein minder schwerer Fall nicht vorlag, vertrat ich die Auffassung, dass von einer Mindeststrafe von fünf Jahren auszugehen sei. Ich meine auch zu erinnern, dass das Gericht die Auffassung äußerte, dass sich nach derzeitiger Lage ein minder schwerer Fall zumindest nicht aufdrängen würde“.

Aus dem Verfahrensablauf und den Angaben der Sitzungsvertreterin folgert der Beschwerdeführer, dass das „Rechtsgespräch“ verständigungsbezogene Erörterungen zum Gegenstand hatte und der Mitteilungspflicht aus § 243 Abs. 4 StPO unterstand.

b) Die Verfahrensrüge ist schon unzulässig, weil das Revisionsvorbringen nicht den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügt.

aa) Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sind für eine zulässige Verfahrensrüge die den Mangel begründenden Tatsachen so vollständig und genau anzugeben, dass das Revisionsgericht allein aufgrund der Revisionsbegründung prüfen kann, ob ein Verfahrensfehler vorläge, wenn die behaupteten Tatsachen erwiesen wären (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschluss vom 11. September 2007 - 1 StR 273/07, BGHSt 52, 38, 40). Für die Rüge einer Verletzung von § 243 Abs. 4 Satz 2 StPO ist danach erforderlich, dass Tatsachen vorgetragen werden, aus denen sich ergibt, dass ein nach dieser Vorschrift mitteilungspflichtiges Gespräch stattgefunden hat und dessen wesentlicher Inhalt in der Hauptverhandlung nicht oder nicht ausreichend mitgeteilt und protokolliert wurde (vgl. BGH, Beschluss vom 23. Juni 2022 - 2 StR 269/21). Notwendig ist deshalb die bestimmte Behauptung von Tatsachen, die eine Überprüfung dahin gestatten, ob dabei ausdrücklich oder konkludent die Möglichkeit und die Umstände einer Verständigung im Raum standen, was jedenfalls dann der Fall ist, wenn Fragen des prozessualen Verhaltens in einen Konnex zum Verfahrensergebnis gebracht wurden, damit die Frage nach oder die Äußerung zu einer Straferwartung nahelag und somit die Mitteilungspflicht ausgelöst wurde (vgl. BGH, Beschlüsse vom 29. September 2015 - 3 StR 310/15, NStZ 2016, 362; vom 7. März 2017 - 5 StR 493/16, NStZ 2017, 424).

bb) Diesen Anforderungen genügt die Revision nicht.

(1) Es fehlt bereits an einem konkret behaupteten vollständigen Verfahrensgeschehen. Die bloße Wiedergabe vage erinnerter und nur möglicher Verfahrensabläufe (vgl. BGH, Urteil vom 24. März 1964 - 3 StR 60/63, BGHSt 19, 273, 275) ersetzt den notwendigen bestimmten Tatsachenvortrag nicht (vgl. im Einzelnen KK-StPO/Gericke, 9. Aufl., § 344 Rn. 33 mwN).

(2) Dessen ungeachtet wäre auch anhand der mitgeteilten Stellungnahme der Staatsanwaltschaft für das Revisionsgericht nicht abschließend zu überprüfen, ob es sich um verständigungsbezogene oder lediglich um unverbindliche sonstige verfahrensfördernde Erörterungen gehandelt hat, die nicht auf eine einvernehmliche Verfahrenserledigung abzielten (vgl. hierzu BGH, Beschluss vom 14. April 2015 - 5 StR 9/15, NStZ 2015, 535, 536). Denn als Gegenstände unverbindlicher Erörterungen, die das Gericht ohne Verständigungsbezug allein als Ausdruck eines transparenten kommunikativen Verhandlungsstils führen kann, sind etwa Rechtsgespräche und Hinweise auf die vorläufige Beurteilung der Beweislage oder die strafmildernde Wirkung eines Geständnisses für unbedenklich erachtet worden (vgl. BVerfG, Urteil vom 19. März 2013 - 2 BvR 2628/10 u.a., BVerfGE 133, 168, 228; BGH, Beschluss vom 14. April 2015 - 5 StR 9/15, BGHR StPO § 243 Abs. 4 Mitteilung 4; vom 7. März 2017 - 5 StR 493/16). Dies gilt gleichermaßen für die Klärung der - einer Verständigung entzogenen (vgl. BVerfG, aaO, S. 228; BGH, Beschluss vom 25. April 2013 - 5 StR 139/13, NStZ 2013, 540) - Vorfrage, ob überhaupt die Möglichkeit der Verständigung bei Annahme eines minder schweren Falles in Betracht kommt, ohne dass ein Prozessverhalten des Angeklagten in Rede steht (vgl. BGH, Beschluss vom 18. August 2021 - 5 StR 199/21, NStZ 2022, 55, 56). Ob der Gesprächsgegenstand hier bereits über diese abstrakte Vorfrage einer möglicherweise erwogenen Verständigung hinausging, vermag der Senat ohne Vortrag näherer Inhalte nicht abschließend zu prüfen.

(3) Nichts anderes gilt vor dem Hintergrund des übrigen Revisionsvorbringens (vgl. BGH, Beschlüsse vom 22. Juli 2014 - 1 StR 210/14, NStZ 2015, 48; vom 21. März 2017 - 1 StR 622/16, NStZ 2017, 482, 483), das sich auf die pauschale Behauptung beschränkt, auf Initiative des Gerichts sei „ein Rechtsgespräch“ (vgl. BGH, Beschlüsse vom 29. April 2014 - 3 StR 24/14, NStZ 2014, 529 f.; vom 23. Juni 2022 - 2 StR 269/21, NStZ-RR 2022, 355) durchgeführt, eine Verständigung „jedoch nicht erzielt“ worden (vgl. KK-StPO/Schneider, 9. Aufl., § 243 Rn. 112 mwN).

(4) Der Beschwerdeführer behauptet schließlich auch nicht, dass es ihm oder seinem Revisionsverteidiger unmöglich gewesen wäre, nähere Informationen zum Verfahrensgeschehen bei seinem Instanzverteidiger einzuholen (vgl. hierzu BVerfG [Kammer], Beschluss vom 22. September 2005 - 2 BvR 93/05, StraFo 2005, 512, 513; BGH, Urteil vom 3. August 2022 - 5 StR 203/22; Beschluss vom 23. November 2004 - 1 StR 379/04, NStZ 2005, 283; Hamm/Pauly, Die Revision in Strafsachen, 8. Aufl. Rn. 408 mwN).

2. Soweit der Beschwerdeführer unter der Überschrift „Sachrüge“ beanstandet, das Landgericht habe in der Beweiswürdigung unberücksichtigt gelassen, dass die Zeugin P. „in der Hauptverhandlung“ durch ihn und seinen Verteidiger nicht konfrontativ befragt werden konnte, kann dahinstehen, ob darin eine Formalrüge der Verletzung des Konfrontationsrechts (Art. 6 Abs. 3 Buchst. d MRK) zu erblicken wäre. Denn auch diese wäre unzulässig (§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO). Das Rügevorbringen verhält sich nicht dazu, ob die Zeugin vor der Hauptverhandlung mehrfach und in allen möglichen Fällen ohne eine Mitwirkungsmöglichkeit des Angeklagten vernommen worden ist (vgl. KK-StPO/Lohse/Jakobs, aaO, Art. 6 MRK Rn. 107). Vor diesem Hintergrund vermag der Senat abschließend weder eine Rechtsverletzung noch etwaige an die Beweiswürdigung zu stellende Erfordernisse zu prüfen.

3. Die gegen den Schuldspruch gerichteten sachlich-rechtlichen Beanstandungen zeigen aus den Gründen der Antragsschrift des Generalbundesanwalts keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten auf. Demgegenüber ist die Strafzumessung des Landgerichts rechtsfehlerhaft.

a) Das Landgericht hat sowohl bei der Strafrahmenwahl als auch bei der konkreten Strafzumessung zu Lasten des Angeklagten berücksichtigt, dass es sich bei dem zum Verkauf vorrätig gehaltenen Amphetamin um eine „harte Droge“ handelte. Dies hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand, weil es sich hierbei - mit Blick auf das Stufenverhältnis von sogenannten harten Drogen wie Heroin und Kokain über Amphetamin - um ein Betäubungsmittel von lediglich „mittlerer Gefährlichkeit“ handelt (st. Rspr.; vgl. BGH, Beschlüsse vom 14. August 2018 - 1 StR 323/18; vom 10. August 2022 - 3 StR 217/22).

b) Der Rechtsfehler erfordert indes nicht die Aufhebung des Strafausspruchs, weil die verhängte Freiheitsstrafe von fünf Jahren und sechs Monaten gleichwohl angemessen ist (§ 354 Abs. 1a Satz 1 StPO). Der Senat hat dies auf der Grundlage der rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen des angefochtenen Urteils unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Gesichtspunkte beurteilt, insbesondere aller nach § 46 StGB für die Strafzumessung erheblichen Umstände (vgl. nur BGH, Beschluss vom 25. Juni 2019 - 2 StR 94/19 mwN). Anhaltspunkte für erst nach der erstinstanzlichen Hauptverhandlung eingetretene Entwicklungen oder Ereignisse, die ein neues Tatgericht feststellen und zugunsten des Angeklagten berücksichtigen würde, bestehen nicht (vgl. dazu BVerfG, Beschluss vom 14. Juni 2007 - 2 BvR 136, 1447/05, NStZ 2007, 598). Insbesondere eingedenk der festgestellten Anzahl der vom Angeklagten zum Zwecke der Absicherung seiner „Drogengeschäfte“ in Zugriffsnähe bereitgehaltenen Messer (vgl. BGH, Beschluss vom 18. April 2007 - 3 StR 127/07, BGHR BtMG § 30a Abs. 2 Mitsichführen 8), darunter Einhand- und Butterflymesser, sowie unter Abwägung aller weiteren für die Strafzumessung bedeutsamen Urteilsfeststellungen hält der Senat die verhängte Freiheitsstrafe für angemessen.

HRRS-Nummer: HRRS 2023 Nr. 853

Bearbeiter: Sina Aaron Moslehi/Karsten Gaede